von Peter Linke
„Präsident Putin möchte, dass Wladiwostok erneut zu einer wirklich internationalen Stadt wird. Das ist auch mein Traum. Machen wir sie also zu einem Tor, das Eurasien und den Pazifik miteinander verbindet […] Wladimir, wir gehören beide ein und derselben Generation an. Lass uns deshalb den Mut aufbringen, uns zu unserer Verantwortung zu bekennen. Lass uns der jungen Generation eine solche Welt hinterlassen, in der unsere beiden Länder ihr gewaltiges Potential realisieren […] Lass uns Schluss machen mit jener unnormalen Situation, die nunmehr 70 Jahre anhält, und uns gemeinsam eine neue Ära der russisch-japanischen Beziehungen beginnen, die weitere 70 Jahre dauern möge.“
Es waren Sätze wie diese, formuliert von Japans Premier Shinzō Abe Anfang September auf dem Östlichen Wirtschaftsforum in Wladiwostok, die aufhorchen ließen. Sollte nach all den Jahren verstockten Gegeneinanders endlich Bewegung in die russisch-japanischen Beziehungen kommen? Würden Moskau und Tokio gut sieben Jahrzehnte nach Kriegsende tatsächlich Frieden schließen, ihre Territorialstreitigkeiten beilegen und damit den Grundstein für gutnachbarschaftliche Beziehungen legen, von denen nicht nur die Länder der Region profitierten?
Shinzō Abe jedenfalls scheint dazu wild entschlossen zu sein. Seit geraumer Zeit bemüht er sich um ein gutes persönliches Verhältnis zu Russlands Nummer Eins. Gut ein Dutzend Mal hat er sich inzwischen mit Putin getroffen, öfter als mit US-Präsident Obama.
Kernstück der „Charme-Offensive“ des japanischen Premiers: ein sogenannter 8-Punkte-Plan zur Förderung innovativer Industrien in Russland. Bereits während seiner ersten Amtszeit (2006–2007) war Abe mit entsprechenden Vorschlägen an Putin herangetreten. Nach seiner Wiederwahl (2012) wurden diese aktualisiert und in Sotschi im Mai 2015 als 8-Punkte-Plan erstmals einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert.
Abes Vorschlag einer „Innovationspartnerschaft“ ist freilich nicht nur wirtschaftlich motiviert. Es geht auch um große Politik: nicht nur die Schaffung günstiger Voraussetzungen für die Lösung des sogenannten Problems der Nördlichen Territorien (Was für Tokio bislang bedeutet: Rückgabe der von der Sowjetunion 1945 „widerrechtlich annektierten“ vier südlichen Kurileninseln Iturup, Shikotan, Kunashir und Habomai an Japan), sondern auch und vor allem die zügige Entkrampfung des bilateralen Verhältnisses angesichts eines sich dramatisch verändernden Sicherheitsumfeldes.
Wie ernst es ihm damit ist, machte Abe am Vorabend des Wladiwostok-Forums deutlich, als er seinen Wirtschaftsminister Hiroshige Seko in Zweitfunktion zum „Russland-Minister“ machte, dessen zentrale Aufgabe darin besteht, in enger Zusammenarbeit mit dem Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats Shōtarō Yachi den 8-Punkte-Plan des Premiers mit Leben zu erfüllen. Erste Ergebnisse sollen bis Mitte Dezember vorliegen, wenn Russlands Präsident in Abes Heimatpräfektur Yamaguchi zu Gast sein wird.
Tokios ernsthaftes Interesse an guten Beziehungen zu Moskau ist wesentliches Ergebnis eines langjährigen sicherheitspolitischen Umdenkens, das Ende 2013 in Japans erster Nationaler Sicherheitsstrategie gipfelte. Ihr Kern: Die neue aufstrebende Weltmacht sei China; mit ihr müsse man sich künftig zentral auseinandersetzen, wobei die alternde Weltmacht USA nur bedingt eine Stütze sein werde. Japan brauche daher nicht nur effektive Streitkräfte und solide wehrtechnische Kapazitäten, sondern müsse auch eine aktive Außen- und Sicherheitspolitik basierend auf guten Beziehungen, vor allem zu wichtigen regionalen Akteuren betreiben.
In der Tat ist das Verhältnis Japans zu China ein widersprüchlich-vielschichtiges. Die Fixierung auf den großen Nachbarn ist allgegenwärtig, das Meinungsspektrum hochgradig zersplittert: Während die Einen davon überzeugt sind, an China führe kein Weg vorbei, man müsse sich daher arrangieren und das (wirtschaftlich) Beste aus der Situation machen, warnen Andere, eine zu starke Konzentration auf das Reich der Mitte blockiere Japan, beraube es seiner traditionellen Innovationsfähigkeit. Derartige Rufer einigt eine tief sitzende Skepsis gegenüber der chinesischen Kultur, aus deren Bannkreis man sich endlich befreien müsse.
Seinen extremsten Ausdruck findet diese Skepsis in einer sehr eigenwilligen Sicht auf die jüngere japanisch-chinesische Geschichte: Der von Japan im vergangenen Jahrhundert gegen China (und andere) geführte Krieg sei keine „Aggression“, sondern ein „Befreiungsfeldzug“ gewesen, von dem nicht nur viele Chinesen profitiert hätten; ein „Massaker von Nanking“ (1937) habe es nie gegeben; das Tokioter Tribunal (1946–1948) – ein typischer Fall von „Siegerjustiz“; Japans vielgerühmte Nachkriegsverfassung sei dem Land aufgezwungen worden, ihre Revision sowie ein neues „Geschichtsbewusstsein“ seien nötig, um die Japaner von „überflüssigem Schuldbewusstsein“ zu befreien.
Marginale Ansichten? Keineswegs! In der Regel werden sie von führenden Intellektuellen und einflussreichen Meinungsmachern geäußert. Etwa von Shintarō Ishihara (geboren 1932), langjähriger Gouverneur von Tokio, Kulturkritiker und Bestsellerautor (Das Japan, das Nein! sagen kann,1989, Genie, 2016). Oder Professor Emeritus Kanji Nishio (geboren 1934), Japans führender Nietzsche- und Schopenhauer-Experte, Bestsellerautor (Geschichte des Volkes, 1999) und Gründer des Vereins zur Erstellung neuer Geschichtslehrbücher. Oder Toshio Motoya (geboren1943), schwerreicher Bauunternehmer, politischer Strippenzieher und Verleger. Oder General a.D. Toshio Tamogami (geboren 1948), nach seiner Entlassung als Stabschef der Japanischen Luftselbstverteidigungsstreitkräfte wegen Veröffentlichung geschichtsrevisionistischer Essays (2008) unter anderem Gründungsvorsitzender der rechtskonservativen Gruppierung Halte durch, Japan! (nippon ganbare), die insbesondere 2012 mit Protestaktionen gegen chinesische Proteste im Zusammenhang mit der von Gouverneur Ishihara vorangetriebenen „Nationalisierung“ der im Ostchinesischen Meer liegenden Senkaku-Inseln (von den Chinesen Diaoyu-Inseln genannt & beansprucht) in Erscheinung getreten ist. Oder Satoru Mizushima (geboren 1949), Filmemacher (Die Wahrheit über Nanking, 2007), Journalist (Kanal Sakura) und Gründungsmitglied von Halte durch, Japan!
Weniger lautstark als Nippon Ganbare, dafür aber extrem gut vernetzt und äußerst einflussreich: die 1997 gegründete, zwischen 2001 und 2015 vom ehemaligen Obersten Richter Japans Toru Miyoshi geleitete, gut 38.000 Mitglieder zählende nationalistisch-religiöse Lobbyorganisation Japankonferenz. Ihrer sogenannten Parlamentarischen Liga gehören ein Drittel aller Abgeordneten sowie mehr als die Hälfte aller Regierungsmitglieder an. Darunter neben Premier Abe (geboren1954) auch Japans neuer politischer Shooting Star Tomomi Inada (geboren 1959), im ersten Kabinett Abe Ministerin für Kulturpropaganda, später knapp zwei Jahre Vorsitzende des einflussreichen Politischen Forschungsrates der regierenden LDP, seit August 2016 Verteidigungsministerin und Abes Wunschnachfolgerin im Amt des Ministerpräsidenten.
Die gelernte Juristin steht für eine neue Generation japanischer Politikerinnen und Politiker, für die es offensichtlich keine historischen Tabus gibt. Der Zweite Weltkrieg gilt ihnen als ein „Phänomen“, das neu beschrieben werden müsse. Viele Junge scheinen leidenschaftliche Revisionisten zu sein, bereit, von einer „Rückkehr zu staatlicher Normalität“ nicht nur zu träumen, sondern aktiv dafür zu streiten.
Nach Meinung Dmitrij Strelzows, führender Japan-Experte des Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen, werde es Russland mit dieser neuen Generation leichter haben als mit der alten: Der Zukunft zugewandt dürfte diese eher bereit sein, die Ergebnisse des zweiten Weltkriegs anzuerkennen, mit anderen Worten: nicht länger die leidige „Inselfrage“ zu stellen … Angesichts der oben beschriebenen Verhältnisse eine gewagte These.
Freilich nicht so gewagt wie die massenmedial verbreitete Ansicht, Japan habe gar keine andere Wahl, als mit Russland zu kooperieren: China und Russland schmiedeten an einem neuen, eurasischen Block; der Stern der USA sei am Sinken; das japanisch-chinesische Verhältnis spitze sich dramatisch zu; vor diesem Hintergrund bleibe Japan nur die „russische Option“, wolle es nicht endgültig marginalisiert werden.
Interessanterweise sind es gerade China-Kenner, die vor einer derartigen Sicht auf die Dinge warnen. So Wasilij Kaschin vom renommierten Moskauer Fernost-Institut: „Wir müssen verstehen, dass Japan eine Schlüsselrolle in unserem Bemühen um diversifizierte Außenbeziehungen zukommt.“ Was Moskau benötige, sei eine klare, einheitliche Japan-Strategie. Dies umso mehr als China in seinen Beziehungen zu Russland inzwischen eine eher abwartende Haltung einnimmt und sich viele russische Hoffnungen, die es insbesondere nach den ukrainischen Ereignissen mit Blick auf Peking gegeben habe, nicht erfüllt hätten.
Unbestritten: Russland muss sowohl seine China- als auch seine Japan-Politik neu vermessen. Und schärfer als je zuvor wird sich dabei die Frage stellen: Wie umgehen mit Pekings traditioneller Japanophobie? Und wie mit der wachsenden Sinophobie Tokios?
Ja, Japan möchte mit seiner „neuen“ Russland-Politik eine weitere Vertiefung des russisch-chinesischen Miteinanders verhindern. Und Russland sollte dies durchaus als Chance begreifen, die Umklammerung durch China wenigstens etwas zu lockern.
Gleichwohl wäre es töricht, die russisch-japanischen Beziehungen gegen Peking in Stellung zu bringen. Das Schlüsselwort lautet Trilateralismus: Vermehrte Uhrenvergleiche zwischen Moskau, Peking und Tokio, die dazu beitrügen, jene geopolitischen Spielräume zu eröffnen, die es zur Errichtung einer alternativen eurasischen Sicherheitsarchitektur bräuchte.
Wie weit man davon noch entfernt ist, haben die unlängst durchgeführten russisch-chinesischen Seemanöver Gemeinsame See 2016 gezeigt: Die bis dato größten ihrer Art und ersten im explosiven Südchinesischen Meer. Nur wenige Wochen nach dem Spruch des Haager Schiedshofes und zeitgleich mit der Ankündigung Tomomi Inadas, ihr Land werde demnächst in der Region gemeinsame Patrouillenfahrten mit den USA durchführen.
Schlagwörter: China, Geschichtsrevisionismus, Japan, Nachkriegsverfassung Japans, Peter Linke, Russland, Sicherheitsstrategie, Territorialstreitigkeiten, Trilateralismus