von Mario Keßler
Kurt Pätzold, der am 18. August 2016 im Alter von 86 Jahren starb, war das, was der Name des Professors einmal ausdrückte: ein Bekenner. Niemals ließ er Zweifel daran aufkommen, dass hier ein Marxist unter Klios Jüngern zugange war. Er war ein Wegbereiter der Erforschung des Mordes an den Juden. Neben einem überaus umfangreichen wissenschaftlichen Werk hinterließ er eine sehr lesenswerte Autobiographie: „Die Geschichte kennt kein Pardon“.
Am 3. Mai 1930 wurde er in eine Breslauer Arbeiterfamilie hineingeboren. Beide Eltern waren Mitglieder der Sozialistischen Arbeiterpartei, die sich damals als dritte Kraft vergeblich darum bemühte, Kommunisten und Sozialdemokraten in einer Einheitsfront gegen die erstarkende Nazibewegung zusammenzubringen. Die Eltern bewahrten Kurt Pätzold davor, unter den Einfluss der Hitler-Ideologie zu geraten.
1945 musste auch die antifaschistische Pätzold-Familie Breslau verlassen und ging nach Weimar. In Wickersdorf bei Rudolstadt besuchte der junge Kurt die einstige Reformschule, in der noch etwas vom Geist der Weimarer Republik lebendig war.
Das Studium der Geschichte, Philosophie und Ökonomie führte ihn ins nahe Jena. Danach verlangte die SED nach einem neuen Universitäts-Parteisekretär, und Kurt Pätzold übte die Funktion bis 1960 aus.
Wissenschaftlich arbeitete er von Beginn an ohne Scheuklappen. Dies zeigte sich schon in seiner Dissertation „Der Zeiss-Konzern in der Weltwirtschaftskrise“. Dieter Fricke, Erstgutachter der Schrift, war jedoch kein Freund Pätzolds, der 1963 nach Berlin wechselte – zunächst an die Akademie der Wissenschaften, 1965 an die Humboldt-Universität. Dort wirkte er zwischen 1973 und 1992 als Professor für Neuere deutsche Geschichte.
1973 habilitierte sich Kurt Pätzold mit einer Pionierarbeit über Antisemitismus und Judenverfolgung vom Januar 1933 bis zum August 1935, die zwei Jahre später als Buch erschien. Damit widmete er sich als einer der ersten deutschen Historiker diesem Thema, das zum Forschungsthema seines Lebens wurde, auch wenn er sich später mit anderen Problemen beschäftigte. Es waren Fragen, die ihn seither nicht mehr in Ruhe ließen: Was war Wahn und was Kalkül im Projekt einer „Endlösung der Judenfrage“? Entsprach diese barbarische Praxis der Logik imperialistischer Herrschaft oder wirkte sie ihr entgegen? Wer war Nutznießer des Mordes an den Juden? Wem war welche Schuld zuzumessen, den Naziführern, ihren Hintermännern, ihren Gefolgsleuten oder den „kleinen“ Profiteuren der „Arisierung“? Kurt Pätzold warnte davor, Rassismus und Antisemitismus als Ausgangs- und Endpunkt der Faschismusforschung zu nehmen. Er suchte den deutschen Faschismus und besonders den imperialistischen Krieg nicht nur als Folge von Einzelereignissen, sondern als soziale Totalität zu erfassen. Der Mord an den Juden und der „Generalplan Ost“, das Projekt zur totalen Ausbeutung Osteuropas, waren für Pätzold zwei einander ergänzende Komponenten faschistischer Herrschaft. Er betonte, das Hitler-Regime habe auf dem Weg zur Herrschaftskonsolidierung und -festigung erst die Arbeiterbewegung zerschlagen müssen, bevor es sich den Juden „zuwandte“. Deutungen, wonach der Judenmord dem Kampf gegen Kommunisten stets nachgeordnet gewesen sei, trat er jedoch entgegen. Den Faschismus-Begriff als analytische Kategorie verteidigte er gegen die Bezeichnung „Nationalsozialismus“ zur Erklärung des mörderischen Regimes.
Als Hochschullehrer bildete Pätzold eine Reihe von Historikern heran, darunter Wolf Gruner, der heute in den USA lehrt. Die „Abwicklung“ der DDR-Geschichtswissenschaft indes verlegte allen anderen seiner Schüler den Weg in eine dauerhafte wissenschaftliche Anstellung.
Der Umbruch von 1989 gab allerdings erstmals auch kritischen Stimmen öffentlich Raum, die auf einen unabgegoltenen Punkt in Kurt Pätzolds Leben hinwiesen: Er war 1968 maßgeblich an der zeitweiligen Relegation politisch missliebiger Studenten beteiligt, die kritische Fragen zum Einmarsch von Streitkräften des Warschauer Vertrages in die Tschechoslowakei gestellt hatten. Pätzold musste das Unrechtmäßige seines Tuns anerkennen, er tat es, zu spät, ohne Umschweife.
Doch nicht nur deshalb wurde er von der Universität verwiesen. Im Kündigungsschreiben der Präsidentin der Humboldt-Universität vom 21. August 1992 heißt es: „Noch in den 70-er Jahren gehen Sie in Ihren Arbeiten zum Faschismus ganz dogmatisch von der Faschismusformel der Kommunistischen Internationale vom Dezember 1933 aus.“ Gönnerhaft wurde ihm immerhin bescheinigt: „Die fachliche Qualifikation kann Ihnen [ungeachtet] aller doktrinären und propagandistischen Elemente in den Veröffentlichungen aus der Zeit bis 1989 nicht pauschal abgesprochen werden.“
Noch 2016 betonte Pätzold, mit der Faschismus-Definition der Komintern („Der Faschismus ist die offene, terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.“) seien Interpretationen abgewiesen worden „wie die derjenigen, die ihn als die Macht einer Clique politischer Abenteurer auf eigene Rechnung ausgaben, in ihm die Herrschaft des Kleinbürgertums zu erkennen glaubten oder ihn als Ausdruck und Sieg des Volkswillens missverstanden“. Jede Definition müsse von realen Sachverhalten abstrahieren und könne nur eine Kernaussage vermitteln. Gerade dies verpflichte die Historiker, und zumal die Marxisten unter ihnen, zur vertieften Forschungsarbeit. Diese leistete er wie kaum ein anderer.
Von seinen über drei Dutzend Buchveröffentlichungen seien nur die Geschichte der NDSAP sowie die Biographien zu Hitler und Rudolf Hess, die er zusammen mit Manfred Weißbecker schrieb, genannt. Als wüsste er, dass ihm die Zeit davonlief, arbeitete Kurt Pätzold bis zuletzt unermüdlich. Die Lektüre seiner Bücher ist trotz der oft bedrückenden Themen ein intellektuelles Erlebnis, wozu auch sein lebendiger Stil beiträgt, der niemals ins Klischee abgleitet. An Kurt Pätzolds Werk – diese Prognose sei gewagt – werden sich künftige Historiker des Faschismus noch lange orientieren.
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