von Peter Petras
Mit seinem großen Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ hatte Franz Werfel dem armenischen Volk, das in der Türkei im Ersten Weltkrieg mittels Völkermord ausgetilgt werden sollte, ein literarisches Denkmal gesetzt. Er erschien 1933. Niemand konnte seither sagen, man habe von diesem Völkermord nichts wissen können. In Nazi-Deutschland wurde der Roman 1934 verboten; der Autor war jüdischer Herkunft, aber auch die Thematisierung deutscher Mitschuld störte das beabsichtigte Selbstbild.
Im Zweiten Buch des Romans heißt es über das Osmanische Reich am Beginn des Ersten Weltkriegs: „Hier wie überall in der Welt war der herrschende Nationalismus am Werke, um ideenerfüllte, ja religiöse Reichsgebilde in ihre armseligen biologischen Bestandteile aufzulösen. Das Kalifat ist eine Gottesidee, das Türken-, Kurden-, Armenier-, Arabertum aber nichts als eine irdische Tatsache. […] Die alten Paschas wussten mit feinstem Gefühl, dass sich ein edler, aber verfallener Palast nicht allzu viele Verbesserungen gefallen lasse. Den Jungtürken aber gelang es, das Werk von Jahrhunderten in einem Atemzuge zu zerstören. Sie taten das, was gerade sie als Beherrscher eines Vielvölkerstaates niemals hätten tun dürfen! Durch ihren eigenen Nationalwahn erweckten sie den der unterworfenen Völker.“
Ganz in diesem Sinne war der Mord an den Armeniern 1915 befohlen worden, als Gründungsakt der türkischen Nation, die sich aus dem Osmanischen Reich herausschälen sollte. Dionysos Isa Gürbüz, in der Schweiz lebender Bischof der syrisch-orthodoxen Kirche – der ältesten christlichen Kirche überhaupt, die in ihrer Heimat Syrien und Irak heute verfolgt wird – betont, dass es 1915 nicht nur gegen die Armenier ging. Fast zwei Millionen Christen wurden damals ermordet, Aramäer, Syrisch- und Griechisch-Orthodoxe, und Millionen konvertierten aus Angst zum Islam. Aus seiner Sicht, die er kürzlich im Zürcher Tages-Anzeiger äußerte, ist der Mordterror des sogenannten Islamischen Staates, von al-Qaida und der Taliban heute die Fortsetzung des Genozids von 1915. Der von den Jungtürken damals erstrebte türkische Staat sollte nicht nur nationalistisch sein, sondern auch islamisch in der sunnitischen Ausrichtung.
Im Ersten Weltkrieg verteidigten osmanische Einheiten den Meerengen-Zugang zum Schwarzen Meer bei Gallipoli erfolgreich gegen die Truppen der Entente-Mächte. Befehlshaber war Mustafa Kemal Pascha, der später als „Atatürk“ Begründer der Türkischen Republik wurde. Nach der Niederlage der Mittelmächte oktroyierten die Siegermächte auch der Türkei einen der sogenannten Pariser Vorortverträge, den Vertrag von Sèvres vom 10. August 1920. Danach verlor die Türkei als Nachfolger des Osmanischen Reiches nicht nur die arabischen Gebiete (Hedschas mit den Heiligen Stätten, heute Saudi-Arabien, Syrien und Mesopotamien, heute Irak), sondern auch weitere Gebiete: Ostthrakien bis nahe an Istanbul sowie Teile der Ägäisküste Kleinasiens sollten an Griechenland fallen, im Osten Anatoliens sollte es einen großen armenischen Staat geben, Kurdistan sollte ein autonomes Gebiet werden mit der Möglichkeit, ebenfalls unabhängig zu werden. Die Jungtürken akzeptierten den Vertrag nicht, den der Sultan hatte unterzeichnen lassen, entfachten eine Nationalbewegung, erklärten sich zur rechtmäßigen Regierung, stürzten den Sultan und führten den Krieg, unterstützt von Sowjetrussland, vor allem gegen Griechenland. Mit dem Vertrag von Lausanne vom 24. Juli 1923 wurde jener von Sèvres revidiert. Die Türkei erhielt im Wesentlichen die Grenzen, die sie heute noch hat. Mit Griechenland wurde vertraglich ein „Bevölkerungsaustausch“ vereinbart, eine erste, völkerrechtlich sanktionierte ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert: 1,2 Millionen anatolische Griechen, die dort zum Teil seit 2500 Jahren siedelten, wurden nach Griechenland und 400.000 griechische Muslime in die Türkei zwangsumgesiedelt. Der armenische Staat wurde auf die Größe reduziert, die er heute noch hat. Die Kurden behielten weder Autonomierechte noch das Recht auf einen eigenen Staat.
Vor diesem Hintergrund ist die Gründungsgeschichte der türkischen Republik eine Heldengeschichte. Dazu der passt der Völkermord nicht. Seit Atatürk war das Staatsverständnis zwar islamisch, aber der Staat sollte laizistisch sein, Staat und Religion getrennt. Die Staatsidee war der Französischen Republik abgeborgt, sie kennt nur Staatsbürger, keine Autonomierechte für ethnische, sprachliche oder religiöse Minderheiten.
Mit Recep Tayyip Erdoğan, 2003 bis 2014 Ministerpräsident, seither Präsident der Türkei, und seiner Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung hat eine muslimisch-konservative Richtung die Macht übernommen. Schien dies zunächst auf eine Zurückdrängung der diktatorischen Strukturen des Kemalismus und der Vorrechte der Armee hinauszulaufen, so ist jetzt der Kurs auf eine Islamisierung der Gesellschaft, den Abbau von Bürgerrechten, Demokratie und Menschenrechten, insbesondere der Pressefreiheit offensichtlich. Erdoğan hat, um eine Mehrheit im Parlament zugunsten einer Verfassungsänderung im Sinne eines Präsidialregimes zu sichern, die Immunität vor allem kurdischer Abgeordneter in der Nationalversammlung aufheben lassen – das betrifft 138 von 550 Abgeordneten – und den Friedensprozess mit der kurdischen PKK abbrechen lassen. Seither werden kurdische Gebiete wieder bombardiert, wird Krieg gegen die kurdische Zivilbevölkerung in Ostanatolien geführt. Außenpolitisch drängt die Türkei seit Jahren auf den Sturz von Präsident Assad in Syrien und hat zu diesem Zweck auch mit islamistischen Milizen, darunter dem „Islamischen Staat“ kooperiert. Hier hat sie eine bewusste Verschlechterung der Beziehungen zu Russland, inzwischen aber auch zur EU in Kauf genommen.
Dies alles gehört zum Hintergrund dessen, dass die türkische Regierung den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 2. Juni 2016 zum Völkermord an den Armeniern 1915 und 1916 so scharf attackiert hat. Abgesehen von den üblichen Regierungsaktionen (diplomatischer Protest, Rückberufung des Botschafters) waren zwei Vorgänge besonders bemerkenswert. Erdoğan hat insbesondere den Grünen-Vorsitzenden Cem Özdemir attackiert. Er sei „charakterlos“, der „Mann, der in Deutschland sein eigenes Land des Völkermordes beschuldigt“. Tatsächlich hat Özdemir in seiner Bundestagsrede ausdrücklich „wir Deutsche“ gesagt und „die Menschen in der Türkei“. Hier liegt ein fundamentaler Unterschied. Özdemir sieht sich als Deutscher, der eine türkische Abstammung hat. Erdoğan verlangt von den Türken in Deutschland, dass sie die Interessen der Türkei vertreten.
So haben auch etliche der türkischen Verbände in Deutschland von den türkisch-stämmigen Bundestagsabgeordneten verlangt, sie seien die Vertreter der türkischen Minderheit in Deutschland (nicht etwa die Abgeordneten des ganzen deutschen Volkes, wie es von Rechts wegen sein soll) und sollten daher die Politik der Türkei vertreten. In diesem Sinne hatten bereits vor der Bundestagssitzung Demonstrationen von Menschen türkischer Abstammung gegen den kommenden Beschluss stattgefunden. Tausende Hass-Mails gingen an die türkisch-stämmigen Bundestagsabgeordneten, mit Beschimpfungen als „Armenierschwein“ oder „Hurensohn“; es solle sich jemand finden, der Özdemir „eine Kugel verpasst“.
Wenn dies aus Deutschland kommt und viele der Absender eine deutsche Staatsbürgerschaft haben, fragt sich, welches Verständnis diese Leute von sich haben. Aus jeder Partei wird jemand ausgeschlossen, der sich öffentlich für die Wahl einer anderen Partei ausspricht. Bei der Staatsbürgerschaft ist das nicht vorgesehen. Aber es sollte wieder über staatsbürgerliche Pflichten gesprochen werden, Loyalität zur Gemeinschaft des Grundgesetzes. Auch wenn das für manche linke Ohren nicht opportun erscheint.
Schlagwörter: Armenier, Bundestag, Cem Özdemir, Peter Petras, Staatsbürgerschaft, Türkei, Völkermord