19. Jahrgang | Nummer 15 | 18. Juli 2016

TTIP – Die Büchse der Pandora

von Heerke Hummel

Licht am Ende des Tunnels! Es besteht Hoffnung, die Unterzeichnung der Freihandelsabkommen der Europäischen Union mit Kanada (Ceta) und den USA (TTIP) doch noch abwenden zu können. Jedenfalls hat die EU-Kommission am Fünften dieses Monats entschieden, dass 42 nationale und Regionalparlamente in Europa an der Ratifizierung des Freihandelsabkommens mit Kanada beteiligt werden sollen; anstatt, wie ursprünglich vorgesehen, die Sache auf Europa-Ebene zu erledigen. Der Brexit lässt grüßen.
Den Freihandelsbefürwortern beginnen schon seit geraumer Zeit mit der immer stärker werdenden Gegenbewegung die Felle davon zu schwimmen. Darum haben sie zum Angriff geblasen – unter anderem mit einer Broschüre. „Die neue Gewinn-Zone. Wie das Freihandelsabkommen TTIP Europa und Amerika stärkt“ lautet deren Titel. Herausgegeben wurde sie von der Atlantik-Brücke e.V. Laut WIKIPEDIA wurde dieser Verein 1952 als private, überparteiliche und gemeinnützige Organisation mit dem Ziel gegründet, eine wirtschafts-, finanz-, bildungs- und militärpolitische Brücke zwischen der Siegermacht USA und der Bundesrepublik Deutschland zu schlagen. Zu seinen Mitgliedern zählen heute über 500 führende Persönlichkeiten aus Bank- und Finanzwesen, Wirtschaft, Politik, Medien und Wissenschaft, darunter die Bundeskanzlerin und Bundesvorsitzende der CDU Angela Merkel sowie Sigmar Gabriel, SPD-Parteivorsitzender, Bundesminister für Wirtschaft und Energie und Vizekanzler. Die Atlantikbrücke fungiert als Netzwerk und privates Politikberatungsinstitut.
Die Argumentation der Atlantik-Brücke pro TTIP-Abkommen lässt deutlich werden, dass die bisherigen Einwände der immer breiter werdenden Widerstandsbewegung der Gefährlichkeit der Situation und den von TTIP ausgehenden Gefahren kaum gerecht wird. Die Verfasser der Broschüre weisen auf etliche sicherlich von Vielen einzusehende Gründe hin, eine riesige Freihandelszone zu schaffen, die praktisch den ganzen nordamerikanischen Kontinent und die EU umfasst. Friedrich Merz etwa – vielen bekannt durch seine früheren Bierdeckel-Steuererklärungsdebatten im Deutschen Bundestag als damaliger Fraktionsvorsitzender der CDU – stellt nun als „Vorsitzender Atlantik-Brücke e.V.“ einleitend fest, Europa und die USA könnten mit TTIP ökonomisch nur gewinnen. Dabei verweist er auf die transatlantische Investitions- und Handelspartnerschaft mit zu erwartenden Folgen wie wirtschaftliches Wachstum, Beschäftigungszuwachs sowie höhere Gehälter und Steuereinnahmen; ferner größere Produktvielfalt und niedrigere Endpreise am Markt. Gerade auch kleine und mittlere Hersteller und Dienstleister, die fest in regionalen Strukturen verankert und verortet sind, meint er, würden mit TTIP wachsen. Hinzu kämen wegfallende Zölle und die Angleichung technologischer Spitzenstandards sowie hoher Normen im Umweltschutz, Verbraucherschutz und Sozialbereich. Und über die regulatorische Kooperation könnten die transatlantischen Partner durch TTIP künftig gemeinsam daran arbeiten, neue und noch bessere Standards so zu entwickeln, „dass sie von vornherein keine Handelshemmnisse mehr darstellen und vorbildlich sind für die globale Ordnung von Märkten und Regulierungen“. Nicht zu unterschätzen sei dabei die geopolitisch-strategische Dimension von TTIP. Mit diesem Abkommen verbänden die USA und Europa auch die Chance, ihre Werte und Interessen in aller Welt zu verteidigen und zu stärken. Das mag manch einer auch so sehen, zumal Freiheit, Demokratie und Menschenrechte auf der einen Seite sowie Sicherheit, Frieden und Wohlstand auf der anderen Seite als Grundpfeiler der transatlantischen Partnerschaft seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dargestellt werden. Und Merz ergänzt mahnend, „der innere Zusammenhang aus einer stabilen demokratischen und pluralistischen Ordnung, der Kooperation in Sicherheits- und Verteidigungsfragen sowie den engen ökonomischen Beziehungen“ müsse beständig erneuert werden. TTIP vermöge als konkretes inhaltliches Projekt „die westliche Allianz zu untermauern, indem sie wirtschaftlich noch enger verbunden wird.“ Das sind deutliche, nicht zu überhörende Worte, die auch all jene von Ängsten vor der Zukunft Geplagten erreichen könnten, die, mit der Gegenwart zufrieden, für ein Weiter so plädieren.

Was TTIP aber so gefährlich macht, ist seine vom Kapital, von kapitalistischer Denkweise bestimmte Prägung. Nicht die Vernunft aus der Perspektive des Ganzen, also der Weltgemeinschaft steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern das private Interesse an Kapitalvermehrung als Selbstzweck ist die bestimmende Richtschnur allen Handelns. Diese Dominanz des Privaten schließt Solidarität vom Grundsatz her aus, erzeugt nicht wirklichen Wettbewerb, sondern verlangt bei Strafe des eigenen Untergangs den Kampf aller gegen alle und mit allen Mitteln – um Marktanteile, Energie- und Rohstoffquellen, ökonomische Ressourcen aller Art und Vorherrschaft in jeder Hinsicht. Das ganze 20. Jahrhundert war davon geprägt, mit zwei Weltkriegen, die Europa weitgehend verwüsteten und bis dahin nie gekannte Opfer forderten. Die USA glaubten, aus diesem Kampf als überragender Sieger hervorgegangen zu sein. Inzwischen muss man wohl von einem Pyrrhussieg sprechen. Denn Amerika hatte die Zeichen der Zeit nicht verstanden und die Bedeutung strategischer ökonomischer Planung und Politik unterschätzt, beziehungsweise es war bis heute in seinem Wahn von Freiheit und von der privaten Natur seines Reichtums und des Geldes gefesselt, handlungsunfähig. China und Russland stehen wieder vor der Tür und versperren den Weg für ein unendliches Wachstum des amerikanischen Kapitals.
Da soll nun das transatlantische Freihandelsabkommen helfen, einen Ausweg zu finden. Amerika und Europa gemeinsam müssten es doch schaffen, Grenzen des Wachstums zu überwinden und mit den Widersachern, Herren der Willkür, fertig zu werden. Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer wird in der Broschüre folgendermaßen zitiert: „Wenn TTIP hier globale rechtsstaatliche Standards setzt, wird letztlich kaum eine andere Macht der Welt mehr an diesem modernen Maßstab vorbeikommen – und Investitionen im Ausland können besser als je zuvor weltweit gegen politische Willkür geschützt werden.“ Was politische Willkür wäre, hätten mit TTIP (Sonder-)Gerichte zu entscheiden, nicht das Volk und seine Repräsentanten – allen gegenteiligen, beschwichtigenden Behauptungen zuwider. Das transatlantische Abkommen brächte einen transatlantischen Freibrief für einen totalen Kapitalismus mit all seinen Widersprüchen, die Europa vor hundert Jahren in die erste große Katastrophe führten. Heute steht die Welt vor einer ähnlichen, nicht weniger und sogar für den Bestand unseres Planeten gefährlichen Situation. Denn die Motivation der Handelnden, das private, rücksichtslose Interesse an Kapitalverwertung um jeden Preis, hat sich bis heute nicht verändert.
Amerika braucht Europa für seine Dominanzinteressen in der Welt. Braucht Europa die USA? Nur, wenn wir wirklich die gleichen Interessen verfolgen! In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts glaubten wir Europäer, aus der Geschichte seiner ersten Hälfte gelernt zu haben. Die Integration westeuropäischer Staaten bedeutete den Versuch, die Widersprüche einer vom Kapital geprägten Gesellschaft zu beherrschen. Doch die nicht abreißenden Krisen insbesondere der letzten zehn Jahre zeigen, dass dieses Ziel so gut wie nicht erreicht wurde. Zum dritten Mal innerhalb von hundert Jahren nimmt das deutsche Kapital eine exponierte Stellung in der Welt und besonders innerhalb Europas ein. Fatal wäre es, die Ursache dafür in besonderer Tüchtigkeit der Deutschen zu suchen. Es waren immer die besonderen politischen und ökonomischen Bedingungen Deutschlands und Europas, die dieses Phänomen hervorgebracht haben. Wenn heute von einer besonderen Verantwortung Deutschlands gesprochen wird, die sich aus seiner ökonomischen Stärke ableitet, so müsste ergänzt werden: Ja, und diese Verantwortung besteht darin, voranzugehen bei der politischen Beherrschung des Kapitals, bei seiner Unterordnung unter die ökonomische Vernunft. Es wäre die Befreiung unserer Gesellschaft vom unerbittlichen Zwang der Kapitalmärkte zu Kapitalverwertung und Wachstum, koste es was es wolle. Konkret: Deutschland müsste sich im Rahmen der Europäischen Union und unter Einbeziehung aller Mitgliedländer massiv für strukturpolitische Maßnahmen und Umverteilung ökonomischer Ressourcen innerhalb der EU und zum Wohle aller EU-Bürger einsetzen.
Das wäre ein gewaltiges Projekt für Jahrzehnte. Es würde ein grundsätzliches ökonomisches Umdenken erfordern, darauf gerichtet, auf der Basis einer gemeinsamen Währung einen innereuropäischen Reproduktionsprozess als Einheit von Produktion und Verbrauch bei Einbeziehung aller EU-Bürger zu organisieren. Es könnte ein gemeinsames Wirtschaften aller Europäer auf gemeinsame Rechnung mit Bestandsschutz einerseits und zielgerichtetem Niveauausgleich andererseits sein. Wichtige Schritte dahin wären sicherlich entsprechende Investitionsentscheidungen und Vergabe zinsloser Kredite durch die Europäische Zentralbank sowie die Angleichung von Mindestlöhnen und anderen Sozialstandards.
Ein solches Projekt könnte die Europäische Union ohne die Inanspruchnahme außereuropäischer Kapitalmärkte realisieren. Mit 510 Millionen Einwohnern und einem gut qualifizierten Arbeitskräftepotential übertrifft die EU die USA (etwa 320 Millionen) heute bei weitem, auch noch, wenn man den Austritt Großbritanniens (etwa 64 Millionen) aus der EU berücksichtigt. Daraus leitet sich sowohl ein überragender innerer Verbrauchermarkt als auch ein stabiler Markt für Investitionsgüter in der EU auf lange Sicht ab. Das bedeutet: Die Europäische Union könnte ohne TTIP ein wohldurchdachtes ökonomisches Entwicklungsprogramm für Jahrzehnte auflegen und dieses aus eigener Kraft im Interesse aller EU-Bürger kostengünstig auf der Basis hauptsächlich interner Arbeitsteilung und Kooperation realisieren.
Das könnte ein Konjunkturprogramm sein, das – ganz im Gegensatz zu dem von Friedrich Merz mit TTIP prophezeiten nicht auf Kapitalverwertung und Ausbeutung fremder Arbeit durch Kapitalexport und unfairen Handel abzielt, sondern auf die Mehrung des Wohlstands der eigenen Bürger durch eigene, sinnvolle Leistung bei äquivalentem Austausch mit der übrigen Welt und bei gleichzeitiger Hilfe für sie. Fairer, ausgewogener Handel würde einschließen, den außereuropäischen Regionen die Chance eines eigenen ökonomischen Aufschwungs durch Entfaltung der eigenen produktiven Kräfte zu geben. Auch wissenschaftlich-technische Hilfe könnte dazu beitragen.
Das wäre wahre Solidarität über die Grenzen der Europäischen Union hinaus und könnte wesentlich zur Befriedung der Welt beitragen – in völligem Gegensatz nicht nur zu den Waffenexporten, mit denen Europa, besonders Deutschland, zwar gut verdient, sich aber in der Hauptsache unglaublich schuldig macht am Elend der Welt. Das Flüchtlingsdrama an den EU-Grenzen zeigt, dass dieses Elend zu einer immer stärkeren moralischen und ökonomischen Herausforderung für uns Europäer wird. TTIP könnte die Lage nur verschlimmern, weil es die Welt noch tiefer in Arm und Reich spalten würde.
Europa braucht die Freihandelszone mit Amerika nicht, um zu prosperieren. Aber bräuchte Amerika dazu Europa, wie die Autoren der Atlantik-Brücke ebenfalls suggerieren? Nein, denn auch die USA könnten natürlich – entsprechende gesellschaftswissenschaftliche Einsicht und politischer Wille vorausgesetzt – auf ihrem Kontinent ebenfalls schrittweise eine solidarische ökonomische Gemeinschaft gestalten, die, sich allmählich nach Süden ausdehnend, der riesigen, hoch industrialisierten Volkswirtschaft ein praktisch unbegrenztes Konjunkturprogramm zu bescheren vermögen würde. Solch ein Sieg der ökonomischen und politischen Vernunft in den USA ist derzeit noch eine utopische Vorstellung.
Doch in Europa? Auch hier sind die Chancen einer tatsächlichen Wende im ökonomischen Denken und politischen Handeln gering. Dennoch: Der zunehmende Widerstand gegen TTIP lässt hoffen. Um ihn zu stärken, ist immer wieder und überall zu fragen: Wollt ihr Euch ihm wirklich unterwerfen, dem Wahnsinn eines totalen, dann wohl nicht mehr zu beherrschenden Kapitalismus? Die heutige Welt mit ihrem sagenhaften Reichtum einer verschwindenden Minderheit einerseits und bitterster Armut der übergroßen Mehrheit der Erdenbewohner andererseits, mit ihrem Chaos von Kriegen, Zerstörung und Dutzenden Millionen flüchtenden Menschen ist die Frucht eines über zweihundertjährigen ungezügelten Wirkens des Wolfsgesetzes des Kapitalismus. Friss oder werde gefressen, lautet seine Maxime. Mit TTIP würde sein Freiraum unabsehbar erweitert werden. Es käme einer Öffnung der Büchse der Pandora gleich.