von Erhard Crome
Wann beginnt die Globalisierung? André Gunder Frank verweist ironisch auf die seit Anfang der 1990er Jahre in Umlauf gebrachte modische „Globalisierungs“-These. Vorher gab es den Bezug auf 1945 oder das 19. Jahrhundert mit Dampfschifffahrt, Telegraphenkabeln und imperialistischer Aufteilung der Welt. Frank besteht darauf, dass seit spätestens 1500 Globalismus „für die ganze Welt eine Lebenstatsache war, ausgenommen für ein paar spärlich besiedelte Inseln im Pazifik“. Eine „afro-eurasische ,Ökumene‘ oder ein afro-asiatisches ,zentrales Weltsystem‘ [funktionierte] schon lange zuvor als eine einzige Einheit“. Die „Eingliederung der Amerikas und dann auch Austral-Asiens in den schon ablaufenden historischen Prozess und dann in das weltweite System“ brachte einen neuen Aufbruch, war jedoch Ergebnis der weltwirtschaftlichen Expansion.
Das Buch „ReOrient“ meint mit seinem Titel sowohl eine Re-Orientierung der Perspektive auf das Weltsystem, der Weltsystemforschung – nämlich von der traditionell eurozentristischen Sichtweise zu einer globalen – als auch die Blickrichtung auf den Orient, gen Osten. Deshalb auch der Untertitel „Globalwirtschaft im Asiatischen Zeitalter“. Dies ist das letzte große Werk André Gunder Franks (1929-2005). Es erschien 1998 in den USA und zeitgleich in Indien, 2000 in China, 2001 in Japan und 2003 in Korea. Eine deutschsprachige Ausgabe fehlte bisher. Sie erschien nun im Wiener Promedia Verlag, der auch die vier Bände „Das moderne Weltsystem“ von Immanuel Wallerstein auf Deutsch verlegt hat.
Frank gehörte wie Wallerstein, Samir Amin und Giovanni Arrighi zu den Begründern der Weltsystemtheorie, die darauf zielt, das Funktionieren des kapitalistischen Weltsystems schlüssig und zugleich kritisch zu erklären. Sie analysierten, wie die Zentren sowie Peripherien und Semiperipherien entstanden und auf welche Weise sie miteinander verbunden sind. Dabei bezogen sie sich einerseits auf marxistische Arbeiten, andererseits auf die französische „Annales-Schule“ und insbesondere Fernand Braudel. Der ursprüngliche Ansatz war zu untersuchen, wie aus dem europäischen Mittelalter heraus jenes soziale System entstand, das sich seit dem 16. Jahrhundert zum kapitalistischen Weltsystem entwickelte. Während die Protagonisten ursprünglich im Gleichklang arbeiteten, kritisierte Frank den Ansatz Wallersteins und schon Braudels später als eurozentristisch und ordnete ihm auch Samir Amin und andere zu.
Diesen Standpunkt hat Frank in ReOrient systematisch ausgearbeitet. Er besteht auf einer Zentralität nicht Europas, sondern Asiens und insbesondere Chinas. Dort konzentrierten sich mindestens von 1400 bis 1800 politische Macht, ökonomische Innovation und soziale Stabilität im Weltmaßstab. Insofern ist der Aufstieg Chinas seit Ende des 20. Jahrhunderts nicht die Störung einer europäisch bestimmten Normalität, sondern „untrennbar mit der fundamentalen Struktur und Kontinuität in der Weltentwicklung verbunden“. Frank untersucht die unterschiedlichen Weltregionen, die Entwicklungen in den verschiedenen Wirtschaftszweigen, von Technologien, Handelsbilanzen, demographische Entwicklungen und Lebensstandards. „Bevölkerungsdynamik, Handelsgüter und Handelsbilanzüberschuss deuten auf eine klare Häufung von gewerblicher und organisatorischer Kompetenz, Komplexität und Kommodifizierung bei den asiatischen Partnern hin, sodass die These der führenden Rolle Europas in der sich verdichtenden Weltwirtschaft der frühen Neuzeit nicht länger aufrecht zu erhalten ist“, schreibt Andrea Komlosy, Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien, in ihrem Vorwort zu dieser Ausgabe.
Nach Franks Verständnis gibt es den afro-eurasischen Zusammenhang im Grunde seit 5000 Jahren, konkreter untersuchbar seit der chinesischen Song-Dynastie im 10. Jahrhundert und nun analysiert für die Zeit seit 1400. Dabei unterscheidet Frank längere Phasen der Innovation und Expansion des Systems und Phasen des Niedergangs. Im frühen 15. Jahrhundert begann eine lange Periode der Expansion, und zwar wieder in Ost- und Südostasien. Die Europäer hatten bereits mit den Kreuzzügen versucht, Anschluss an die Reichtümer des Orients zu erhalten. Jetzt suchten sie den Seeweg nach Indien und China, einerseits Richtung Osten – um Afrika herum, in den Indischen Ozean und weiter – und nach Westen. Die „Entdeckung“ und Eroberung Amerikas waren Ergebnis dessen. Durch das Gold und vor allem das Silber von dort hatten die europäischen Mächte Geld, um ihre unvorteilhafte Stellung am Rande der eurasischen Weltwirtschaft auszugleichen und sich jene ersehnten Waren kaufen zu können, die nur in Asien zu haben waren, die berühmten Gewürze, Seiden, Baumwollstoffe, Porzellan und vieles andere. In Asien regte das Silber die Produktion, den Konsum und schließlich auch das Bevölkerungswachstum an. Wenn letzteres Kennzeichen des Wohlstands der Völker war, so war er in Asien höher als in Europa.
In Indien hatten Wirtschaftsexpansion und Bevölkerungswachstum zu einer Verringerung der Einnahmen der Herrschenden geführt, was zu einer Verstärkung des Ausbeutungsdrucks führte. Unter diesen Umständen begannen die Briten, sich dort festzusetzen, nach der Schlacht von Plassey 1757 eroberten sie Bengalen, schließlich weitere Teile des Subkontinents. Der Akkumulationsstrom wurde umgekehrt und ein regelmäßiger Nettoabfluss nach Großbritannien organisiert. Damit wurde die Industrialisierung seit dem 18. Jahrhundert finanziert.
China hatte bis ins 19. Jahrhundert eine positive Handelsbilanz. Doch es wurde Opfer einer „Gleichgewichtsfalle“: Da Arbeitskräfte im Überfluss zur Verfügung standen und Lebensmittel billig waren, wurden niedrige Löhne gezahlt, die dennoch existenzsichernd waren. Dadurch gab es jedoch kaum Anreiz, in arbeitssparende oder alternative Energie (das war damals Kohle statt Holzkohle) nutzende Produktion zu investieren. Europa, vor allem Großbritannien, hatte das Problem relativ hoher Löhne und Arbeitsknappheit, durch den Kapitalzustrom aus den Kolonien aber einen relativen Kapitalüberschuss. Dadurch richteten sich die technischen Innovationen auf die Einsparung von Arbeitskräften und die Nutzung neuer Energien, zunächst der Dampfmaschine. So waren der Niedergang Asiens seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und der Aufstieg Europas zwei Seiten eines zusammenhängenden Prozesses, der in dem existierenden Weltsystem seine Grundlage hat. Die beiden Kurven schneiden sich 1815.
Daraus folgert Frank, dass es nicht besondere europäische Eigenheiten waren, die zu industrieller Produktion und einer zentralen Stellung Westeuropas im Weltsystem führten. Der Versuch, die Ursachen für die Entwicklung des Kapitalismus oder den Aufstieg des Westens „unter dem Licht der europäischen […] Straßenlaterne zu finden, lässt den Betrachter erblinden“, schreibt er. Die eurozentristische Idee führe zu einem Tunnelblick in der Geschichtsschreibung. Sie habe mehrere Stränge, zu denen der Autor Karl Marx und Werner Sombart ebenso zählt wie Max Weber, Arnold Toynbee oder Karl Polanyi. Sie alle haben „einen falschen Universalismus unter europäischer Initiierung und Leitung“ erfunden. Marx‘ Vorstellungen von einer „asiatischen Produktionsweise“ oder „asiatischem Despotismus“ seien deshalb nicht nur von Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse geleitet, sondern – hier zitiert Frank den Historiker Teshale Tibebu – eine Variante der „angemaßten europäischen Überlegenheit“, ein „rot gefärbter Orientalismus“. Insofern wäre es an der Zeit, vor dem Hintergrund von André Gunder Franks Analysen auch eine Reihe von Fragen der überkommenen marxistischen Kapitalismus-Analyse neu zu erörtern.
André Gunder Frank: ReOrient. Globalwirtschaft im Asiatischen Zeitalter, ProMedia Verlag, Wien 2016, 496 Seiten, 39,90 Euro.
Schlagwörter: André Gunder Frank, Asien, Erhard Crome, Eurozentrismus, Globalisierung, Kapitalismus, Weltwirtschaft