19. Jahrgang | Nummer 25 | 5. Dezember 2016

Die Zinswende

von Ulrich Busch

Das Zinsniveau gilt in der Volkswirtschaftslehre als Spätindikator für die konjunkturelle Entwicklung. Das heißt es sinkt, wenn die Konjunktur erlahmt, der Abschwung begonnen hat und eine Rezession bevorsteht und es steigt, wenn die Erholung beendet ist, der Aufschwung anhält und eine Überhitzung der Wirtschaft droht. Die Leitzinsen der Notenbanken, zu denen sich die Geschäftsbanken bei den Zentralbanken kurzfristig Geld borgen können, besitzen in diesem Auf und Ab eine wichtige Signalfunktion. Zugleich bestimmen sie die Richtung und das Niveau aller anderen Zinsen, was sie nicht nur zu wichtigen ökonomischen Indikatoren, sondern zugleich auch zu einem zentralen monetären Steuerungsinstrument in der Wirtschaftspolitik macht.
Darüber hinaus beeinflusst ihre Entwicklung das Währungsgeschehen, wodurch sie in einer globalen Ökonomie zu einer weltwirtschaftlichen Einflussgröße werden, ein Aspekt, der besonders jetzt, wo sich der Konjunkturverlauf in der Welt nicht im Gleichklang vollzieht, eine zentrale Rolle spielt. Bedenkt man all diese Wirkungen und Zusammenhänge, so wird einem schnell klar, warum der mehrmals verschobenen und seit Monaten heiß diskutierten Entscheidung der US-Notenbank vom 16. Dezember 2015, nach sieben Jahren faktischer „Null-Zins-Politik“ den Leitzins um ein Viertel Prozent anzuheben, eine so große Bedeutung zukommt. Wahrscheinlich ist der jetzt von US-Notenbankchefin Janet Yellen verkündete Schritt die wichtigste wirtschaftspolitische Zäsur der letzten Jahre überhaupt.
Auf dem Höhepunkt des Booms der 1980er Jahre hatte die US-Notenbank (FED) den Leitzins bis auf fast zehn Prozent heraufgeschraubt. Im Verlaufe der nachfolgenden Rezession senkte sie ihn dann bis auf drei Prozent (1993). Dann stieg er wieder bis auf ein Niveau von 6,75 Prozent (2001). In der Krise wurde er dann bis auf weniger als ein Prozent gesenkt (2003), schoss bald aber wieder nach oben, bis auf 5,25 Prozent (2006). Dies war die letzte Zinsanhebung bis heute. Die Krise drückte den Leitzins dann 2008 auf einen historischen Tiefstand von 0 bis 0,25 Prozent. Und das gleich für sieben lange Jahre – ein geldpolitisches Novum, das es so noch nie gegeben hat und dessen Folgen für die Weltwirtschaft nach wie vor ungewiss sind.
Jetzt wurde dieses Experiment jedoch beendet und der Leitzins wird wieder angehoben, wenn auch zunächst nur in bescheidenem Umfang, auf ein Niveau von 0,25 bis 0,5 Prozent. Die Grundlage dafür ist die inzwischen gute Konjunktur der US-Wirtschaft, die gesunkene Arbeitslosigkeit und die gestiegene Inflationsrate – als Ausdruck einer anziehenden Nachfrage, eines kräftigen Aufschwungs und der Überwindung der Krise. Dies alles gilt freilich nur für die USA und nicht gleichermaßen für Europa, Asien und den Rest der Welt.
In Europa stecken einige Volkswirtschaften auch sieben Jahre nach dem Höhepunkt der Finanzkrise immer noch in der Rezession. Andere haben trotz Wachstum in ihrer wirtschaftlichen Leistungskraft das Vorkrisenniveau noch nicht wieder erreicht. In Asien, Südamerika und Afrika ringen Schwellenländer um wirtschaftliches Wachstum und Stabilität. Die sinkenden Rohstoffpreise und die infolge des nun wieder erstarkenden US-Dollars zu erwartende Kapitalflucht machen ihnen zu schaffen. Für China, Indien, Russland und Brasilien wird die Zinswende negative Konsequenzen haben, für die Weltwirtschaft insgesamt aber auch positive, da die Konjunktur in den USA einen Anstieg der Nachfrage und steigende Preise zur Folge haben wird.
Wichtig ist aber auch zu erkennen, dass mit der Zinswende und der Beendigung der Null-Zins-Politik ein Schritt in Richtung Normalität gegangen wird. Die Zentralbanken werden dadurch wieder handlungsfähig und die Geldpolitik findet aus der durch die Krise bewirkten Patt-Situation heraus. Hieran wird aber auch deutlich, wie sehr die Dinge gegenwärtig auseinander laufen: In den USA prosperiert die Wirtschaft und macht sich eine spürbare Besserung der Lage bemerkbar, in Europa dagegen dauert die Krise an und zeigt sich der Aufschwung bestenfalls ansatzweise. Deshalb wird die Europäische Zentralbank (EZB) vorerst auch an ihrer Null-Zins-Politik festhalten. Eine Zinswende scheint hier frühestens im Jahr 2017 wahrscheinlich. Und auch das nur, wenn der Aufschwung bis dahin an Breite gewonnen hat und sich nicht bereits die nächste Krise anzukündigen beginnt. Jedenfalls werden die kommenden Monate für die EZB eine Herausforderung und eine geldpolitische Gratwanderung werden.
Die US-Währung wird aufwerten und viel Kapital wird daraufhin in die USA fließen. Große Volkswirtschaften wie China, Indien und Brasilien werden reagieren. Die Weltwirtschaft insgesamt wird sich nach einer Zeit des extrem billigen Geldes und der deutlichen Entknappung von Kapital auf die neue Situation einstellen müssen. Mit der Zinswende wurde zunächst nur ein Richtungswechsel vollzogen, die spürbaren Veränderungen aber werden folgen, wenn die nächsten Zinsschritte eingeleitet sind. Auf Dauer wird sich auch die EZB dem nicht entziehen können. Zumal es in Europa Volkswirtschaften gibt, wo ein robustes Wirtschaftswachstum und eine anhaltende Konjunktur eine Zinserhöhung längst für angemessen erscheinen lassen. Anderen Ländern jedoch, zum Beispiel Finnland, Italien und Spanien, wäre damit nicht geholfen. Ein gerade beginnender Aufschwung würde dadurch beschädigt oder gar abgewürgt werden. Eine differenzierte Geldpolitik aber ist in einem einheitlichen Währungsraum nicht möglich, so dass die Zinswende für alle oder für keinen erfolgt. Darin liegt eine gewisse Tragik der Europäischen Währungsunion. Die Konsequenzen der US-Zinswende werden für die europäischen Volkswirtschaften sehr verschieden ausfallen.