von Herbert Bertsch
In der ständigen deutschen Vorwahlzeit, unterbrochen nur durch Wahlen und das Drumherum, gibt es gemäß Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 8. Mai 1949 eine Konstante als Dreh- und Angelpunkt – die Parteien. Wenngleich das im Grundgesetz gar nicht so steht. Was wiederum seine Begründung in der damaligen Ungewissheit hat, wie denn die Deutschen in den westlichen Besatzungszonen wählen würden, wenn man sie gewähren ließe. Weniger war es die Sorge, da würde möglicherweise eine Nachauflage des Hitlerreiches gewünscht. Vielmehr wurde befürchtet, da könnte der Wunsch nach konsequenter antifaschistisch-demokratischer Erneuerung manifest werden, etwa so: „Fort mit den Trümmern und was Neues hingebaut – um uns selber müssen wir uns selber kümmern.“ Das war nicht im Interesse der Besatzungsmächte, die bereits die Einordnung eines westdeutschen Teilstaates in die antikommunistisch begründete dauerhafte Konfrontation mit der Sowjetunion planten. Ein Grundprinzip wurde so gleichsam „inneres Gesetz“ des Produkts: Nichts Direktes durch und für das Volk darf daraus verbindlich abzuleiten sein.
Damit begann der Parteienstaat in und für Deutschland. Wer nicht Parteimitglied oder von einem Vorstand dazu eingeladen, war und ist – bis auf die Wahl – faktisch von der politischen Willensbildung und erst recht von der Macht ausgeschlossen. Blieb das Problem mit unerwünschten Parteien, soweit sie nicht zu verhindern waren. Das wurde vermittels Verfassung gelöst. Da wurde kurz nach rechts ausgeholt und die KPD als eigentlicher Adressat wegen Verfassungsfeindlichkeit verboten, womit eine Verfolgungswelle auch über den Einzugsbereich der Partei hinaus begann.
Für alle Fälle sieht Artikel 79,1 vor: „Das Grundgesetz kann nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt.“ Im statistischen Schnitt geschah das inzwischen einmal pro Jahr. Für eine große Koalition der „Volksparteien“ war das bei Bedarf also keine Hürde.
Als Beispiel von 1989/90: keine deutsche Vereinigung, sondern Beitritt, womit das Gebot einer neuen Verfassung und eine Abstimmung des Staatsvolkes umgangen wurde. Wer in der letzten Volkskammer der DDR hatte schon die richtige Übersicht bei hemmungslosem Vertrauen in die westdeutschen Parteipaten. Und wer in der BRD hatte seinerzeit Kompetenz und Kraft, ordentliche Verfahren dagegen anzustrengen? „Nie wieder Sozialismus“ hieß die Parole, dafür war alles rechtens.
Die Freiheit, Partei zu ergreifen, gehört trotz überschwänglichem Pathos dabei zum Fortschritt der deutschen Geschichte, und die spätere Gründung politischer Parteien als Beiwerk zur Entwicklung des Kapitalismus auch. Es kommt nur darauf an, wozu das nützt.
Ferdinand Freiligrath sagt: „Du drückst den Kranz auf eines Mannes Stirne, der wie ein Schächer jüngst sein Blut vergoß, indessen hier die königliche Dirne die Sündenhefe ihrer Lust genoß. […] Für ihn den milden Regen deiner Zähren – doch gegen sie: die Blitze der Partei! Partei, Partei! Wer sollte sie nicht nehmen, die noch die Mutter aller Siege war. […] Dem Leben gilt’s ein Lebehoch zu singen, und nicht ein Lied im Dienst der Schmeichelei. Der Menschheit gilt’s ein Opfer darzubringen, der Menschheit, auf dem Altar der Partei.“
Die Bundeszentrale für Politische Bildung sagt(e): „Parteien bündeln und vertreten die Interessen von Gruppen und Einzelpersonen. Laut Grundgesetz wirken sie bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. […] Trotz berechtigter Kritik bleiben sie für das politische System unverzichtbar.“
Parteien sind demnach Interessenvertretung mit dem Ziel, Macht vermittels staatlichen Machtmonopols auszuüben, um ihre Klientel zu bedienen. Nun gibt es in jedem gesellschaftlichen Verbund unterschiedliche bis antagonistische Interessen, aber auch solche, die sich harmonisieren lassen. Daraus folgen Konflikte zwischen Parteien wie auch parteiinterne Spreizungen, üblicherweise Flügel genannt. Mitunter entstehen neue Interessenlagen, die neue Konstellationen wie Abspaltungen oder Ausgründungen hervorbringen – soweit alles wie nach einem göttlichen Plan, der auch Bewegung und Veränderung einschließt, die in der Regel nicht vom Zentrum, sondern von der Peripherie ausgehen. Das ist – in starker Vereinfachung nach Hegel – auch vernünftig.
Was aber, wenn sich prägende Elemente von Rolle, Funktion und Gebrauch der Partei so verändern, dass nicht mehr die Interessen der Klientel im Mittelpunkt stehen, sondern Sonderinteressen derer, die über die Partei verfügen; vermittels Apparaten, Nutzung der gesellschaftlichen, in Sonderheit der staatlichen Institutionen? Und wenn dies darin mündet, dass Parteien mit zunächst entgegengesetzten Programmteilen koalieren oder Machtpositionen anderer Parteien tolerieren, um an der Macht und deren Pfründen beteiligt zu sein? Geschwächt wird dabei stets die Opposition, die nach der Theorie aber unerlässlich für die Demokratie als Korrektiv im Gesamtinteresse ist.
Eine häufige, gar ständige große Koalition agiert letztlich nicht anders als nur eine Partei mit Staatsbesitz, wenngleich als Ergebnis von Wahlen, und entspricht dem demokratischen Grundanliegen nicht. Denn als Folge wird eine überdimensionierte künstliche Basis geschaffen, wo es nicht mehr um das unterschiedliche „Was“ (Konzeption) geht, sondern um Scheinkämpfe über das „Wie“ (Durchsetzung der gemeinsamen Konzeption).
Etwas völlig anderes ist es, wie die Parteien dies ihren Wählern und der Öffentlichkeit gegenüber interpretieren. So kommt es zur „alternativlosen“ Politik, wie wir sie derzeit in Deutschland haben. Wenn sie wirklich alternativlos wäre und die SPD konstruktiv an der Merkel-CDU-Konzeption mitwirkte: Warum sollte dann eine SPD-geführte Alternative nötig sein, die bei Prinzipientreue der SPD-Führung – da alternativlos! – kaum etwas anders machen könnte, außer neuen Ausgaben für Amtsträger. Und was könnte eine Mitwirkung der Linken und der Grünen daran wesentlich ändern, wenn sie bereits vorher versichern, die inhaltliche Führung der SPD zu akzeptieren?
Wahlrechnerisch würde also in jedem Falle – ob wieder große Koalition, wie durch Frank-Walter Steinmeiers Wechsel ins Präsidentenamt eingeläutet, oder eine sogenannte linke Koalition – kaum den Anliegen des Großteils der Wähler entsprochen. Nehmen wir die Nichtwähler dazu, haben wir schon fast US-amerikanische Verhältnisse, wonach Präsidenten etwa von rund 25 Prozent der registrierten Bevölkerung gewählt sind.
Hier geht es um das Skelett der „Parteiendemokratie“, wie wir sie als Ausformung der repräsentativen Demokratie haben, nicht darum, wie äußerlich geschönt. Zu dieser Praxis passt, wie sich als deren Protagonist der scheidende Bundespräsident zu Volksentscheiden auf Bundesebene äußerte: In der repräsentativen Demokratie gehe es um die Arbeit von Abgeordneten, die sich oft über die Jahre mit etlichen Themen beschäftigen. Der Zufall und Stimmungen spielten hier eine eher geringe Rolle, wurde Joachim Gauck im neuen deutschland zitiert. Da wirken die Parteien an der Macht insofern mit, als Minister und leitende Beamte von den siegreichen Parteien gestellt werden, die Grundlinien der Politik auch für das Fachressort jedoch vom Regierungschef bestimmt werden.
Nun hat es bei CDU/CSU und SPD eine Metamorphose gegeben: die begriffliche Wandlung von der Interessen- zur Volkspartei, die den Anspruch erhebt, nicht mehr Klientelpartei zu sein, sondern die Gesamtheit der Grundinteressen abzudecken. Das war im Prinzip die Übernahme der „Einheitspartei“. Die kann nicht bei antagonistischen sozialökonomischen Interessen funktionieren, das zerreißt den Sack. Im Ergebnis kommt den Volksparteien leicht das Volk abhanden – was gerade geschieht. Und mehr noch greift Raum: das Gefühl, betrogen zu sein. Parteienverdrossenheit nennt man das. Aus dem Gebot der Mitwirkung von Parteien ist deren Monopol geworden. Anders kommt man legal nicht an und in den Staat, schon gar nicht ans Regieren. „Wir sind das Volk“ – ebenso wie die Abwandlung „Wir sind ein Volk“ – gilt weder im Grundgesetz noch in der demokratischen Praxis. Und nach jüngsten Initiativen würde Gegenteiliges, wie zu Konrad Adenauers Zeiten geübt, nicht nur von der Polizei, sondern bald auch von der Bundeswehr unterbunden. Das wäre zwar Verfassungsbruch, den sich Parteien und ihr Staat unter der Position Terrorbekämpfung zwecks Machtsicherung erschlossen haben. Gemäß bisheriger Praxis wäre dies aber mit Verfassungsänderung durch die Parteienkoalition an der Macht zu heilen. Das Volk braucht es dazu nicht, das ist sowieso inkompetent.
Die Entwicklung des Parteienwesens wurde nach Abbau des Besatzungsrechts in der BRD zum Teil heftig kritisiert. Und sie wurde so vorausgesagt, wie es gekommen ist. Zu nennen wären dafür in Sonderheit die von der FDP gestellten Justizminister und zahlreiche Wissenschaftler; Wissenschaftler, wie Jürgen Dittberner mit: „Sind die Parteien noch zu retten?“ Interessierten ist der Sammelband zu empfehlen: Gabriel, Niedermayer, Stöss (Hrsg.): „Parteiendemokratie in Deutschland“ (1987 und 2002). Ein Schlusssatz daraus: „Die Zukunft der Parteien liegt im Dunkeln und ist nicht vorhersehbar; genauso wenig wie verlässlich beantwortet werden kann, ob die Parteien in ihrer gegenwärtigen Verfassung noch eine Zukunft haben.“
Könnte man es 15 Jahre nach dieser sybillinischen Voraussage damit bewenden lassen? Nein. Es zeichnet sich ab, dass die Verfasstheit der Parteien, ihr Selbstverständnis als eigentliche Machtzentren, auch als dauerhafte Kostgänger des Staates, nicht (mehr?) den Gegebenheiten entspricht. Absichtserklärungen, ab jetzt auf die Bürger zu hören und ihre Anliegen ernst zu nehmen, sind ohne Belang, reichen nicht aus. Weil es eben nicht Kommunikationsmangel ist, wie verkündet; es ist vielmehr eine Bankrotterklärung, vermutlich bereits in Bankrottverschleppung umgeschlagen. Wer sich nicht reformieren kann, wird Objekt äußerer Einwirkung. Was fällt, wird zusätzlich gestoßen.
Ein Aufsprengen der Parteienherrschaft mit deren Verschleierung als „repräsentative Demokratie“ wäre nicht das Ende der politischen Zivilisation, vielleicht das Ende einer Epoche – und das ist zumindest seit 1990 überfällig.
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