von Ulrich Busch
Wir kennen die im Titel anklingende Metapher Hegels und wissen sie richtig zu deuten. Wir verstehen aber auch, dass die praktische Um- und Neugestaltung einer Gesellschaft, ihre Transformation, theoretischer Vorleistungen bedarf. Die Eule kann ihren Flug also nicht erst in der abendlichen Dämmerung antreten, sie muss schon im Morgengrauen fliegen, auch wenn dieser morgendliche Flug im Lichte der aufgehenden Sonne schlecht navigiert und mehr suchend als zielgenau erfolgt. Dieser Problematik widmete sich der Sozialwissenschaftler Jan Hoff, indem er in seinem Buch „Befreiung heute“ umfassend darlegt, welche theoretischen Ansätze, Positionen und geistigen Strömungen es gegenwärtig gibt, die geeignet sind, den politischen Aktivitäten zur Überwindung des Kapitalismus als ideelle Orientierung zu dienen. Der wichtigste Denker, auf den sich die antikapitalistischen Bewegungen bis heute stützen können, ist, so Hoff, „immer noch Marx“. Mithin dreht sich das Buch wesentlich um die Marxsche Theorie, um ihren Inhalt und um ihre Auslegung, ihre unterschiedliche Interpretation gestern und heute. Bei der Behandlung seines Themas ist der Verfasser um Vollständigkeit bemüht. Dies ist zu würdigen, fordert dem Leser aber einiges ab, da hierfür eine kaum zu übersehende Anzahl von Autoren unterschiedlichster Provenienz und fast 1000 Einzelquellen herangezogen werden. Die einzige Richtung, der er jeglichen produktiven Beitrag zur Überwindung des Kapitalismus und zur Gestaltung der zukünftigen Gesellschaft, des „freiheitlichen Sozialismus“, abspricht, ist der orthodoxe oder traditionelle Marxismus-Leninismus. Dieser dient ihm lediglich als Referenzfolie, um die emanzipatorischen Positionen, die insgesamt durchaus ein „heterogenes Feld“ theoretischer und politischer Überlegungen bilden, vorzustellen, sie anhand repräsentativer Äußerungen umfassend zu referieren und vorsichtig zu werten.
Die wichtigste Strömung dieser Art, mit der sich schon Marx auseinandergesetzt hat und die bis heute im linken Denken eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, ist der Anarchismus. Hoff analysiert frühe, klassische (Proudhon, Bakunin, Kropotkin, Most und andere) und aktuelle (Agnoli, Graeber und andere) anarchistische Positionen und benennt deren Hauptmerkmale, so zum Beispiel die Überzeugung, dass „die Emanzipation im Alltagsleben der Menschen beginnen“ müsse. Er zeigt aber auch, dass sich die „Occupy-Bewegung“ der Jahre 2010/12 als anarchistische Aktion zwar gegen die Herrschaft der Finanzoligarchie wendete, gegen die Macht der Banken und so weiter, und dies teilweise mit fragwürdigen Argumenten, letztlich aber nicht konsequent „antikapitalistisch“ agiert hat. Theoretisch blieb sie letztlich dem Kapitalismus verhaftet. Eine andere Richtung verkörpert der postmarxistische Kommunismus (Badiou, Žižek und andere), der teils im Leninismus, teils im Maoismus wurzelt. Aus den 1968er Jahren stammt der bis heute aktive Communisation-Ansatz, als libertär- und linkskommunistische Strömung. Es folgen der auf einen „Marktsozialismus“ abstellende Assoziationismus und der Postoperaismus, letzterer als eine postfordistische Strömung, die vor allem von Hardt und Negri inspiriert wurde. Daneben etablierte sich das als internationales Theorieprojekt Open Marxism, welches mit immer wieder originellen und neuen Marx-Interpretationen aufwartet. Auch in Deutschland als Denkströmung sehr verbreitet ist die an Ernst Blochs „konkrete Utopie“ anknüpfende Philosophie der Praxis (Müller und andere). Besonderes Augenmerk verdient auch die Neue Marx-Lektüre (Heinrich und andere) als eine inzwischen sowohl im akademischen Milieu fest verankerte Richtung als auch „auf der Straße“ bekannt gewordene Haltung gegenüber Marx‘ ökonomischer Theorie.
Alle diese theoretischen Ansätze und geistigen Strömungen, so heterogen sie auch sind, verstehen sich als „individualistisch“, „antiautoritär“ und „sozialistisch“. Ihre Gemeinsamkeit besteht in ihrem Selbstverständnis als „emanzipatorische“ Bewegungen und in ihrer Abgrenzung gegenüber dem traditionellen Marxismus bzw. Marxismus-Leninismus staatssozialistischer Herkunft. Das große Verdienst von Jan Hoff besteht darin, diese Strömungen sorgfältig analysiert und klassifiziert sowie auf ihre historischen Wurzeln und Beziehungen untereinander abgeklopft, referiert und wissenschaftlich bewertet zu haben. Er bezieht dabei eine nüchterne, ja beinahe „objektivistische“ Position. Erst auf Seite 344 seiner Studie wagt er sich aus der Deckung und erläutert dem Leser seinen „eigenen Standpunkt“. Dieser lässt sich am besten mit dem Begriff „freiheitlicher Sozialismus“ umreißen. Dabei denkt er „die individuelle Autonomie des Einzelnen“ und „die kollektive Selbstbestimmung der assoziierten Produzenten“ in einem „engen Zusammenhang“, womit er an das Marxsche Emanzipationskonzept anzuschließen versucht. Dabei muss jedoch betont werden, dass Marx das Individuum und dessen Selbstbestimmung niemals gegen die Gesellschaft „ausgespielt“ hat, sondern immer deren Zusammengehörigkeit betonte, diese zugleich aber als eine vielfach vermittelte begriff. Die Distanz der hier entwickelten Position gegenüber dem traditionellen Marxismus kommt vor allem in der Zurückweisung jeglicher historischen Entwicklungslogik als „Notwendigkeit“ und sich zwangsläufig vollziehender „historischer Gesetzmäßigkeit“ zum Ausdruck. Ferner in der Ablehnung der Annahme, ein „klassenmäßig definiertes Kollektivsubjekt“ würde die sozialistische Transformation als „historische Mission“ im Interesse der gesamten Menschheit vollziehen. Hinzu kommt die anders geartete Krisenauffassung, die nicht in jeder Wirtschaftskrise eine existenzielle oder sogar „finale Krise des Kapitalismus“ (Sohn) erblickt, sondern dessen Anpassungsfähigkeit und Wandelbarkeit in Rechnung stellt.
Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel als Habilitationsschrift anerkannt. Das sollten die Leser wissen, bevor sie sich auf die mitunter etwas anstrengende Lektüre des umfänglichen Werkes einlassen. Leider fehlt ein Personenregister, um das opulente Buch auch als Nachschlagewerk nutzen zu können.
Jan Hoff: Befreiung heute. Emanzipationstheoretisches Denken und historische Hintergründe, VSA Verlag Hamburg 2016, 390 Seiten, 39,80 Euro.
Schlagwörter: Jan Hoff, Kapitalismus, Marx, Marxismus, sozialistische Transformation, Ulrich Busch