20. Jahrgang | Nummer 2 | 16. Januar 2017

Die Causa Carlo Schmid
Zwischen französischem Druck und amerikanischer Observation

von Erich Schmidt-Eenboom und Michael Müller

Carlo Schmid, Jurist, Humanist, Übersetzer und Dichter sowie namhafter SPD-Politiker nach 1945, wurde im südfranzösischen Perpignan geboren – ein Homme de Lettre, wie er im 20. Jahrhundert seines Gleichen suchte, Verehrer der französischen Sprache und Dichtung und ein brillanter Verfassungs- und Völkerrechtler, der einer der Väter des bundesrepublikanischen Grundgesetzes wurde.
Von 1940 bis 1945 war Carlo Schmid als Kriegsverwaltungsrat in der Oberfeldkommandantur Lille eingesetzt, die zur Militärverwaltung Brüssel/Nordfrankreich gehörte. Diese Tätigkeit sollte ihn in die schwersten Gewissensnöte seines Lebens und in die höchste Verzweiflung stürzen, geriet ihm aber auch zur Herausforderung an seine humanistischen Ideale, die er bis an die Grenzen des Möglichen verteidigte.
Am 5. September 1941 wurden in Lille nach Anschlägen der Résistance erstmals fünf Geiseln erschossen. Am 26. September 1941 wurden erneut 20 Geiseln ermordet, nachdem die Résistance Eisenbahnschienen gesprengt hatte. In der Oberfeldkommandantur von Lille hielt Schmid Referate über die Unvereinbarkeit der Geiselerschießungen mit dem modernen Völkerrecht. Doch er sollte noch viel mehr tun, als nur Vorträge zu halten, die bei seinen Vorgesetzten auf taube Ohren stießen.
Der erste Mensch, den Carlo Schmid retten konnte, war der 18-jährige Abiturient Jacques Derveux, Sohn eines bekannten Liller Rechtsprofessors, der im August 1941 mit einem Spaten vorsätzlich ein Telefonkabel durchtrennt hatte und zum Tode verurteilt worden war. Schmid intervenierte beim Militärbefehlshaber von Belgien, General Alexander von Falkenhausen. Zunächst vergeblich, doch schließlich gelang es Schmid, eine Begnadigung von Dervaux zu lebenslangem Zuchthaus zu erreichen.
Vom 31. März bis 30. April 1942 wurden erneut fünfzig Geiseln exekutiert, nach wiederholten Sabotageakten auf Eisenbahnlinien, bei denen ein deutscher Soldat ums Leben kam, und der Tötung eines deutschen Wachpostens. Die Exekutionsbefehle lagen auf Schmids Schreibtisch. Es war seine Aufgabe, die Geisellisten zusammenzustellen, und es war die schlimmste Aufgabe, die sich der Humanist Schmid nur vorstellen konnte. Es war ein aussichtsloses Dilemma angesichts des immer härter und brutaler werdenden Besatzungsregimes in Lille und den nordfranzösischen Departements unter dem Kommando des fanatischen Nationalsozialisten und ehemaligen Polizeigenerals Heinrich Niehoff. Schmid manipulierte die Listen, indem er nur die Namen von Gefangenen notierte, die bereits zum Tode verurteilt waren und deren Exekution unmittelbar bevorstand.1
Ab Mai 1942 wurden die Geiseln nicht mehr erschossen, sondern in die Konzentrationslager nach Deutschland deportiert. Doch Ende Dezember 1942 und in den ersten Januartagen 1943 kam es in Belgien und Nordfrankreich zu zahlreichen Attentaten und Sabotageakten, bei denen mehrere Wehrmachtsangehörige getötet und verletzt wurden. Diesmal reagierte der Militärbefehlshaber in Belgien, General Alexander von Falkenhausen, mit harten Sanktionen und ließ vom 27. November bis 13. Januar 1943 68 Geiseln erschießen. Schmid lehnte Falkenhausens Vorgehen ab. Und es gelang ihm gegen alle Widerstände von Seiten anderer Stellen der Militärverwaltung, in Lille Geiselerschießungen zu verhindern.
Auslöser für die Welle von Attentaten war vor allem der Service du Travail Obligatoire (STO), die Zwangseinziehung französischer Arbeitskräfte für den Arbeitseinsatz in Deutschland. Viele der französischen Arbeiter, die für den Zwangseinsatz ausgehoben werden sollten, tauchten unter und schlossen sich der Résistance an.2
Der von der französischen Regierung im Februar 1943 verfügte zweijährige Arbeitsdienst für alle männlichen Franzosen der Jahrgänge 1920 bis 1922 wurde in der Oberfeldkommandantur Lille nahezu einhellig abgelehnt. Carlo Schmid konnte so seinen bereits gefassten Plan, Holzfällerlager in den Ardennen einzurichten, ohne größeren Widerstand umsetzen, was Tausende junge Franzosen vor der Zwangsarbeit in Deutschland bewahrte. Die Tatsache, dass die Holzfällerlager der Militäradministration in Lille unterstanden, während für das Gebiet der Ardennen, in dem sie errichtet wurden, eigentlich der Militäradministration in Paris zuständig war, erleichterte es vielen, sich dem deutschen Arbeitsdienst zu entziehen und machte die Lager zu Zentren des Widerstandes. Viele weitere junge Franzosen entgingen der Verschickung, indem sie im nordfranzösischen Bergbau unterkamen, der von den Zwangsverpflichtungen ausgenommen war. Hier gelang es Carlo Schmid ebenfalls, massiv zu helfen, indem er eine entsprechende Vereinbarung mit dem zuständigen Leiter des Bergbauwesens traf, der viele der Männer aufnahm. In einem Bericht für die Oberfeldkommandantur bezeichnete Schmid Anfang 1944 die Praxis der Zwangsverpflichtungen als Fehlschlag, der der Autorität der Besatzungsmacht mehr geschadet als genutzt habe.
Im Juni 1943 löste Generalleutnant Hans Bertram den Gewaltfanatiker Heinrich Niehoff als Oberfeldkommandant in Lille ab. Schon am 1. Juli wurden bei einem Attentat des Maquis 13 Wehrmachtssoldaten getötet. Nun holte auch Bertram zum gewaltsamen Rachefeldzug durch Geiselerschießungen aus. Und wieder war es an Carlo Schmid, die Liste der zu Ermordenden zu manipulieren, indem er versuchte, vor allem die Namen derer dort zu platzieren, die bereits vorher wegen anderer Vergehen zum Tode verurteilt worden waren.3
Einen Verbündeten im Kampf gegen die Geiselerschießungen und -deportationen fand Schmid in dem wichtigsten Repräsentanten des Kreisauer Kreises, Helmuth James von Moltke, der in Brüssel bei General Falkenhausen intervenierte und ihn überzeugen konnte, von weiteren Deportationen abzusehen und die verbleibenden inhaftierten Geiseln frei zu lassen. Anschließend besuchte Moltke Anfang Juni 1943 Schmid in Lille, wo die beiden ebenfalls die Geiselproblematik besprachen. Aber auch über das zentrale Anliegen des Kreisauer Kreises, die Planung der sittlichen, moralischen und religiösen Erneuerung Deutschlands und der Neuordnung des Nachkriegseuropas im Sinne einer Völkergemeinschaft, waren bei mehreren Treffen zwischen Schmid und Moltke Gegenstand ihrer Erörterungen.
General Falkenhausen spielte in den Überlegungen Moltkes und seiner Kreisauer Verbündeten eine zentrale Rolle, war er doch als Leiter einer Übergangsregierung nach der nationalsozialistischen Niederlage vorgesehen. Die Vorbereitungen der Verschwörer zu einem Staatstreich, den sie zuvor lange abgelehnt hatten, erhielten durch den Sturz Mussolinis am 25. Juli 1943 neuen Antrieb. Schmid war in die Planungen eingeweiht und nach Auffassung seiner Biografin Petra Weber dazu auserkoren, nach dem erfolgreichen Attentat auf Hitler die entsprechenden Maßnahmen in Lille einzuleiten und zu überwachen. Doch im Sommer 1943 blieb der erhoffte Staatsstreich aus, und am 30. August erlitt Schmid einen Zusammenbruch. Nur einen Tag später war Moltke, der in der Zwischenzeit mit Rückendeckung des Abwehrchefs Admiral Wilhelm Canaris vergeblich versucht hatte, Kontakte zum OSS – dem Nachrichtendienst des US-Kriegsministeriums während des Zweiten Weltkrieges – in Istanbul zu etablieren, um eine mögliche Kooperation mit den Alliierten auf den Grundlagen der Vorstellungen des Kreisauer Kreises zu sondieren, wieder in Lille. Moltkes und Schmids Hoffnungen auf ein schnelles Kriegsende durch einen Staatsstreich im Inneren und die anschließende Kooperation mit den Alliierten bei der Neugestaltung Europas waren zerstoben.4
Wie gefährlich das Spiel war, das Schmid trieb, musste er erkennen, als sich am 9. November 1943 Wolf Domke das Leben nahm. Domke war in der Brüsseler Militärverwaltung für die Wirtschaftsüberwachung zuständig gewesen, aber er war vor allem auch in die Planungen und Organisationen Moltkes und Schmids für die Zeit nach dem Umsturz eingeweiht. Am 24. November wurde Schmid eine Vorladung zur Vernehmung beim Brüsseler Kriegsgericht am folgenden Tag zugestellt.5 Scheinbar gelang es Schmid, den Suizid Domkes überzeugend als die Tat eines Manisch-Depressiven darzustellen. Gleich nach seiner Rückkehr nach Lille machte ihm sein Verbindungsmann zur Résistance, der Schweizer Geistliche der Bekennenden Kirche, Marcel Pasche, das Angebot, der französische Widerstand könne ihn zu seinem Schutz entführen, sollte ihm erneut Gefahr von Seiten des Sicherheitsdienstes der SS (SD) drohen. Und diese Gefahr war sehr real. Der SD drängte bereits seit geraumer Zeit auf die Abberufung Schmids als Kriegsverwaltungsrat. Als Helmuth James von Moltke am 19. Januar 1944 verhaftet wurde, mussten die Zeichen drohender Gefahr auch für Schmid übermächtig werden.
An eine schnelle Rückkehr in die Heimat war nicht zu denken. Im Oktober und November 1943 brachen in den Bergbaugebieten Nordfrankreichs erstmals seit längerer Zeit wieder größere Streiks aus, denen die Oberfeldkommandantur nur noch mit brutaler Gewalt glaubte begegnen zu können. Wieder gelang es Schmid durch persönlichen Einsatz und die persönliche Ansprache der streikenden Bergleute, zu denen er im wahren Wortsinne in die Grube fuhr, das Schlimmste zu verhindern und die gepeinigten Kumpel zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen.6
In seinen Lebenserinnerungen blieb Carlo Schmid sehr im Ungefähren, was seine Tätigkeit als Militärverwaltungsrat in Lille betrifft, zu der er im Juni 1940 einberufen worden war. Es sei bei seiner Arbeit in der Oberfeldkommandantur 670 im Gebäude der ehemaligen Handelskammer um die „Beaufsichtigung der französischen Verwaltung unter Beachtung der Haager Landkriegsordnung“7 gegangen. Dass er sich dabei widerstrebend auch schuldig gemacht hatte, schob er auf die Verhältnisse: „Die Militärverwaltung in Frankreich verwaltete nach rechtsstaatlichen Traditionen, auch wo es sich darum handelte, dem Besatzungszweck gerecht zu werden. Es kam zwangsläufig immer wieder zu Vorgängen, bei denen die verantwortlichen Militärs nicht auf außerordentliche Mittel verzichten zu können glaubten, aber in Fällen von Repressalien, Geiselnahme, Vergeltungsmaßnahmen, Razzien und dergleichen tat die Verwaltung, was ihr möglich war, um Zahl und Intensität dieser außerordentlichen Maßnahmen in Grenzen zu halten. Ihre Bemühungen hatten nicht immer Erfolg; doch oft genug gelang es ihr, der Sache der Vernunft und Menschlichkeit dem angeblich militärisch Notwendigen gegenüber – unter Kriegsverhältnissen – zum Siege zu verhelfen.8
Carlo Schmid hatte nach heutigen Erkenntnissen wohl in der Tat alles unternommen, was in seiner begrenzten Macht stand, um die Exzesse der deutschen Besatzungs- und Gewaltherrschaft in seinem nordfranzösischen Einflussbereich zu begrenzen und Menschenleben zu retten. Doch nach dem Krieg warf der französische Sozialist und Außenminister Guy Mollet ihm vor, Résistance-Angehörige der deutschen Justiz ausgeliefert zu haben, und weigerte sich gemeinsam mit anderen, beim Straßburger Europarat mit Schmid an einem Tisch zu sitzen.9
Glaubt man dem CIA Report vom 28. April 1949, dann intervenierte Guy Mollet schon früh sogar beim SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher und bei Erich Ollenhauer gegen eine exponierte politische Rolle Carlo Schmids in der deutschen Nachkriegspolitik. Laut CIA hatte sich Mollet als Generalsekretär der französischen Sozialistischen Partei im März 1949 an Schumacher und Ollenhauer gewandt und erklärt, sozialistische Kreise in Lille lehnten Schmids Aktivitäten, besonders auf der internationalen Ebene, mit Blick auf seine zweideutige Militärakte ab. Mollet verlangte angeblich von Schumacher, einen Skandal vermeiden zu helfen, indem er verhindere, dass Schmid weiterhin die SPD bei internationalen Treffen und Konferenzen vertrete. Die CIA notierte, Ollenhauer habe Mollet geantwortet, dass die SPD dem zustimme und Pläne auf Eis legen werde, Schmid zur Internationalen Sozialistischen Konferenz im Mai in Stockholm zu entsenden.10 Eine solche Konferenz fand im Mai allerdings nicht in Stockholm statt, sondern im niederländischen Baarn bei Utrecht. Dass Schmid an dieser teilgenommen hat oder teilnehmen wollte, erscheint vor dem Hintergrund seiner enormen Arbeitsbelastung in Württemberg-Hohenzollern, in der Partei und im Parlamentarischen Rat, die im Sommer zu einem gesundheitlichen Zusammenbruch führen sollte, als unwahrscheinlich.
Für die CIA-Beobachter war die angebliche Intervention Guy Mollets einer der Hintergründe für die in der SPD-Spitze gewachsene Angst vor einer möglichen Strafverfolgung Carlo Schmids wegen seiner Tätigkeit als Kriegsverwaltungsrat in Lille. Der CIA-Report vermerkte gleich zu Anfang, dass höhere SPD-Kreise befürchteten, Schmid könne seitens der französischen Militärregierung aufgrund potentieller Vorwürfe wegen Kriegsverbrechen überwacht werden. Auch ein französischer Sozialist und hoher Mitarbeiter der französischen Militärregierung in Freiburg habe diese Überwachung durch die Militärregierung gegenüber einer „politischen Figur in der französischen Zone“11 bestätigt.
Dass Carlo Schmid von der französischen Militärregierung überwacht wurde, lag auf der Hand. Als Justizminister und stellvertretender Ministerpräsident von Württemberg-Hohenzollern hatte er nahezu täglich mit den höchsten Vertretern der französischen Besatzungszone zu tun und spielte als Leiter der SPD-Delegation im Parlamentarischen Rat überdies noch eine herausragende Rolle bei den Verhandlungen mit den Alliierten Hohen Kommissaren über die künftige Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland. Insofern enthielt der CIA-Bericht eine Ansammlung von Banalitäten, Ungenauigkeiten und Hörensagen. Interessant bleibt aber, wie genau – oder vermeintlich genau – die US-Geheimdienstler einen führenden SPD-Politiker in der französischen Besatzungszone auf dem Schirm und ihrerseits unter Beobachtung hatten.
Der Grund wird deutlich, als der Report auf den auch von der SPD-Führung angeblich registrierten Wankelmut Schmids zu sprechen kommt, der bei den langwierigen Verhandlungen über die Bildung einer westdeutschen Regierung zunächst jeden alliierten Vorschlag vehement bekämpfe, aber noch bevor es zu einer Entscheidung komme, in der Regel umfalle und für die Akzeptanz der alliierten Vorschläge stimme. Die Amerikaner befürchteten offensichtlich auch hier eine mögliche Willfährigkeit Schmids gegenüber französischen Forderungen. Während der entscheidenden Verhandlungen über den Entwurf für eine westdeutsche Verfassung ließ die CIA Schmid sogar observieren. Während einer Diskussion an seinem Wohnort Tübingen in der französischen Zone am 14. April 1949 über die anstehende SPD-Konferenz in Hannover habe Schmid erklärt, alliierten Forderungen nach einer dezentralisierten deutschen Regierung – vor allem die Franzosen drängten vehement auf eine Verfassung, die eher einem Staatenbund als einem Bundesstaat entsprochen hätte – hartnäckig entgegentreten zu wollen, vermerkte der CIA-Report. An diesem Abend habe Schmid Besuch vom stellvertretenden französischen Militärgouverneur General Roger Noiret bekommen. Am nächsten Morgen, als Schmid erneut SPD-Freunde bei sich empfing, habe er einen nervösen, niedergeschlagenen und völlig unsicheren Eindruck gemacht. Nun habe er erklärt, die SPD müsse Kompromisse mit den Alliierten eingehen, was die Machtverteilung im künftigen westdeutschen Staat angehe, und einen entsprechenden Kurs werde er auch auf dem „kleinen Parteitag“ in Hannover am 20. April vorschlagen.12
In Hannover kam es dann aber zum genauen Gegenteil. Kurt Schumacher zelebrierte eindrucksvoll das Nein der SPD zu den alliierten Änderungswünschen am westdeutschen Grundgesetzentwurf und inszenierte die deutsche Sozialdemokratie als Garantin der bundesstaatlichen Verfassung und der deutschen Selbstbestimmung. Allerdings hatte Carlo Schmid wohl schon in der Woche zuvor vom britischen Militärgouverneur Sir Brian Robertson erfahren, dass die Alliierten ihrerseits zum Einlenken in der Frage der Dezentralisierung bereit waren.13
Am 31. Januar 1949 schickte US-Major George L. Wilson von der 7970. Gruppe des Counter Intelligence Corps in Berlin ein Memorandum über Schmid an sein in Heidelberg beim European Command ansässiges CIC-Hauptquartier, das aus der Feder von E. A. Wiesner, dem Direktor für politische Angelegenheiten in der US-Militärregierung (OMGUS), stammte. In seinem Anschreiben betonte Wilson, dass die amerikanische Quelle, aus der das Memorandum stammte, wegen schlechter Erfahrungen mit Geheimdiensten nicht bereit sei, direkt mit einem Nachrichtendienst über die Sache zu sprechen.14
Das knappe OMGUS-Memo vom 28. Januar 1949 verdächtigte Schmid, als ursprünglicher Kommunist 1945 nur zum Schein in die SPD eingetreten zu sein, um über die Entwicklung der Sozialdemokraten in den Westzonen auf dem Laufenden zu sein. Begründet wurde diese absurde Behauptung mit den Kontakten des SPD-Manns zu Dr. von Fischer, dem Präsidenten der Centrale Sanitaire Suisse, einer linken medizinisch-anthroposophischen Vereinigung in Zürich, die seit Jahren hinter dem Eisernen Vorhang arbeite. Verdächtig erschienen dem anonymen Informanten auch Schmids Beziehungen zu dem Züricher Pfister, dem Leiter der Roten Arbeiterhilfe, der wahrscheinlich indirekt oder direkt für die COMINFORM tätig sei. Suspekt erschien in der OMGUS-Meldung auch Schmids Eintreten für den Schweizer Kommunisten Schlotterbeck, einen Mitarbeiter des Schweizer Roten Kreuzes, der zugleich für das württembergische Rote Kreuz aktiv war. Der vierte Verdacht lautete, Schmid habe Beziehungen zu dem Exiljugoslawen Professor Rusizka, einem Sprengstoffspezialisten am Bundesinstitut für Technologie in Zürich. Der sei glaublich der Vertrauensmann des jugoslawischen Staatschefs Tito in der Schweiz.15
Die US-Geheimdienstmeldung 378/52 vom 30. September 1952 befasste sich mit den innerparteilichen Konflikten in der SPD nach dem Tod des SPD-Fraktionsvorsitzenden Kurt Schuhmacher am 20. August 1952, einem Mentor Schmids. Sie beruhte auf direkten Gesprächen mit Schmids Sekretär Hans Helmsdorf und war zudem unterfüttert mit abgeschöpften Gesprächen, die der CDU-Abgeordnete Ernst Lemmer mit den drei Berliner Sozialdemokraten Luise Schröder, Franz Neumann und Paul Löbe geführt hatte. Inhaltlich ging es in der Meldung – Weitergabe an Ausländer untersagt – um das Angebot einer Professur an der Universität Frankfurt/M. an Schmid. Alle Konfidenten witterten darin den Versuch, Schmid damit in die zweite oder gar dritte Reihe der SPD-Funktionsträger abzudrängen. Die Vorwürfe wegen seiner Tätigkeit in Lille waren wieder laut geworden und innerparteiliche Gegner streuten die Meinung, er sei mehr ein Liberaler als ein Sozialdemokrat. Schmid wisse um diese Ränke. Ungewiss sei, so der US-Dienst, ob die Opposition zu Schmid schon auf dem laufenden SPD-Parteitag durchschlage, oder ob ein direkter Angriff auf ihn wegen des Wohls der Gesamtpartei unterbliebe.16
Das CIC überwachte nicht nur fortgesetzt Schmid persönlich, sondern auch sein berufliches Umfeld in Stuttgart und Bonn. Die US-Geheimdienstakte über ihn enthält auch die auszugsweise Niederschrift eines Telefonats, das die entlassene Sekretärin Valentine Müller mit der Stuttgarterin Margarethe Hütter am 14. April 1953 über einen Konflikt Schmids mit dem SPD-Vorsitzenden Erich Ollenhauer geführt hatte: Müller: „Wissen Sie, ich bin etwas enttaeuscht durch die Haltung von CARLO SCHMID.“ Hütter: „Natuerlich.“ Müller: „Als die Geschichte aufkam, habe ich ihn angerufen. Ich wusste nichts Genaues, ich hoerte nur munkeln. Ich sagte ihm, es scheint eine unangenehme Geschichte zu sein und einiges scheint auf Band gekommen zu sein. Er stand auch unter Alkohol, er wusste auch gar nicht was er alles gesagt hatte, ich wusste es auch nicht mehr genau. Ich sagte ihm Einiges, dafuer war er sehr dankbar. In einem Zeitungsartikel stand auch, dass er sich schlecht ueber OLLENHAUER geaeussert habe, das stimmt aber gar nicht. Ich rief den Korrespondenten an, der sagte mir, er habe das nicht reingebracht, das habe die Redaktion gemacht. Ich sprach dann mit der Redaktion … Aber CARLO SCHMID haette mal hier anrufen koennen und sich nach uns erkundigen, wenn er auch nichts für uns tun kann … Ja, ich sprach nur von der Menschenwuerde usw.“ Hütter: „Dass Sie entlassen wurden, ist ein falscher Schritt.“ Müller: „Es wird auch zugegeben, dass ich keine Beleidigungen ausgesprochen habe, aber ich sei nicht eingeschritten.“ Hütter: „Das geht doch nicht. Sie sind doch nicht die Gouvernante von CARLO SCHMID … Sie kennen den andern Mann: Voellig unsicher, voller Minderwertigkeitskomplexe, nachtragend.“17

  1. Vgl. Weber, Petra: Carlo Schmid. Eine Biographie, München 1996, TB-Ausgabe 1998, S.139ff.
  2. Vgl. ebenda, S. 170f.
  3. Vgl. ebenda, S. 171ff.
  4. Vgl. ebenda, S. 174f.
  5. Vgl. ebenda, S. 177.
  6. Vgl. ebenda, S. 178.
  7. Schmid, Carlo: Erinnerungen, Bern/München 1979, TB-Ausgabe 1981, S.177.
  8. Ebenda, S. 178f.
  9. Vgl. Weber, Petra, S. 142.
  10. Vgl. CIA: Information Report, Subject: Prof. Carlo Schmid´s Connection with French Military Government, 28.4.1949, National Archives and Records Administration (NARA) Record Group (RG) 319 XE 239642 Box 197. Die Akten wurden aufgrund eines Freedom of Information Act (FOIA) vom 2. Mai 2012 am 19. September 2014 vom NARA freigegeben (NARA Case Number: NW 37921).
  11. Ebenda.
  12. Vgl. ebenda, S. 2.
  13. Vgl. Birke, Adolf M.: Großbritannien und der Parlamentarische Rat, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 42 (1994) 3, S. 313-359.
  14. Vgl. HEADQUARTERS COUNTER INTELLIGENCE CORPS REGION VIII Berlin, Germany an Commanding Officer, Hq. 7970th CIC Group, EUCOM vom 31.1.1949: SUBJECT: SCHMID, Carlo, in: FOIA NW 37921.
  15. Vgl. OFFICE OF THE MILITARY GOVERNMENT FOR GERMANY: Memorandum vom 28.1.1949, in: FOIA NW 37921.
  16. Vgl. Meldung 378/52 Professor Carlo SCHMID, SPD vom 30.9.1952, in: FOIA NW 37921.
  17. I – 3496 CS-HA-SCH vom 12.4.1953, in: FOIA NW 37921. Unterstreichungen im Original handschriftlich.