von Wolfgang Kubiczek
Das Blättchen hat sich mehrfach dem Wiederaufbau der russischen Armee nach dem Zerfall der sowjetischen Streitkräfte und den seit knapp zehn Jahren verstärkten Bemühungen zu ihrer Modernisierung gewidmet. Dabei wurde die These vertreten, dass die russischen Rüstungsanstrengungen keine akute Bedrohung für den Frieden, die darauf ver(sch)wendeten Ressourcen angesichts der wirtschaftlichen Lage des Landes jedoch eine Gefahr für die Prosperität Russlands selbst darstellen. In den letzten zirka zweieinhalb Jahren sind überraschende Entwicklungen eingetreten, die zum einen von der russischen Armee verlangten, ihre neue, im Zuge der Militärreform erreichte Qualität und Einsatzbereitschaft praktisch zu beweisen, und zum anderen der NATO signalisierten, dass man mit der russischen Armee als militärischer Kraft auch unterhalb der Kernwaffenschwelle wieder rechnen muss.
Zu den neuen Entwicklungen gehört die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation. Über die politische Wertung dieses Vorgangs sind gefühlt Tausende von Artikeln und Beiträgen erschienen, wobei sich das Meinungsspektrum zwischen „rechtmäßige Wiedervereinigung mit Russland“ und „völkerrechtswidrige Annexion“ bewegt. Dem soll kein weiterer hinzugefügt werden. Dieser Beitrag bewegt sich in der Logik der Bewertung der russischen Militärreform sowie der Modernisierung der russischen Streitkräfte, beschränkt sich folglich auf politisch-militärische Fragestellungen.
Militärstrategische Bedeutung des Schwarzmeerraums
Von Anfang an begründete Moskau seine Krim-Operation mit der militärstrategischen Bedeutung der Halbinsel. Wladimir Putin 2014: Wir konnten nicht zulassen, dass unser Zugang zum Schwarzen Meer wesentlich eingeschränkt wird, auf der Krim letztlich NATO-Truppen stationiert werden und sich das Kräfteverhältnis im Schwarzmeerraum grundsätzlich verändert.
Die strategische Bedeutung der Krim ist unbestritten. Davon lässt sich die Politik von USA, NATO und EU in dieser Region nicht erst seit der Ukraine-Krise leiten. Spätestens seit der Osterweiterung der NATO um Rumänien und Bulgarien (2003) und deren Aufnahme in die Europäische Union (2007) rückte die Schwarzmeerregion in den Fokus strategischer Planungen des Westens mit dem Ziel „einer vollständigen Integration der Schwarzmeerregion in den euro-atlantischen Mainstream – in das Sicherheits-, Wirtschafts- und Wertesystem“, wie es in einem Positionspapier des bulgarischen Instituts für Regionale und internationale Studien heißt. Die Schwarzmeerregion wurde eine „außerordentlich wichtige Außengrenze der EU“. Das EU-Parlament forderte die NATO in einem Mehrheitsbeschluss vom 11. Juni 2015 auf, „ihre allgemeine Luft- und Seeüberlegenheit im Schwarzmeerbassin zu erhalten“. Die Region erweist sich überdies als Sprungbrett zur weiteren Ostexpansion Richtung Kaukasus, in die Nachbarschaft der südlichen Problemzone Russlands. Russische Sicherheitsinteressen fanden keine Beachtung.
Die Etablierung einer antirussischen, NATO-freundlichen Regierung in Kiew hätte zwangsläufig zur Kündigung des Stationierungsabkommens für die russische Schwarzmeerflotte geführt und den Weg zur militärischen Nutzung der Krim durch die NATO perspektivisch frei gemacht. Eine Marginalisierung Russlands im Schwarzmeerraum wäre die Folge gewesen und sein Potenzial als Machtfaktor im Nahen und Mittleren Osten, auf dem Balkan und im Südkaukasus wäre erheblich beschnitten worden.
Moskau reagierte wie bekannt. Letztlich führte der Versuch, den Status quo im Raum des Schwarzen Meers weiter zu Gunsten des Westens zu verändern, zum gegenteiligen Ergebnis – nicht die erste Fehlkalkulation in diesem Jahrhundert. Westliche Fehleinschätzungen und daraus resultierende Handlungen mit fatalen Konsequenzen für die internationale Ordnung scheinen vielmehr zur Regel zu werden. Mit einem eigenwilligen NATO-Partner Türkei wird die Situation noch weniger kalkulierbar.
Die Krim-Operation der russischen Streitkräfte
In westlichen Publikationen wird behauptet, Russland hätte seit langem Pläne zur Einverleibung der Krim gehegt und nur auf den geeigneten Moment gewartet. Beweise gibt es nicht, obwohl es so ein „Schubkasten-Szenario“ gegeben haben mag. Tatsächlich bereitete sich Moskau mit einem „Zielprogramm zur Umdislozierung der russischen Schwarzmeerflotte“ eher auf die Einrichtung eines alternativen Stützpunktes in der russischen Hafenstadt Noworossijsk vor. So berichtete die Iswestija am 20. November 2012 aus dem Verteidigungsministerium über Pläne zur Fertigstellung der ersten Stufe des Noworossijsker Flottenstützpunkts Ende 2013, die es erlauben würde, „die lang erwartete Umdislozierung der Schwarzmeerflotte von der Krim nach Noworossijsk zu beginnen“. Diese Aktivitäten deuten eher darauf hin, dass sich Russland langfristig auf den Verlust seines Stützpunkts auf der Krim vorzubereiten begann.
Das änderte sich mit dem Putsch in Kiew. Heute räumt auch das offizielle Moskau die Beteiligung russischer Truppen an den Krim-Ereignissen Anfang 2014 ein. Putins Version lautet etwa so: Die russischen Streitkräfte auf der Krim hätten die Aufgabe gehabt, die ukrainischen Truppen zu blockieren und deren Einmischung in den Volksentscheid über den Status der Krim zu verhindern. Mit dieser Aktion sei Blutvergießen verhindert worden, kein Mensch sei zu Schaden gekommen.
Die Krim-Operation begann nach Aussagen Putins mit seiner Anweisung vom 22. Februar 2014, mit den Aktivitäten zur Wiedereingliederung der Krim in die Russische Föderation zu beginnen. Zur Ablenkung der internationalen Aufmerksamkeit wurden vier Tage später Truppeninspektionen in den westlichen und zentralen Militärdistrikten zur „Überprüfung der operativen Bereitschaft“ und Truppenverlegungen weit weg von der ukrainischen Grenze, darunter in den Norden Russlands, angeordnet. Diese Manöver ermöglichten es, von der gleichzeitigen Verlegung einiger Tausend Spezialkräfte und von Luftlandetruppen auf die Krim und der Massierung militärischer Einheiten an der Grenze zur Ukraine abzulenken, letzteres als Druckmittel gegen Kiew, um es von einem militärischen Einsatz auf der Krim abzuschrecken. Es waren Bewaffnete in Tarnuniform ohne Hoheitsabzeichen, die Anfang 2014 alle strategischen Objekte der Krim besetzten, den Medien keine Auskunft gaben, sich jedoch gegenüber der heimischen Bevölkerung betont höflich verhielten, was ihnen den Spitznamen „vezhlivye ljudi“ (höfliche Menschen) – im Westen „grüne Männchen“ – einbrachte.
Der russische Generaloberst Anatoli Saizew fasste die Erfolge der Krim-Operation aus militärischer Sicht wie folgt zusammen:
- Normale Versorgungsaktivitäten für den geleasten Stützpunkt Sewastopol dienten als Tarnung für die Einschleusung von Truppen und Material;
- die russischen Streitkräfte wahrten ein striktes elektronisches Kommunikationsverbot, um die NATO-Aufklärung zu täuschen;
- „Partisanengruppen“ der Sondereinsatzkräfte ohne Hoheitsabzeichen verteilten sich schnell auf der Halbinsel, um wichtige Einrichtungen der Infrastruktur unter ihre Kontrolle zu bringen;
- diese Einheiten blockierten ukrainische Stützpunkte, unterbrachen deren Kommunikation und desorganisierten das ukrainische Truppenversorgungssystem; gleichzeitig wurden Techniken der Informationskriegsführung genutzt, um Angehörige der ukrainischen Streitkräfte zum Seitenwechsel zu bewegen.
Die Ausführung der verdeckten Krim-Operation wird von einigen Beobachtern als Ausdruck der neuen Qualität der russischen Armee im Ergebnis der 2007 eingeleiteten Militärreform gewertet. „Das russische Militär führte die Krim-Operation brillant aus, indem es die Halbinsel in kurzer Zeit und mit minimalen Opfern übernahm“, so Dmitri Trenin, Direktor des Moskauer Ablegers einer Washingtoner Denkfabrik. Und weiter: „Es bedurfte jedoch eines reformierten Militärs plus eines beachtlichen Grads an Koordination zwischen den verschiedenen russischen Diensten und Agenturen, um diese Aktion durchzuziehen.“ Aus russischen Quellen lässt sich ableiten, dass an der Operation maßgeblich Luftlandetruppen und Einheiten der 2013 gebildeten Spezialkräfte (Sily specialnych operacii – SSO) beteiligt waren.
Die Krim als russische Militärbastion
Das russische Verteidigungsministerium legte bei der Eingliederung der Krim in die militärischen Strukturen Russlands, konkret in den Südlichen Militärbezirk, und beim Ausbau der Streitkräftepräsenz auf der Halbinsel hohe Geschwindigkeit an den Tag. Zwei Wochen nach Unterzeichnung des Beitrittsdokuments zur Russischen Föderation kündigte Putin per Gesetz die Vereinbarungen mit der Ukraine bezüglich des Aufenthalts der russischen Schwarzmeerflotte auf ukrainischem Territorium. Zwei Tage später, am 4. April 2014, verkündete das Verteidigungsministerium einen Aktionsplan zur „Gewährleistung der Sicherheit“ auf der Krim.
Nach ukrainischen Quellen hatte das russische Truppenkontingent auf den geleasten Krim-Stützpunkten vor der russischen Annexion eine Stärke von 12.500 Militärangehörigen. Verteidigungsminister Sergej Schoigu informierte erstmals offiziell am 16. September 2014 über den Auftrag des Präsidenten, eine „selbsttragende, verschiedene Teilstreitkräfte umfassende Streitkräftegruppierung“ auf der Krim zu etablieren, die in der Lage ist, „die nationalen Interessen der Russischen Föderation in dieser Stoßrichtung garantiert zu verteidigen“. Er bezifferte die Mannschaftsstärke auf 25.000 Soldaten und Offiziere, die Zahl sollte perspektivisch um weitere 15.000 aufgestockt werden. Außerdem wurde die Zahl der Schiffe mit 2739 benannt, davon 43 Kampfschiffe.
Im März 2015 erklärte Schoigu, das Ziel, eine vollwertige Streitkräftegruppierung auf der Krim zu stationieren, sei bereits Ende 2014 erreicht worden, die Kampffähigkeit solle künftig weiter gestärkt werden. „Die geschaffene Gruppierung gewährleistet nicht nur die Verteidigung der Interessen Russlands im Schwarzmeerraum …, sondern ermöglicht es auch, Aufgaben in ferneren Seegebieten zu lösen“, erklärte Schoigu. So hätten 2014 Schwarzmeer-, Nordmeer- und Baltische Flotte mit sechs Kriegsschiffen die ständige Präsenz im Mittelmeerraum gewährleistet. Auch seien die Luftstreitkräfte zu einer vollwertigen Kampfeinheit ausgebaut worden. Aus russischen und ukrainischen Quellen geht hervor, dass die Anzahl der Kampfflugzeuge und Hubschrauber auf das 2,2-fache aufgestockt wurde, vor allem mit taktischen Bombern SU-24 M und Bodenkampfflugzeugen SU-25 SM. Letztere werden auch in Syrien eingesetzt. Nach inoffiziellen Angaben soll die Zahl der Kampfpanzer um das 6,8-fache und die schwere Artillerie um das 7,2-fache aufgestockt worden sein. Bei den Bodentruppen wurden unter anderem Marineinfanterie, Küstenverteidigung, Luftlandetruppen und Luftverteidigung ausgebaut. Zu deren Ausrüstung gehören moderne Waffensysteme wie das Kurzstrecken-Luftabwehrraketensystem Panzir S-1 und das gegen Kriegsschiffe gerichtete mobile Raketensystem der Küstenverteidigung Bastion-P.
Die beabsichtigte Stationierung von Waffensystemen auf der Krim, die sowohl mit konventioneller als auch mit nuklearer Munition bestückt werden können („dual-capable“), löste in der Ukraine und im Westen den Aufschrei „Russland stationiert Kernwaffen auf der Krim“ aus. Die Darstellung der offiziellen russischen Position durch Außenminister Sergej Lawrow im Dezember 2015 rief noch mehr Unruhe hervor. Die Krim, so Lawrow, „war Teil der Ukraine, die Nichtkernwaffenstaat ist. Jetzt ist die Krim Teil eines Staates, der in Übereinstimmung mit dem Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen über solche Waffen verfügt. Und der russische Staat hat gemäß Völkerrecht jede Grundlage, über sein legitimes Kernwaffenpotenzial in Übereinstimmung mit seinen Interessen und seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen zu verfügen.“ Diese Ansage lässt die Option offen, auf der Krim Kernwaffen zu stationieren.
Zu den konventionell wie nuklear einsetzbaren Waffensystemen gehört der 1978 in Serie gegangene und modernisierte Mittelstreckenbomber vom Typ TU-22M3 (NATO-Code „Backfire-C“) mit einer Reichweite bis zu 2400 km, bewaffnet mit Lenkraketen, um größere see- und landgestützte Ziele in bis zu 500 km Entfernung anzugreifen. Dieser auch in Syrien eingesetzte Bomber soll künftig auch auf der Krim, auf dem Stützpunkt Gwardejskoje, stationiert werden. Im Juli 2015 verkündete das Verteidigungsministerium, derzeit sei es ausreichend, eine Staffel dieser Bomber auf die Krim zu bringen. Künftig könne sie auf ein Regiment aufgestockt werden – als Gegenmaßnahme zur Stationierung von Elementen des US-Raketenabwehrsystems in Rumänien. Dieser US- Stützpunkt, so verlautet aus dem Verteidigungsministerium, sei ein vorrangiges Einsatzziel für russische Schläge in einer sich künftig zuspitzenden Krisensituation. Erreichbar wären jedoch große Teile Europas.
Ebenso wird die mögliche Stationierung von Iskander-M-Kurzstreckenraketen mit einer taktischen Reichweite von 480 km, ebenfalls nuklearwaffenfähig, sowohl auf der Krim als auch im Raum Kaliningrad im Gespräch gehalten. Wann es dazu kommen könnte, bleibt im Unklaren. Verteidigungsminister Schoigu sagte dazu lediglich, Moskau könne das zu jeder Zeit und an jedem beliebigen Ort in Russland tun. „Wo wir sie hinstellen wollen, da stellen wir sie auch hin!“ Im Juni dieses Jahres präzisierte der Vizevorsitzende des Verteidigungsausschusses der Duma Andrej Krassow lediglich, dass Russland keine Raketen mit Nuklearsprengköpfen in diesen Regionen benötige. Mit anderen Worten: Russland hält sich die Option der Drohung mit der Stationierung taktischer Raketen offen.
Im August wurde die Luftverteidigung der Krim außerdem mit dem äußerst effektiven System S-400 ausgestattet, das aufgrund seiner hohen Reichweite und seiner effektiven Kapazitäten zur elektronischen Kampfführung von Experten als „wegweisend“ für die Entwicklung dieser Militärtechnik angesehen wird. Damit können unter anderem technisch hochentwickelte Ziele wie Stealth-Fluggeräte, tieffliegende Marschflugkörper, hochfliegende und weit entfernte Überwachungsflugzeuge wie AWACS bekämpft werden. Die S-400 soll sich auch von einem defensiven in ein offensives System verwandeln können. Putin bezog sich während seines Griechenland-Besuchs im Mai auf diese Möglichkeit, jedoch im Hinblick auf die Stationierung von Elementen des US-Raketenabwehrsystems in Polen und Rumänien. Sie könnten in offensive Raketenkomplexe mit einer Reichweite bis zu 2400 km verwandelt werden, was dem Vertrag über Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) widerspreche.
Die russische Schwarzmeerflotte
Der sowjetischen Schwarzmeerflotte erging es nach 1991 wie dem Rest der Sowjetarmee: Sie wurde unter Russland und der Ukraine aufgeteilt und von beiden Seiten dem allmählichen Verfall preisgegeben. War sie zu Sowjetzeiten noch die dominante militärische Kraft im Schwarzen Meer, übertraf die Türkei sie 2008 nach Anzahl der Kriegsschiffe im Verhältnis 1 zu 4,2. Im Jahr 2014 waren von den 338 Schiffen, die Russland übernommen hatte, noch ganze 35 einsatzfähig, eingeschlossen die Versorgungsschiffe. Entscheidendes Hemmnis für die Modernisierung war das restriktive Stationierungsabkommen mit der Ukraine, demzufolge der Umfang der Flotte begrenzt und die Ergänzung durch zusätzliche Schiffe verboten war. Der Versorgung mit Munition und ähnlichem musste von der ukrainischen Seite zugestimmt werden. Letztlich hatte sich die ehemals stolze Flotte in eine „Anhäufung von Museumsexponaten“ verwandelt, wie es der Militärexperte Michail Barabanow formulierte.
Für den Ausbau der gesamten russischen Seekriegsflotte bis 2020 sind 151 Milliarden US-Dollar vorgesehen, hauptsächlich mit dem Ziel, Russlands Fähigkeiten zur globalen Machtprojektion wieder herzustellen. Im Juni 2015 wurde die neue Marinedoktrin Russlands von Putin gebilligt. In der Prioritätenliste rangiert die arktische und atlantische Richtung an erster Stelle, danach die Krim und Sewastopol und schließlich der Ausbau der Flottenpräsenz im Mittelmeer. Wladimir Putin hat diese Prioritäten auf seiner Jahrespressekonferenz am 17. Dezember 2015 bestätigt: „Ich kann mich nur schwer damit einverstanden erklären, dass Sewastopol vom marinepolitischen Standpunkt eine wichtigere Rolle spielen soll als der Stützpunkt in Wladiwostok oder mehr noch der auf Kamtschatka, wo die nach Bedeutung und Kampfkraft zweitwichtigste atomare U-Bootflotte mit Trägerraketen und strategischen Kernwaffen an Bord stationiert ist … Außer allem anderen hat die Flotte im Norden und im Fernen Osten direkten Zugang zum Weltmeer.“
Die Schwarzmeerflotte ist daher eher von regionaler Bedeutung und nachrangig in der Finanzierung, was einen beachtlichen Modernisierungsschub jedoch nicht ausschließt. Die Angaben über die dafür bis 2020 zur Verfügung gestellten Mittel variieren zwischen 1,2 und 1,53 Milliarden US-Dollar, in jedem Fall nur ein Bruchteil der Gesamtausgaben für die russische Seekriegsflotte. Zu den Neuanschaffungen – 30 Schiffe, teils bereits realisiert, teils in Vorbereitung – gehören sechs dieselelektrisch betriebene U-Boote der Klasse „Warschawjanka“ (NATO-Bezeichnung „verbesserte Kilo-Class-U-Boote), sechs Fregatten der „Admiral Grigorowitsch“-Klasse, sechs Patrouillenboote, die mit Cruise Missiles vom Typ Kalibre-NK ausgerüstet sind, deren Feuerkraft am 7. Oktober 2015 bei einem von Schiffen im Kaspischen Meer gestarteten Angriff auf Stellungen der Rebellen in Syrien bewiesen wurde, und neun Korvetten der „Burjan“-Klasse, die mit kleinen Lenkraketen ausgestattet sind.
Die Aufrüstung der Schwarzmeerflotte wird die militärischen Fähigkeiten Russlands im Schwarzen und im Mittelmeer erheblich steigern, jedoch die Dominanz der Marine des NATO-Mitglieds Türkei nicht brechen können. Allerdings kommen größere Territorien von NATO-Verbündeten in Südosteuropa und der Türkei in Reichweite von Waffensystemen der Schwarzmeerflotte.
Nichts aus der Geschichte gelernt
Es ist keine Menschengeneration vergangen und der Fundus an Lehren, Erkenntnissen und guten Absichten, niedergelegt in der Charta von Paris für ein neues Europa von 1990, ist verspielt. Die Verantwortung dafür liegt auf allen Seiten der heutigen Konfrontationslinie. Die Hauptverantwortung trägt jedoch eindeutig der Stärkere, der meinte, als Sieger aus dem Kalten Krieg hervorgegangen zu sein und die Schwäche des Gegners ausnutzen zu müssen. Das Säbelrasseln im Schwarzmeerraum ist eine Folge dieser Fehlentwicklung.
Russland hat die Krim zu einem starken Militärstützpunkt ausgebaut, der jegliche ukrainische Wunschträume von einer militärischen Rückeroberung ad absurdum führt. Unterhalb der Schwelle eines großen Krieges ist keine Revision der russischen Übernahme der Halbinsel möglich, europäische Sicherheitspolitik muss das als Realität zur Kenntnis nehmen. Will sie das nicht, wird es zu keiner Entspannung kommen.
Dazu hat Russland mit der Krim seine strategische Position im Schwarzmeerraum sowie im östlichen Mittelmeer, aber auch gegenüber Südosteuropa, dem Kaukasus und dem Nahen und Mittleren Osten ausgebaut, allerdings auf Kosten eines herben Verlustes, eines gutnachbarlichen Verhältnisses zur Ukraine. Der russische Syrien-Einsatz zeugt von den neuen Möglichkeiten zur Machtprojektion und ist, wie ein Beobachter schreibt, „der erste russische Krieg im amerikanischem Stil“. Damit wird die Fähigkeit der russischen Streitkräfte zu Handlungen außerhalb ihres bisherigen Einzugsgebiets, des „nahen Auslands“, unter Beweis gestellt.
Das militärische Kräfteverhältnis zwischen NATO und Russland hat sich dennoch nicht wesentlich verschoben. Die USA und die NATO-Verbündeten bleiben bei allen Waffengattungen dominierend, ausgenommen eine annähernde Parität bei strategischen Kernwaffen. Die russische Prioritätensetzung auf einen forcierten Ausbau der militärischen Stärke bei schlechter Wirtschaftsleistung führt das Land auf einen Irrweg. Es ist noch nicht so lange her, dass ein überdimensionierter Rüstungswettlauf zum Zerfall der Sowjetunion beigetragen hat. Bei einer klugen Politik sollte Russland dieses Schicksal erspart bleiben.
Schlagwörter: Krim, Militärpolitik, NATO, Russland, Schwarzmeerflotte, Ukraine, Wolfgang Kubiczek