von Stefan Bollinger
Begann es am 4. März 1999, als dem russischen Präsidenten Jelzin die Hutschnur ob der völkerrechtswidrigen Aggression der USA und ihrer Verbündeten gegen Restjugoslawien platzte? Er setzte eine Fallschirmjäger-Kompanie aus einem UN-Kontingent in Bosnien in Marsch, um den kosovarischen Flugplatz Pristina vor den westlichen Truppen zu besetzen. Der US-amerikanischen NATO-Oberbefehlshaber hatte für seine Verbände klare Befehle: Der Flughafen muss den Russen entrissen werden. Allerdings gab es im westlichen Bündnis vor Ort keinen dumpfen Kommissstiefel, sondern der zuständige britische Befehlshaber mochte den Ausbruch eines Dritten Weltkriegs nicht auf seine Kappe nehmen.
Angesichts der sich in den letzten Jahren ständig verschlechternden Beziehungen des Westens zu Russland ist die breit angelegte Argumentation des österreichischen Historikers und Osteuropaspezialisten Hannes Hofbauer für das Verständnis der Situation und die Zwänge etablierter und verfestigter Feindbilder hilfreich. Hofbauer schlägt einen Bogen vom 15. Jahrhundert, als erstmals russische Staatlichkeit auch unmittelbar westliche Interessen berührte über die Kriege des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts zur Gegenwart. Für ihn ist das ständige Feilen an scharfen, verletzenden Feindbildern gegen die aufstrebende, oft diktatorische, auch expansive Macht im Osten, gegen die „bösen Russen“ eine Konstante. Die Kontrolle der eurasischen, sprich: der russischen Kernlande wurde ein Ziel westlicher Politik, egal ob von Briten, Deutschen und heute US-Amerikanern. Seit den ersten geostrategischen Grundlegungen des Briten Halford Mackinder am Vorabend des Ersten Weltkrieges bis zu den heute bekannteren Forderungen Zbigniew Brzezinskis, des polnisch-stämmigen Haudegen, für die US-amerikanischen Konfrontationskräfte. Hofbauer hebt sehr stark auf die ideologischen, theoretischen Fundierungen dieser antirussischen Politik ab, entfaltet hier ein konturenreiches Bild einer Feindschaft, die sich nur ihre Hauptträger und Sprachrohre sucht – zwischen den faschistischen deutschen Konzepten der Eroberungen für ein „Volk ohne Raum“ bis hin zu den US-amerikanischen Konzepten des glücklicherweise „kalt“ gebliebenen Krieges zwischen den beiden Supermächten und ihren Blöcken.
Offenbar hat es wenig mit den Sichten auf die ideologischen Versatzstücke, auf die Schmähschriften und vermeintlich theoretisch fundierten Traktate zu tun, wenn es um gegenseitige Abneigung und Feindschaft geht. Dominierend sind die großen politischen Konstellationen, die das Verhältnis Russlands zu den einstigen oder heutigen großen Mächten bestimmte: in Wien, Konstantinopel, in Paris, Washington und London, in Berlin. Nachdem Russland 1813 den europäischen Großmächten geholfen hatte, einen Eindringling, Napoleon, zu besiegen, wurde es zum eigenartig geliebten Architekten und Garanten einer „Heiligen Allianz“. Die war solange wohlgelitten, wie sie die innenpolitische Aufgabe erfüllte, die bürgerlich-nationale Opposition in Europa niederzuhalten. Russland wurde in dem Moment gefährlich, da sich sein imperialistischer Expansionsdrang in einer Zeit der vermeintlich abgeschlossenen Weltaufteilung gegen die Interessen zunächst der anderen europäischen Großmächte, später auch gegen Japan und die USA, richtete. Das hatte zunächst wenig mit der gesellschaftspolitischen Ausrichtung in Russland zu tun. Zar und später die Sowjets waren gleich ungeliebt, wenn es um westliche Pfründe ging, Koalitionen hatten immer nur eine begrenzte Haltbarkeit, auch wenn sie – wie gegen Hitler – die Zivilisation retten mochten.
Dabei sieht Hofbauer Russland keineswegs als unschuldig an diesen Konflikten an. Er verweist auf dessen Expansion, untersucht panslawistische und eurasische Ideologiekonstrukte von einst und heute. Ihm ist auch klar, dass die Sowjetunion jenseits ihres weltrevolutionären Anspruchs auch als Großmacht agierte. Allerdings durchzieht seine Analyse der Blick auf eine weitgehend defensive Politik. Allein das Gewicht dieses Staates zwischen Brest-Litowsk und Wladiwostok, seine Bevölkerungsreichtum, seine Armee und seine ökonomischen Potenzen machen ihn – in welch politischer Gestalt – zu einer Herausforderung. Auch wenn Hofbauer die Besonderheit der Verbindung zwischen diesen Großmachtambitionen und der Idee einer Gesellschaft des Sozialismus als Bedrohung für die westlichen Mächte unterschätzt, wirkt diese Grundkonstellation bis heute.
Letztlich sind die Seitenhiebe auf die aktive deutsche Rolle nach 1989/91 für einen Österreicher leichter zu formulieren. Er sieht die Bundesrepublik in enger Verbindung mit den Vereinigten Staaten, aber nicht frei von eigenen Ambitionen. Er erinnert aber ebenso daran, dass die Antipathie Deutschlands für die nationalistischen Momente russischer Politik weder mit dem eigenen nationalen Anspruch auf die deutsche Einheit wie mit der Förderung der Separationen und Blockauflösung in Osteuropa in den letzten Jahrzehnten harmoniert. Für Hofbauer ist die heutige Zuspitzung der Weltlage vor allem Ausdruck einer gehassten Rückkehr Russlands unter Putin zu einer eigenständigen Politik in einer nicht mehr von einer Supermacht, den USA mit ihren Verbündeten, zu beherrschenden und auszunutzenden Welt.
Hannes Hofbauer: Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung, Promedia, Wien 2016, 304 Seiten, 19,90 Euro.
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