von Heerke Hummel
Offenbar weil Politik und Wirtschaftswissenschaft keine plausiblen Antworten auf brennende Tagesfragen mehr zu geben vermögen, haben Kabarettisten sich mehr und mehr der Sache angenommen – dabei nicht nur die Lachmuskeln ihrer Zuschauer reizend. Vielfach führen sie mit dem aufgedeckten Unsinn des Handelns von Politik und Finanzwirtschaft den Ernst der Lage vor Augen, in der sich die Welt befindet. Wenigstens sie haben die Bodenhaftung noch nicht verloren. Nun hat es sich mit Ulrike Herrmann zu wiederholtem Male eine Journalistin zur Aufgabe gemacht, aufzuklären. Mit ihrem Buch für die Studierenden der Ökonomie, wie sie es nennt, will sie den Leser „das Abenteuer Kapitalismus“ erfahren lassen. Und das könne am besten, wer „seine klügsten Theoretiker kennt. Also Smith, Marx, Keynes.“ Der Titel des Buches, „Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung“, ist einerseits ironisch gemeint. Denn er zielt auf die mathematisierte Mainstream-Ökonomie mit ihren Wachstumsmodellen, die so tut, als könne man sich in die heile Welt der kleinen Wochenmärkte zurückziehen, wo nur Äpfel und Birnen gehandelt werden. Andererseits spielt er, so die Autorin, auch darauf an, „dass es nicht so einfach ist, den Kapitalismus abzuschaffen“. Denn der sei „ein totales System, das nicht nur die Wirtschaft, sondern alle Lebensbereiche durchdringt.“
Nach solcher Einleitung beleuchtet U. Herrmann Leben und Werk ihrer Favoriten und würdigt deren Verdienste. Dies verdient besondere Anerkennung in einer Zeit, in der die dominierende ökonomische Theorie weitgehend von der erzeugenden Realwirtschaft abgehoben und die ganze Komplexität volkswirtschaftlicher Reproduktion aus dem Auge verloren hat; in einer Zeit, in der Wirtschaftswissenschaftler, Politiker, Banker und sonstige „Investoren“, ja, mehr und mehr das breite öffentliche Bewusstsein, sich vor allem für Konten und Finanzwerte interessieren und eben davon leiten lassen – anstelle von sachlichen Strukturen und Problemlösungen der Gesellschaft als Gesamtheit. Diese Gesellschaft hat verlernt, wirklich ökonomisch in des Wortes ursprünglicher Bedeutung zu denken. Darum ist es so wichtig, ein Umdenken von der Wurzel her bei denen einzuleiten, die noch nicht in alten Mustern erstarrt sind – den heute Studierenden, die es zu begeistern gilt. Das könnte tatsächlich ein Abenteuer sein. Möge das Buch dazu beitragen!
Die Autorin könnte ihr Anliegen nicht zum Erfolg führen ohne das theoretische und praktische Versagen der sogenannten Neoklassik aufzudecken. Ihre wesentliche Kritik: Die Neoklassik, also die bürgerliche Wirtschaftstheorie, welche sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der „Arbeitswertlehre“ verabschiedet hatte, rückte statt dieser den Konsumenten ins Zentrum der Aufmerksamkeit und verharrte in der Mikroökonomie. Sie stecke „in einem amüsanten Dilemma: Zwar kann sie erklären, warum Schuhe billiger sind als Häuser – aber sie kann nicht herleiten, wie Schuhe und Häuser überhaupt zu einem Preis kommen.“ Und weiter stellt sie fest, dass die Neoklassiker den real existierenden Kapitalismus ausblendeten und stattdessen eine reine Tauschwirtschaft beschrieben. Die Neoklassik kenne kein Wachstum, keine Technik, keine Großkonzerne und dominiere bis heute, obwohl sie schon 1914 von Schumpeter verächtlich gemacht wurde. Doch trotz solcher Kritik sei auch dieser, sich auf den einzelnen Unternehmer konzentrierend, in der Mikroökonomie stecken geblieben, ungeachtet dessen, dass er wesentliche Ideen von Marx übernommen habe.
Erst John Maynard Keynes ist, folgt man U. Herrmann, ein Ausbruch aus der gedanklichen mikroökonomischen Enge der Neoklassik gelungen. Es sei „kein Zufall, dass Keynes als Erster erkannte, wie wichtig das Geld ist“. Da stellt sich die Frage: Hatte nicht bereits Karl Marx, den Keynes nie gelesen haben soll, in seinem „Kapital“ die Rolle des Geldes im kapitalistischen Reproduktionsprozess ausführlich entwickelt und mit seiner Formel „G-W-G‘ das Geld quasi als im Zentrum kapitalistischen Denkens und Handelns stehend qualifiziert?
Gewiss hat Keynes, wie es im Buch heißt, gegenüber der Neoklassik die gesamte Ökonomie verändert und „eine neue ökonomische Weltsicht entworfen – wie vor ihm nur Adam Smith und Karl Marx“. Aber hat er tatsächlich die Theorie kapitalistischen Wirtschaftens weiterentwickelt? „Das Kapital“ von Karl Marx nannte er „ein überholtes Lehrbuch, von dem ich weiß, dass es nicht nur wissenschaftlich falsch, sondern auch ohne Belang oder Anwendbarkeit für die moderne Welt ist“. Zugegeben, Unternehmer und Kapitalgesellschaften werden mit Marx, dessen Theorie zu der Konsequenz einer Vergesellschaftung des Eigentums führte, nicht viel anfangen können; und Regierungen im Dienste des Kapitals auch nicht. Auch Keynes wollte dem Kapital dienen, es funktionsfähig halten durch die Geldpolitik der Zentralbanken einerseits und durch die Fiskalpolitik der Regierungen sowie staatliche Investitionen andererseits. Man mag ihm ja zugutehalten, dass mit ihm endlich einmal wieder ein Ökonom auch an die Reproduktion der Arbeitskraft dachte. 1923 mokierte er sich, wie Herrmann vermerkt, „über die Neigung der Neoklassiker, große Opfer von den Beschäftigten zu verlangen – mit dem vagen Versprechen, dass in einer fernen Zukunft alles besser würde.“ Für Laien verständlich habe Keynes erklärt, wer gewinnt und wer verliert, wenn die Löhne und damit die Preise um zehn Prozent fallen. Die Profiteure wären die Vermögenden, die Geldbesitzer, die für jedes Pfund plötzlich mehr kaufen könnten. Die Verlierer wären nicht nur die Arbeiter, sondern auch alle Unternehmer, die Kredite aufgenommen haben, um zu investieren. Der Autorin zufolge erkannte J. M. Keynes im Geld „ein Mittel des Klassenkampfs“ und zitiert ihn folgendermaßen: „Die Wahrheit ist, dass wir auf halbem Wege zwischen zwei ökonomischen Gesellschaftstheorien stehen. Die eine Theorie hält daran fest, dass Löhne so festgesetzt werden sollten, dass es ‚fair‘ und ‚angemessen‘ zwischen den Klassen zugeht. Die andere Theorie […] sagt, dass Löhne durch wirtschaftlichen Druck bestimmt werden sollten, durch die sogenannten ‚harten Fakten‘, und dass unsere mächtige Maschine alles niedermalmen sollte, im Dienste eines allgemeinen Gleichgewichts und ohne Rücksicht auf die zufälligen Folgen für einzelne Gruppen. Mit seinem Vertrauen auf reine Zufälligkeiten, mit seinem Glauben an ‚automatische Anpassungen‘ und mit seinem allgemeinen Desinteresse an sozialen Phänomenen ist der Goldstandard ein zentrales Symbol und Idol jener, die die obersten Ränge in unserem System einnehmen.“
Für die Zeitgenossen von J. M. Keynes im bürgerlichen Lager mögen solche Worte 1925 ungeheuerlich und revolutionär geklungen haben. Doch zeugen sie von größerer theoretischer Durchdringung der kapitalistischen Produktionsweise als sie ein halbes Jahrhundert vorher im „Kapital“ von Karl Marx dargelegt wurde? Als Zeitgenosse einer viele Jahrzehnte späteren Welt und professioneller Spekulant mit außergewöhnlichen Einfällen und Einsichten vermochte er es besser als seine neoklassischen Kontrahenten, die ganz neuen Erscheinungen einer damals noch sehr jungen „Finanzindustrie“ zu deuten und praktische Schlussfolgerungen für ihre Beherrschung zu ziehen. Ihren Niederschlag fanden sie in seinem 1936 erschienenen Hauptwerk „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“, das er selbst für eine theoretische Revolution hielt. „Das Buch“, stellt U. Herrmann fest, „löste sofort eine weltweite Debatte aus und hat die Wirtschaftswissenschaften bleibend verändert“. Keynes habe die Finanzmärkte ins Zentrum gerückt: „Er beschrieb den Kapitalismus als ein soziales System, das durch die Börsen, die unkontrollierte Geldschöpfung und die Spekulation getrieben wird. Keynes verstand als Erster, wie Geld und Produktion zusammenhängen.“
Solche Einschätzung und ähnliche, etwa die Wert-, Preis- und Werttheorie von Karl Marx oder die Ursache von Arm und Reich in unserer Gesellschaft betreffend, lassen vermuten, dass die Autorin entweder ihr Wissen aus der Sekundärliteratur geschöpft oder Marx nicht verstanden hat. Natürlich veränderte sich die zu untersuchende ökonomische Realität in der Welt im Verlaufe der vielen Jahrzehnte, die zwischen Marx und Keynes lagen, gewaltig. Und gewiss war es ein Verdienst des Briten, die neuen, weltweiten Bedingungen des Wirtschaftens ins Visier seiner Untersuchungen genommen zu haben. Doch er hat weder auf Marx aufgebaut (etwa wie Marx sich von den Gedanken eines Adam Smith und David Ricardo hatte inspirieren lassen) noch einen ganz neuen Denkansatz für das Verständnis des „modernen Kapitalismus“ und die Lösung seiner Widersprüche sowie für die Überwindung des heutigen Desasters der Weltgesellschaft gefunden – auch wenn er, wie Ulrike Herrmann schreibt, den gesamten Kapitalismus umbauen, die Macht der Finanzmärkte einschränken, die großen Vermögen besteuern und die öffentlichen Unternehmen stärken wollte. Letzteres natürlich im Interesse des Kapitals. Er war eben ein ausgezeichneter Beobachter und erfahrener Praktiker, der sogar die Psychologie, zum Beispiel den Herdentrieb der Spekulanten, in seine Überlegungen einbezog.
In den letzten 40 Jahren ist, wie Frau Herrmann formuliert, „exakt eingetreten, was Keynes theoretisch beschrieben hatte: Der Kapitalismus wird von den Finanzmärkten dominiert – und verwandelt sich in ein globales Casino.“ (Bedurfte es für solche Feststellung wirklich einer neuen, Marx ignorierenden Theorie?) Trotzdem werde Keynes an den Universitäten kaum gelehrt. Stattdessen dominiere eine moderne Variante der Neoklassik, die das Thema Geld entweder ignoriere oder verstümmele.
Daraus schlussfolgert die Autorin, die Ökonomie müsse zu Smith, Marx und Keynes zurückkehren. Allerdings dürfe man nicht den neoklassischen Fehler wiederholen, nun ebenfalls nach „Wahrheiten“ zu suchen. Der Kapitalismus sei so dynamisch, dass sich die Perspektiven und Themen ständig ändern. Jede Generation müsse ihre eigene Wirtschaftswissenschaft erfinden, doch Smith, Marx und Keynes könnten wesentliche Anregungen liefern. Das ist vielleicht die wichtigste Feststellung Ulrike Herrmanns in ihrem Buch und sollte Aufforderung und Orientierung besonders für die eigentliche Zielgruppe des Buches, die Studierenden sein. Denen ist es sehr zur Lektüre zu empfehlen. Doch sollten sie es kritisch lesen, vorsichtig mit Wertungen der Autorin umgehen und keinesfalls auf ein Studium der Originalwerke der drei von ihr protegierten Theoretiker verzichten. Das gilt besonders für Karl Marx. Denn ihm wirft Ulrike Herrmann drei „Irrtümer“ vor: Die Arbeiter seien nicht verelendet, Ausbeutung gebe es, aber nicht den Mehrwert, und Geld sei keine Ware. Mit solchen Aussagen der Autorin sollten sich – nicht nur, aber vor allem – Studierende sehr kritisch und dennoch kreativ auseinandersetzen. Dabei wird die Kunst darin bestehen, Karl Marx nicht nur als Theoretiker der Ökonomie seiner Zeit zu begreifen, sondern auch als vorausdenkenden Gesellschaftswissenschaftler. Als solcher konnte er nämlich das Wesen der erwarteten, neuen Gesellschaft theoretisch charakterisieren (so wie er das Wesen des Kapitalismus seiner Zeit beschrieb) – auch wenn deren praktische Erscheinungsformen für ihn weder erfassbar noch voraussehbar waren. Auch darin besteht eben der Unterschied von Wesen und Erscheinung der uns umgebenden Welt (den zu verstehen Herrmann schwerzufallen scheint, etwa bei ihrer Analyse von Wert und Preis). Diese Dialektik im Heute aufzuspüren, also Momente des Wesentlichen einer „neuen Gesellschaft“ (Marx) in der heutigen, scheinbar alten, zu erkennen und die Gegenwart kreativ marxistisch zu erklären, um so einen Wandel im Bewusstsein – und hier besonders im ökonomischen Denken – der Gesellschaft als ganze herbeizuführen, dürfte die große Herausforderung junger Wirtschaftswissenschaftler sein. Ansätze zu solch neuen Sichtweisen auf die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts finden sich beispielsweise bei H. Hummel, „Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum“ (Projekte-Verlag, Halle 2005). Spannend dürfte ebenfalls eine kritische, zugleich aber objektive Auseinandersetzung mit der ökonomischen Theorie und Praxis des Realsozialismus sein. Diese Frage wurde von Ulrike Herrmann leider vollständig ausgeblendet, obwohl mit Russland und China zwei ökonomische und politische Großmächte aus diesem allgemein für einen Fehlversuch gehaltenen Gesellschaftsmodell hervorgegangen sind und auch der von ihr gewählte Buchtitel zu einer solchen Analyse eingeladen hätte. Ein Blick auf diese scheinbar ganz andere ökonomische Welt hätte vielleicht die wirtschaftstheoretische Frage aufkommen lassen können, wie es möglich sein konnte, dass gegen Ende des vorigen Jahrhunderts ausgerechnet jenes System, welches sich siebzig Jahre lang für das zukunftsträchtige gehalten hatte, sich – nach härtesten, feindseligen, auch ideologischen Auseinandersetzungen mit dem Widerpart – von innen heraus binnen äußerst kurzer Zeit selbst in das lange für überholt gehaltene Wirtschaftsmodell transformierte und dabei noch zum „Motor“ der Weltwirtschaft wurde. Praktische Erklärungen dafür gibt es viele. Doch wo liegt die theoretische Logik dieses „Wunders“? Schlussfolgerungen aus dem Tatbestand dürften jedenfalls sein:
- – Die Unterschiede zwischen beiden Wirtschaftssystemen waren wohl nicht so groß beziehungsweise prinzipiell wie allgemein angenommen wurde. Das betrifft vor allem das Wesen des vom Gold-Standard befreiten Geldes als Information über gesellschaftliche Arbeit und Teilhabe am gesellschaftlichen Produkt.
- – Beide Systeme hatten sich im Verlaufe von sieben Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts einen erbarmungslosen Kampf und Wettlauf auf zwei verschiedenen Wegen der Vergesellschaftung von Produktion und Eigentum geliefert, dem gleichen Ziel entgegen, der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts (siehe auch H. Hummel: Gesellschaft im Irrgarten. Die Tragik nicht nur linker Missverständnisse, NORA Verlagsgemeinschaft Dyck & Westerheide, Berlin 2009).
- – Chinas großer ökonomischer Erfolg beruht auf der Verbindung von zentraler, langfristig handlungsfähiger wirtschafts- und finanzpolitischer Führung einerseits mit hoher Eigenverantwortung der Unternehmen andererseits.
Wenn das Buch von Ulrike Herrmann nun eine Initialzündung für ein neues Nachdenken und zu allgemeiner Rück- und Neubesinnung brächte, hätte es sein von der Autorin gestelltes Ziel schon erreicht. Eine sachliche, emotionslose Auseinandersetzung mit dem Realsozialismus wäre insofern interessant, als dieser besonders stark von einem sach- und problembezogenen ökonomischen Denken – insbesondere der Praktiker – geprägt war. Seine theoretische Schwäche dürfte in der von Marx und Engels überkommenen, dogmatisierten Vorstellung von einer zentralisierten ökonomischen (Fein-)Planung ganzer Volkswirtschaften bei gleichzeitiger Unterschätzung, ja Verteufelung von Prozessen der Selbstregulierung und gefürchteter Spontaneität gelegen haben. Freilich gibt es auch dafür Ursachen und Erklärungen aus den Umständen der Zeit heraus.
Ulrike Herrmann: Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie oder Was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können, Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2016, 287 Seiten, 18,00 Euro.
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