19. Jahrgang | Sonderausgabe | 11. Juli 2016

Aus dem Nähkästchen

von Hans-Peter Götz

Ich habe kein Problem damit, wenn jemand seine in der Familie ansonsten praktisch nicht gepflegten oder auch mehr oder weniger versteckten jüdischen Wurzeln entdeckt, sich schließlich so völlig mit diesen identifiziert, dass er seinen amtlichen Vornamen Hans durch einen jüdischen ersetzt – nicht zuletzt aus Opposition gegen den eigenen Vater und gegen die ungeliebte Gesellschaft in der DDR. Ich habe damit kein Problem, selbst wenn die oder der Betreffende die Privilegien, die die SED systemkonformen Eliten und deren Angehörigen angedeihen ließ, nicht schallend ausschlägt, solange sie oder er noch innerhalb der Landesgrenzen weilt. Gut, das hat einen gewissen Hautgout, aber, wie der Weise sagt, nichts Menschliches ist mir fremd.
Die Rede ist von Chaim Noll, dessen Vater Dieter genau ein Roman wirklich gelang, der aber richtig: „Die Abenteuer des Werner Holt“, Teil I. Dieter Noll war es auch, der nach der Biermann-Ausbürgerung einen Offenen Brief an Erich Honecker schrieb, den das Neue Deutschland abdruckte und der zum Widerlichsten in dieser an Unappetitlichkeiten nicht eben armen Affäre zählt. Darin denunzierte der Vater die Kritiker der Ausbürgerung als „kaputte Typen wie die Heym, Seyppel und Schneider, die da so emsig mit dem Klassenfeind kooperierten“. Der Sohn rekapituliert diese Geschichte in seinen Erinnerungen „Der Schmuggel über die Zeitgrenze“ ausführlich – bis hin zur persönlichen Konsequenz: „Wenn irgendetwas unser Weggehen aus der DDR beschleunigt hat, war es dieser Brief.“
Schnell ein Problem habe ich hingegen, wenn solch ein spät Berührter dann unter umgekehrten Vorzeichen dieselben Unarten der einseitigen Parteinahme sowie der Willkür im apodiktischen Urteil annimmt, die er an denen, von denen er sich abgewendet hat, zu Recht harsch kritisiert. So wettert Noll zum Beispiel im Hinblick auf den Nahost-Konflikt dagegen, dass „die DDR-Propaganda konsequent pro-arabisch“ war und beim Sechs-Tage-Krieg von 1967 verschwiegen hätte, dass „die arabischen Staaten den Krieg ausgelöst hatten“. Stattdessen sei Israel zur „Gefahr für den Weltfrieden“ erklärt worden. Noll war zu diesem Zeitpunkt dreizehn Jahre alt „und weit entfernt, der Propaganda der Partei zu opponieren. Doch der Hass auf Israel schien mir unsinnig, ich war außerstande, ihm zu folgen.“
Einmal abgesehen davon, dass dieser Krieg am 5. Juni 1967 mit einem Überraschungsschlag Israels begann, dem fast die gesamten Luftstreitkräfte Ägyptens zum Opfer fielen, blendet eine Sicht auf den Nahost-Konflikt, die 1967 einsetzt, auch aus, dass dies nach der Suez-Krise von 1956 bereits der zweite Krieg war, der durch einen Überfall Israels in sein heißes Stadium trat. Da verwundert es dann nicht mehr wirklich, dass auch die Vorgeschichte des Konflikts Noll keine Erwähnung wert ist. Insbesondere nicht die großflächige Vertreibung der einheimischen Palästinenser durch jüdische Einwanderer und Siedler seit Ende des 19. Jahrhunderts und insbesondere seit der Balfour-Deklaration von 1917 sowie die dabei begangenen Verbrechen. Es waren aber keine Palästinenser, die – wenn der Akt tatsächlich historisch stattgefunden haben sollte – durch die Verurteilung Jesu zum Tod am Kreuz den Vorwand dafür geliefert hatten, was dem jüdischen Volk während der folgenden 2.000 Jahre angetan wurde, und damit zugleich eine Art Rechtfertigung dafür, dass jüdische Aktivisten mit den Palästinensern bis heute vergleichbar verfahren.
Eine ähnliche zerebrale Linsentrübung offenbart Noll, wenn er für die DDR pauschalisiert: „Jude sein war ‚kein Thema‘. Heute frage ich mich, warum nicht. Warum unsere Eltern nur ungern darüber sprachen. Warum auch wir es vorzogen – aus dem Instinkt empfindsamer Kinder – darüber zu schweigen.“ Soweit, so gut. „In einem angeblich ‚antifaschistischen‘ Staat, zwei Jahrzehnte ‚danach‘.“ Jedoch: „Erst heute wird mir bewusst, dass wir unter Menschen aufgewachsen sind, vor denen wir uns fürchteten, Menschen, die in ihrem Denken und Fühlen von der Nazizeit geprägt waren, die redeten wie Nazis, schwiegen und lachten wie Nazis. Die zu einem nicht geringen Teil schlicht und einfach Nazis waren.“
Richtig ist, dass Millionen von Mitläufern des Hitler-Regimes weder in der Sowjetischen Besatzungszone noch in der DDR je abverlangt wurde, über ihr Verhalten im Dritten Reich zu reflektieren, geschweige denn, darüber Rechenschaft abzulegen. Ihnen wurde von der Besatzungsmacht wie von deren wenigen kommunistischen Parteigängern, die die KZs überlebt hatten oder aus der Emigration zurückgekehrt waren, vielmehr die Chance eingeräumt, sich quasi übergangs- und erklärungslos auf die Seite des historischen Fortschritts zu stellen, der nunmehr angesagt war. Aber „zu einem nicht geringen Teil“ und auch noch zwanzig Jahre später „schlicht und einfach Nazis“?
Auch der „kommunistische Antisemitismus“, den Noll in der Sowjetunion wie in der DDR ausmacht, ist so eine Pauschalisierung, die das Kind mit dem Bade auskippt. Kommunismus und Antisemitismus gehen per se nicht zusammen. Was nicht heißt, dass es in den Staaten des sogenannten real existierenden Sozialismus nicht bis in führende Positionen hinein Menschen gegeben hätte, die sich zwar für Kommunisten hielten, aber zugleich antisemitisch waren und auch eine entsprechende Politik betrieben.
Dass ich das Buch trotzdem zu Ende gelesen habe, liegt am Klemke-Bonus: Noll lebt mit einer Tochter von Werner Klemke zusammen. Ich schätze den 1994 verstorbenen Buchgestalter und Illustrator vor allem seines grafischen Werkes wegen sehr, das keineswegs auf den frechen Kater zu reduzieren ist, der so viele Cover der begehrten DDR-Monatszeitschrift Das Magazin zierte. Und meine eigene Biographie weist überdies eine Episode einer allerdings sehr indirekten Berührung mit Klemke auf, von der ich an anderer Stelle in diesem Magazin kurz berichtet habe.
Dass ich das Buch zu Ende gelesen habe, war im Übrigen gut so, denn die Lektüre ließ mich eintauchen in das ganz spezielle Biotop der künstlerischen Prominenz in dem Teil von Berlin, der zu DDR-Zeiten Hauptstadt war und zum Rest der Republik in vielerlei Hinsicht, materiell wie mental, kontrastierte. Ganz generell war im Verhältnis zu Berlin die übrige DDR ja durchweg Provinz. Vielleicht mit temporärer Ausnahme von Leipzig. Zumindest im Frühjahr und im Herbst. Messebedingt. Trotzdem gab es natürlich auch Gemeinsamkeiten, deren eine Noll treffend so benennt: „Es gehörte zu den Merkwürdigkeiten dieser Jahre, dass alles, was im Osten wirkliches Sozialprestige verlieh, aus dem Westen kam: […] Jeans, Hemden, Jacken […].“
Besonders interessant wird das Buch immer dann, wenn Noll den Vorhang vor Ereignissen und Entwicklungen lüftet, der zu DDR-Zeiten aus politischen oder anderen Gründen in der Regel geschlossen blieb, oder unbekanntes Substanzielles zu bekannten Persönlichkeiten mitteilt – von der „Faust“-Inszenierung von 1968 im Deutschen Theater, die zum Skandal geriet und zum Rücktritt des Intendanten Wolfgang Heinz führte, über seine literarischen und persönlichen Begegnungen mit Christa Wolf bis zu seinem intensiven Kontakt mit „Felsensteins berühmtem ‚Musiktheater‘“.
Und nicht zuletzt: Die DDR kannte keinen Boulevard, was offenbar so viele ihrer Einwohner so schmerzlich vermisst haben, dass es der Super Illu praktisch bis heute (2011) eine Reichweite von bis zu 3,5 Millionen Lesern beschert. Was man in der DDR über Prominente erfuhr, basierte vor allem auf Hörensagen. Diesen Boulevard liefert Noll nun reichlich nach. Dass der Schriftsteller Hermann Kant und seine damalige Angetraute, die Aktrice Vera Oelschlägel, beide Westwagen fuhren – „das deutlichste Symbol sozialer Privilegierung“. Dass Karl-Georg Egel, der unter anderem das Drehbuch für den Fernseh-Mehrteiler „Dr. Schlüter“, einen Straßenfeger, verfasst hatte, „den Aal mit den Fingern“ und ganz generell „durch seinen enormen Appetit“ auffiel. Dass, was ihn, Noll, selbst anbetraf, „das Trinken von Likör aus geschliffenen Karaffen ein symbolischer Akt des Widerstands gegen die Diktatur des Gewöhnlichen [war], die man in unserem Land zum Lebensgesetz erhoben hatte“. Dass „Karola Stoph und ihre Mutter […] ihre Garderobe im Katalog von Burda aussuchten und von dort geliefert bekamen“. Tochter und Frau des DDR-Ministerpräsidenten kauften bei Burda. Nicht in Paris! Wirklich „Diktatur des Gewöhnlichen“ – bis hinauf an die Spitze…

Chaim Noll: Der Schmuggel über die Zeitgrenze, Verbrecher Verlag, Berlin 2015, 483 Seiten, 26,00 Euro.