19. Jahrgang | Nummer 19 | 12. September 2016

Der Westen & Russland – zum Diskurs

von Wolfgang Schwarz

Es droht eine neuartige, gefährliche Rüstungsspirale.
Frieden in Europa, das Erbe der Entspannungspolitik […]
Jetzt steht alles wieder auf dem Spiel.

Frank-Walter Steinmeier

Diplomaten pflegen gemeinhin eine zurückhaltende, eher vage Sprache, die häufig vieles offen lässt. Das gilt für die hier zitierte Lagebeschreibung des deutschen Außenministers allerdings nicht, und die ist dem Ernst der Lage auch durchaus angemessen.
Vor einigen Wochen, im Blättchen 13/2016, stand daher an dieser Stelle ein Plädoyer dafür, einer weitere Verschärfung des Verhältnisses zwischen dem Westen und Russland sowie der Gefahr ungewollter militärischer Zwischenfälle und dem Risiko ihrer Eskalation durch Wiederbelebung des aus den Zeiten des Kalten Krieges stammenden Konzeptes der Vertrauens- und Sicherheitsbildenden Maßnahmen (VSBM) entgegenzuwirken.
Am 26. August nun veröffentlichte Frank-Walter Steinmeier auf dem internationalen Medienportal Project Syndicate einen Namensbeitrag mit dem Titel „Reviving Arms Control in Europe“, der in eben diese Richtung zielt. Eine deutsche Fassung ist im Online-Magazin IPG. Internationale Politik und Gesellschaft nachzulesen.
Steinmeier verweist darauf, dass die NATO seit dem Harmel-Bericht von 1967 gegenüber Russland auf „die Doppelstrategie von Deterrence und Détente“ setze und dies auf dem jüngsten NATO-Gipfel in Warschau bekräftigt habe, und betont: „Nur: Abschreckung ist konkret, und für alle sichtbar. Aber auch das Angebot zur Kooperation muss konkret sein!“ Dem ist schwerlich zu widersprechen, auch wenn man natürlich fragen könnte, warum diese Erkenntnis erst jetzt kommt, nachdem nahezu sämtliches sicherheitspolitische Porzellan zwischen Moskau und dem Westen bereits zerschlagen ist. Doch da es in der NATO Länder und Kräfte gibt (siehe zum Beispiel den Beitrag von Sarcasticus in dieser Ausgabe), denen dies noch lange nicht weit genug geht, soll hier uneingeschränkt gelten: Besser jetzt als noch später.
Konkret wird Steinmeier. Seiner Auffassung nach müsste ein „Neustart der konventionellen Rüstungskontrolle […] fünf Bereiche abdecken, und zwar durch „Vereinbarungen, die:

  • regionale Obergrenzen, Mindestabstände und Transparenzmaßnahmen definieren (insbesondere in militärisch sensiblen Regionen, zum Beispiel im Baltikum),
  • neuen militärischen Fähigkeiten und Strategien Rechnung tragen (wir reden heute weniger von klassischen, schweren Armeen als von kleineren, mobilen Einheiten, also sollten wir zum Beispiel Transportfähigkeit mitbeachten),
  • neue Waffensysteme einbeziehen (zum Beispiel Drohnen),
  • echte Verifikation erlauben: rasch einsetzbar, flexibel und in Krisenzeiten unabhängig (zum Beispiel durch die OSZE),
  • auch in Gebieten anwendbar sind, deren territorialer Status umstritten ist.“

Letzteres meint offenbar die Zonen der sogenannten frozen conflicts wie Transnistrien, Abchasien, Südossetien und letztlich auch die Ostukraine und die Krim als besondere Gefahrenherde für die regionale wie auch die europäische Sicherheit. Für keinen dieser Konflikte sind Lösungsansätze in Sicht, die für die jeweiligs involvierten Hauptparteien und die gegebenenfalls hinter diesen stehenden Mächte akzeptabel wären, soweit die Akteure derzeit überhaupt an einer Konfliktlösung interessiert sind. Gerade deswegen dürften diese Regionen bei möglichen künftigen Regelungen, wie Steinmeier sie jetzt vorgeschlagen hat, nicht „außen vor“ bleiben. Im Übrigen sollte auch für Russland ein grundsätzliches Interessen angenommen werden dürfen, diese Konflikte nicht vom Aggregatzustand frozen in military umschlagen zu lassen.
Nur zustimmen kann man Steinmeiers abschließendem Diktum: „Keiner gewinnt, alle verlieren, wenn wir uns in einem neuen Rüstungswettlauf gegeneinander erschöpften. Mit einem Neustart der Rüstungskontrolle können wir ein konkretes Kooperationsangebot machen, und zwar an alle, die für Europas Sicherheit Verantwortung tragen wollen. Es ist an der Zeit, das Unmögliche zu versuchen …“
Allerdings: Ein paar Haare in der Suppe sind trotzdem nicht zu übersehen.
So ist unverständlich, warum der Minister den von Russland unmittelbar nach dem NATO-Gipfel von Warschau unterbreiteten Vorschlag nicht aufgegriffen oder zumindest erwähnt hat, „wie man“, so der Spiegel, „das Risiko gefährlicher militärischer Zwischenfälle bei Flügen über der Ostsee verringern könne, auch indem man die Funksender einschalte“. Russland bot an, „in Moskau ein Treffen hochrangiger Militärexperten beider Seiten einzuberufen, um dort über die Einzelheiten zu reden.“
Zweifelhaft erscheint darüber hinaus, ob es zielführend ist, wenn Steinmeier die oben zur Kooperation ausgestreckte Hand ein Stück tiefer durch einen Tritt gegen das Schienbein des Ansprechpartners „flankiert“ – in Gestalt von wiederholten Anschuldigungen wegen gravierenden Fehlverhaltens, das man bei diesem ebenso konsequent benennt, wie man es auf der eigenen Seite ausblendet.
Russland habe mit „der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim“, so Steinmeier; „die Grundprinzipien der europäischen Friedensarchitektur in Frage gestellt“.
Welche Friedensarchitektur mag der Minister da im Auge haben?
Diejenige, die beim völkerrechtswidrigen Agieren der NATO auf dem Balkan, bei den Bomben auf Serbien und der nachfolgenden Separation des Kosovo – ganz ohne Plebiszit übrigens – noch gar nicht zur Debatte stand? (Für die seinerzeitigen deutschen Beteiligungen dürfte der damalige Kanzleramtschef Steinmeier mitentscheidend gewesen sein.)
Oder diejenige Friedensordnung, deren maßgebliches Merkmal John J. Mearsheimer und Stephen M. Walt in der aktuellen Ausgabe von Foreign Affairs mit Blick auf Washington dahingehend beschreiben, dass statt nach 1990 „freundschaftliche Beziehungen zu Russland“ zu pflegen, die NATO ausgeweitet und russische Interessen ignoriert wurden?
Auf einer vergleichbaren Linie liegt auch Steinmeiers Vorwurf, dass der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE), „der nach 1990 zehntausende Panzer und schwere Waffen in Europa vernichten half, […] seit Jahren von Russland nicht mehr umgesetzt“ werde. Das ist richtig. Und doch wieder nur die halbe Wahrheit. Denn Moskau hatte das „Übereinkommen über die Anpassung des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa“ von 1999, den sogenannten adaptierten KSE-Vertrag (A-KSE), bereits ratifiziert, als die NATO-Staaten dies unisono verweigerten …

*

Über die Bewertung des Steinmeier-Vorstoßes und dessen Realisierungschancen sprach ich dieser Tage mit Wolfgang Zellner, stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und ein seit Jahrzehnten ausgewiesener Kenner europäischer Sicherheitsfragen sowie insbesondere der OSZE.

Herr Zellner, Ihre Bewertung der Steinmeier-Initiative?
Wolfgang Zellner: Die ist ganz offensichtlich von der vom Minister bereits mehrfach öffentlich artikulierten Sorge getragen, dass bei der von der NATO revitalisierten Doppelstrategie von Abschreckung und Dialogbereitschaft der zweite Aspekt – und dabei insbesondere die Rüstungskontrolle – unter die Räder kommen könnte.

Liegt sie dort nicht längst? Auch Deutschland hat auf diesem Feld seit über einem Jahrzehnt kein nennenswertes Engagement mehr gezeigt …
Zellner: Das stimmt so nicht. Deutschland hat in diesem Jahr umfangreiche Vorschläge zur Modernisierung des „Wiener Dokuments 2011 der Verhandlungen über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen“ (WD 11) eingebracht. Und es gibt durchaus noch Restmechanismen, in die sowohl der Westen als auch Russland eingebunden sind und die noch funktionieren. Neben WD 11 etwa der Open Skies-Vertrag. Steinmeier will meines Erachtens verhindern, dass diese Elemente auch noch eliminiert werden könnten, und er will sie durch neue Vereinbarungen ergänzen und absichern.

Die Spannungen im Verhältnis zu Russland sind erheblich, und auf dem NATO-Gipfel in Warschau ist auch mit deutscher Zustimmung eine weitere Verstärkung der militärischen Präsenz der NATO nahe Russland beschlossen worden. Wie realistisch sind da „regionale Obergrenzen“ und „Mindestabstände […] in militärisch sensiblen Regionen, zum Beispiel im Baltikum“, wie sie der Minister jetzt angeregt hat?
Zellner: Ablehnende Stimmen aus dem Baltikum, aus Regierungskreisen, kamen ja quasi reflexartig, der litauische Außenminister hat sich sehr kritisch geäußert. Dort fürchtet man, dass die in Warschau verabschiedeten zusätzlichen NATO-Verteidigungspotenziale zur Disposition gestellt werden könnten, bevor sie de facto überhaupt existieren. Darüber hinaus fehlen derzeit in mehrfacher Hinsicht die Voraussetzungen, um über die Steinmeier-Vorschläge in irgendeiner Form in Verhandlungen einzutreten.

In mehrfacher Hinsicht?
Zellner: Von russischer Seite liegen klare Statements vor, die besagen: Keine Verhandlungen mit dem Westen, solange der am Sanktionsregime festhält. Und innerhalb des Westens gibt es keine einheitliche Position. Der US-Botschafter bei der OSZE, Daniel Baer, hat am Rande des Außenministertreffens der Organisation in Potsdam Anfang des Monats den Steinmeier-Vorschlägen eine klare Absage erteilt, auch wenn Baers Position nicht unbedingt deckungsgleich mit der des State Departments sein muss. Derzeit wird seitens des Auswärtigen Amtes zunächst einmal sondiert, welche NATO-Staaten und auch welche neutralen Staaten als Partner für den Steinmeier-Ansatz überhaupt zu gewinnen wären.

Und warum dann überhaupt dieser Vorstoß?
Zellner: Meines Erachtens, um das Thema wieder ins internationale Gespräch zu bringen und um eine sich seit Ausbruch des Ukraine-Konflikts verstärkende gegenläufige Entwicklung nicht völlig dem Selbstlauf zu überlassen.