von Andrei Trenin / Dmitri Trenin, Moskau
Das anhaltende tiefe Misstrauen zwischen Russland und dem Westen erschwert es, die Interessen und die Politik der jeweils anderen Partei richtig zu deuten. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Krise in Syrien, die zum Inbegriff der Komplexität der aktuellen Weltpolitik geworden ist. Jüngste Gespräche zwischen dem russischen Außenminister, Sergei Lawrow, und US-Außenminister John Kerry scheinen zu einer Annäherung zwischen Moskau und Washington bezüglich eines koordinierten militärischen Vorgehens gegen den „Islamischen Staat“ (IS) geführt zu haben. Doch selbst wenn es zu einer Vereinbarung kommt, wird die Kooperation wahrscheinlich eher taktisch als strategisch sein. Und auch in diesem Fall ist Erfolg nur möglich, wenn klar ist, was der potenzielle Partner vorhat.
Als Russland am 30. September 2015 seinen Militäreinsatz in Syrien begann, war die Welt schockiert: Niemand hatte dieses Eingreifen erwartet. Moskau erklärte, den IS bekämpfen zu wollen, verfolgte jedoch in erster Linie das Ziel, die angeschlagenen Truppen von Präsident Baschar al-Assad zu unterstützen. Diese standen kurz davor, von den Rebellen – moderaten und weniger moderaten – besiegt zu werden. Es war nicht klar, welche Militärstrategie Wladimir Putin genau verfolgte, insbesondere, ob Russland auch Bodentruppen entsenden würde, um die Wirksamkeit seiner Luftangriffe zu steigern. Auch die politischen Strategien des Kremls mit Blick auf Assad, den Iran und die syrische Opposition wurden heftig diskutiert. Heute, ein Jahr später, herrscht in einigen Punkten Klarheit, andere geben Analysten allerdings immer noch Rätsel auf.
Fest steht vor allem, dass Russland mit seinem ersten direkten militärischen Eingreifen im Nahen Osten eine unmissverständliche Botschaft an die Vereinigten Staaten und den Westen gesendet hat, die da lautet: Wir melden uns als politisch-militärische Weltmacht zurück und erwarten, als solche behandelt zu werden. Zugleich hat es den Arabern, Persern, Türken und Israelis durch sein Vorgehen klargemacht, dass Russland als Akteur in der Region nicht außer Acht gelassen werden darf. Dies steht im Einklang mit dem wichtigsten außenpolitischen Ziel Putins, das Land 25 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder zur anerkannten Weltmacht zu machen.
Russland will die Einheit Syriens und dessen territoriale Integrität bewahren. Die Antwort auf die Frage nach der passenden Regierungsform und Führungsperson müsste in einem umfassenden politischen Dialog geklärt werden, der von Moskau und Washington moderiert wird. Russland und das Assad-Regime stellen keine untrennbare Einheit dar. Vielmehr will Russland einen Übergang hin zu einer zukunftsfähigen Regierung, auf die sich alle wichtigen Gruppen, einschließlich der Alawiten, einigen können. Darüber hinaus möchte das Land seine eigenen Interessen wahren, was derzeit eine Marinebasis, einen Luftwaffenstützpunkt und einen gewissen politischen Einfluss in Syrien umfasst.
Russland schätzt Assad nicht dafür, was er ist, sondern dafür, wogegen er steht: gegen Farbenrevolutionen im Stile des Arabischen Frühlings, die Moskau als äußerst destabilisierend empfindet, gegen den IS und andere Dschihadisten sowie gegen die Einmischung des Westens. Im Gegensatz zu anderen autoritären Regimen im Nahen Osten, die von Revolutionen, ausländischen Interventionen und Bürgerkriegen zerstört wurden, war Damaskus auch nach fünf Jahren Krieg noch nicht am Boden. In Putins Augen hatte sich Assad die Hilfe von Russland daher redlich verdient. Wäre Assad 2015 gestürzt worden, wäre Syrien heute wohl ein Kalifat. Moskaus Eingreifen hat dies verhindert.
Es ist mehr als erstaunlich, welche Kehrtwende die USA, Europa und kürzlich auch die Türkei in ihrer Haltung zu Assad vollzogen haben. Heute besteht die allgemeine Bereitschaft, ihn noch geraume Zeit an der Macht zu halten. Was die syrische Opposition angeht, so ist Russland nie von einer Lösung des Konflikts ausschließlich zu Assads Bedingungen ausgegangen. Bisher hat Russland jedoch keinen etablierten und glaubwürdigen Partner gefunden, der ernsthafte politische Verhandlungen mit Assad führen könnte. Die Opposition ist zersplittert und agiert uneinheitlich; inzwischen ist sie zudem in hohem Maße von Dschihadisten der Al-Nusra-Front abhängig, die seit Kurzem unter dem neuen Namen „Dschabhat Fatah asch-Scham“ firmiert. Sie erweist sich im Hinblick auf eine Lösung des Konflikts als größerer Hemmschuh als ein sturer, widerspenstiger Assad.
Russland ist es zudem gelungen, sich in der Gesamtregion mit einer Reihe schiitischer Akteure (Damaskus, Teheran, Bagdad, Hisbollah) gut zu stellen, ohne sich in den Machtkampf zwischen Sunniten und Schiiten zu verstricken. Zudem hat Russland seine historischen Beziehungen zu Ägypten – dem wichtigsten sunnitischen Staat – intensiviert, einen komplexen und anhaltenden Dialog mit Saudi-Arabien aufgenommen, es geschafft, sich nicht mit Jordanien zu überwerfen und sich darüber hinaus Aufmerksamkeit und auch einen gewissen Respekt am Golf verschafft. Und auch die siebenmonatige Eiszeit zwischen Russland und der Türkei, ausgelöst durch das Abschießen eines russischen Kampfbombers im November 2015 durch die Türkei, endete im August 2016 mit der Entschuldigung durch Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Die Beziehung zwischen den beiden Ländern ist zwar weiterhin fragil, aber wieder beherrschbar. Moskaus Talent, die Nähe zu seinen Rivalen und sogar Feinden, wie etwa dem Iran und Israel, nie zu verlieren, muss man schlicht als phänomenal bezeichnen.
Doch all das bedeutet nicht, dass Russland durch sein Engagement in Syrien und im gesamten Nahen Osten darauf abzielt, in der Region die Rolle der USA zu übernehmen oder die neue Schutzmacht zu werden. Vielmehr geht es dem Kreml darum, sein Hauptziel zu erreichen und als bedeutender globaler Akteur anerkannt zu werden. Offensichtlich ist auch, dass Russland seine wieder erstarkte „harte Macht“ und seine politische Entschlossenheit maximieren will, um sich in den ölreichen muslimischen Ländern nahe seinen eigenen Grenzen eine gute Position zu sichern. Und natürlich geht es darum, Terroristen und Dschihadisten zu vernichten, von denen viele aus Russland und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) stammen und die eine Bedrohung für Russland darstellen könnten.
Konfrontation steht nicht im Mittelpunkt der Westpolitik Russlands im Nahen Osten, auch wenn der Einsatz der russischen Luftwaffe das Monopol der USA und ihrer Verbündeten auf ein militärisches Eingreifen in der Region beendete und damit die Weltordnung nach Ende des Kalten Krieges erneut umgestürzt hat. Russland ist ernsthaft daran interessiert, diplomatisch und militärisch mit dem Westen zu kooperieren, allerdings auf Augenhöhe. Bisher können sich in den USA und andernorts allerdings nur wenige dafür erwärmen. Solange sich dies nicht ändert, wird die Beziehung zwischen Russland und dem Westen wohl weiterhin angespannt und vorwiegend taktisch geprägt bleiben.
Auf die Frage, ob es für Syrien und den Westen besser wäre, zu akzeptieren, dass es Assad mithilfe Russlands und des Irans gelungen ist, den Sieg zu erringen, gibt es eine klare Antwort: Militärisch kann Damaskus nicht gewinnen. Politisch ist in Syrien keine politische Einigung zu erwarten, solange die Assad-Familie an der Macht ist. Und auf diplomatischer Ebene ist abzusehen, dass sich die regionalen Kräfte im Nahen Osten, wie die Türkei und Saudi-Arabien, nicht komplett aus Syrien heraushalten werden, selbst wenn der Westen sich hierfür entscheiden sollte – was sehr unwahrscheinlich ist. Das heißt, dass eine wie auch immer geartete Lösung des Konflikts in dem geschundenen Land ohne die Unterstützung einer kritischen Masse Beteiligter undenkbar ist, wozu inländische Gruppierungen, die für den politischen Prozess Verantwortlichen – USA und Russland – sowie die regionalen Akteure, darunter der Iran und Saudi-Arabien, gehören. Zum jetzigen Zeitpunkt könnte der Westen die Gruppen, die er als moderate syrische Opposition bezeichnet, dabei unterstützen, in Genf als glaubwürdiger Gesprächspartner aufzutreten und einen Deal mit Assad, den Kurden und anderen auszuhandeln. Und genau das sollte er auch tun.
Dmitri Trenin leitet die Moskauer Dependance der Carnegie Stiftung; Andrei Trenin ist – ebenfalls in Moskau – Jurist.
Schlagwörter: Andrei Trenin, Assad, der Westen, Dmitri Trenin, Russland, Syrien, Türkei, USA