von Jürgen Lauer
Zur Erinnerung an den Ersten Weltkrieg findet auch in diesem Jahr so manche Gedenkveranstaltung statt, ob über den Gräbern von Verdun, in einer in Ypern beginnenden Gedenkwanderung durch Belgien oder an der Somme im Gedenken an den Beginn der gleichnamigen Schlacht zwischen Saint-Quentin und Amiens.
Einer, der wie so viele damals den Krieg begrüßt hatte als die Chance, mit der Vätergeneration abzurechnen und den „neuen Menschen“ zu schaffen, war der Dichter Walter Hasenclever, geboren 1890 in Aachen.
Nach Studien in Oxford, Lausanne und Leipzig fand er in der Freundschaft mit Schriftstellern wie Franz Werfel, Verlegern wie Ernst Rowohlt und Malern wie Oskar Kokoschka seine Welt und seine Berufung als Dichter.
Mit Lyrik und Theaterstücken hatte er erste Erfolge. Er wurde er einer größeren Öffentlichkeit besonders durch sein Drama „Der Sohn“ bekannt, das, ein Jahr vor Kriegsausbruch entstanden, vom bedeutenden Regisseur Max Reinhardt inszeniert und als eines der Meisterwerke des expressionistischen Schauspiels gefeiert wurde
Hasenclevers Erwartungen, der Krieg möge einer geistigen Erneuerung und so einer neuen Epoche den Weg bereiten, wurden jedoch schnell enttäuscht.
Noch zum Jahresende 1914 setzte er die Idee um, in Weimar ein literarisches Konzil zu veranstalten – zur kritischen Würdigung kriegsbegeisterter Literatur, bei der er seine eigenen Veröffentlichungen nicht ausnahm. Das Konzil fand unter dem Vorsitz von Ernst Rowohlt und unter Teilnahme von Martin Buber statt.
Vor allem das zerstörte Löwen, das Hasenclever 1916 auf Reisen durch das besetzte Belgien sah, erschütterte ihn so, dass er in eben diesem Jahr ein Gedicht verfasste, das das Grauen der sinnlosen Zerstörung festhielt:
O Schreckensnacht Löwen, wir alle sind schuldig.
Gott floh aus den Kirchen der brennenden Stadt.
Kanäle verwesen, Abfluss der Toten.
Arme irre, verfallene Frau gräbt in den Scherben,
scharrt in den Kellern Verschüttete aus gequollenem Schrei.
Verbogene Straße lagern im Haufen der grauen Verwüstung.
Als Soldat in Mazedonien begann er noch 1916, den antiken Stoff „Antigone“ zu einem Antikriegsdrama zu verarbeiten. Persönlich, wie aus einem Brief hervorgeht, verstand er das Stück als einen „Kampfruf gegen das Machtprinzip“. Er ließ die todgeweihte Antigone ausrufen:
„Ich rede zu euch Witwen und Waisen,
die ihr heimkehrt in die einsamen Hütten,
wo die Seufzer der Erschlagenen
von den feuchten Steinen des Herdes
schrecken in euren Abendtraum:
Wollt ihr, dass eure Kinder,
überschrien von dem Ruhm des Schlachtrufs,
euer elendes Schicksal teilen?“
1917 – Hasenclever war inzwischen wegen physischer und psychischer Probleme aus dem Kriegsdienst entlassen worden – wurde dieses Werk mit dem Kleistpreis ausgezeichnet. 1927 war es anlässlich der Feierlichkeiten zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution mit einer Aufführung in Moskau Teil des dortigen Festprogramms.
Hasenclever wollte durchaus als Schriftsteller zur geistigen Führerschaft der Gesellschaft zählen, und sein Gedicht „Der politische Dichter“ aus dem Jahre 1917 bringt dazu mehr als eine Andeutung:
„Er wird ihr Führer sein. Er wird verkünden.
Die Flamme seines Wortes wird Musik.
Er wird den großen Bund der Staaten gründen.
Das Recht des Menschentums. Die Republik.“
Doch die revolutionären Ereignisse am Ende des Krieges stießen ihn ab, wie er seinem jüngeren Bruder Paul im Dezember 1918 nach Westerland schrieb: „Eine Zeitlang konntest Du Dich in Berlin vor politischen Vereinen, Kongressen, Versammlungen und Schiebern nicht retten, die Dir allesamt irgend einen Ausschuss oder Präsidenten anboten. Ein Gasangriff von politischen Dilettanten, der seinesgleichen in der Geschichte sucht.“ Hasenclever zog sich in die schriftstellerische Tätigkeit zurück, schrieb Lyrik und dramatische Werke wie „Jenseits“ und befasste sich vorwiegend mit der Philosophie des Buddhismus sowie mit dem schwedischen Mystiker Svedenborg, dessen Werke er übersetzte.
Von 1924 bis zum Ende der Zwanzigerjahre lebte Hasenclever in Paris als Korrespondent für das Berliner „8 Uhr-Abendblatt“. Diese Aufgabe war nicht einfach, schrieb er doch für eine deutsche Leserschaft, die nach der Zuschreibung der alleinigen Kriegsschuld im Vertrag von Versailles, nach Reparationsauflagen und der schlimmsten Inflation der deutschen Geschichte und nicht zuletzt nach der Besetzung des Rheinlands und des Ruhrgebiets durch französische Truppen wenig Anlass hatte, Paris und Frankreich als Gegenstand ihres Interesses oder ihrer Sympathie zu sehen.
Er fand in seinen Berichten aus Paris manche Gelegenheit, Friedenswillen zu beschwören. Anlässlich der Beisetzung des großen Sozialistenführers und Verfechters der Verständigung mit Deutschland Jean Jaurès im Panthéon schrieb er: „In diesem Augenblick bricht die schweigende Menge in einen Ruf aus. Es ist mehr als ein Ruf, es ist eine Fanfare: Jaurès … Jaurès … Dieser Ruf pflanzt sich an den Ufern der Seine fort. Tausende von Menschen singen in diesem Namen eine einzige Melodie: Keinen Krieg mehr! Frieden!“
In Paris begann eine tiefe lebenslange Freundschaft mit Kurt Tucholsky, der in diesen Jahren als Korrespondent für die Weltbühne tätig war. Hasenclever schätzte die Qualitäten des Essayisten und Satirikers außerordentlich. Es kam sogar zu einer gemeinsamen Komödienidee, die sie 1931 während eines Englandaufenthalts umsetzten: „Kolumbus oder die Entdeckung Amerikas“. Der Erstaufführung am Leipziger Schauspielhaus im September 1932, schon während der Proben von rechten Gruppierungen wegen der „jüdischen Autoren“ angefeindet, folgte nur noch fünf weitere Aufführung, dann wurde das Stück abgesetzt. Als sich Tucholsky 1935 in seinem Exil in Hindås / Schweden, wohin er sich bereits 1930 zurückgezogen hatte, das Leben nahm, schrieb Hasenclever an seine Schwester: „Um ihn trauere ich heute am meisten.“
In Frankreich lernte Hasenclever nicht zuletzt an den großen französischen Lustspieldichtern, wie in Komödien Menschenkenntnis und Lebensklugheit zu literarischem Esprit verdichtet werden können. Er wollte der deutschen Literatur die Komödie französischer Leichtigkeit schenken, und in der Tat wurde er in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre mit Lustspielen wie „Ein besserer Herr“ oder „Ehen werden im Himmel geschlossen“ zum meistgespielten deutschen Bühnenautor. Zugleich blieb er misstrauisch gegenüber macht- und gewaltgeprägten Tendenzen. Immerhin hatte Hitler 1925 „Mein Kampf“ veröffentlicht, in dem zu lesen war: „Der unerbittliche Todfeind des deutschen Volkes ist und bleibt Frankreich.“
1929 machte sich Hasenclever in Paris an die Arbeit zu einer Komödie in neuem satirischem Stil, Titel: „Napoleon greift ein“. Das Ganze wurde eine Satire auf die Finanzkolonialisierung Europas durch die USA und den in Europa grassierenden faschistischen Bazillus, vor allem aber auf die internationale Organisation nationaler Egoismen.
Die Nationalsozialisten sahen darin eine Verspottung ihrer Ideologie. Als sie Jahre später endgültig bestimmten, was Kultur sei und was nicht, brannten Hasenclevers Werke am 10. Mai 1933 in Berlin zusammen mit denen von Thomas Mann, Kurt Tucholsky, Stefan Zweig und Erich Maria Remarque und weiteren über 140 Autoren.
Hasenclever war da längst zum Exil gezwungen. Die Verbreitung seiner Werke war in Deutschland verboten. Dem Enkel eines Aachener Fabrikanten jüdischer Abstammung wurde als „Jude Walter Hasenclever“ 1938 auch die deutsche Staatbürgerschaft aberkannt.
Es gelang Freunden in England, für ihn eine Aufenthaltsgenehmigung zu erwirken. Von Juli bis September 1938 weilte er in London. Dort entstand sein letztes Bühnenstück, dessen Botschaft mit dem alttestamentarischen Thema aus der Esthergeschichte ein Appell an die Realisierung von Humanität und Nächstenliebe war, verbunden mit einer erstmaligen öffentlichen satirischen Stellungnahme gegen die NS-Ideologie. Es bekam den Titel „Konflikt in Assyrien“. Darin sah Hasenclever schon vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges Entwicklungen des Naziterrrors bis zu den Vernichtungslagern voraus; so wird in dem Stück gegen die Juden zum Ausdruck gebracht: „Ihr Leidensweg wird nie ein Ende haben, weil sie die ewigen Zerstörer und Unruhestifter sind. Ihre Rasse ist ein Verhängnis für die Welt, denn sie kann nirgendwo Wurzeln fassen. Deshalb muss man sie ausrotten.“
Seine kulturelle Heimat sah er in Frankreich, nicht erst, seit ihn die Nationalsozialisten seiner deutschen Staatsbürgerschaft beraubt hatten.
Nach dem Londonaufenthalt setzte sich Hasenclevers Exil in Frankreich fort. Das Misstrauen und die Kriegsangst dort brachten ihm mehrfach Internierungen ein, die er in seinem letzten Roman „Die Rechtlosen“ mit den bitteren Worten kommentierte: „Was sind wir eigentlich? Deutsche waren wir einmal. Juden können wir nicht werden. Frankreich lehnt uns ab. Amerika verschließt sich. Vom Völkerbund wollen wir schweigen. Was bleibt noch? Wir haben unsere Wurzeln ausgerissen und stolpern mit jedem Schritt doch über sie. Wir sind wirklich heimatlos.“
Mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht im Mai 1940 in Südfrankreich kam Hasenclever in das Internierungslager Les Milles, in eine stillgelegte Ziegelei bei Aix-en-Provence. Dort starb er am 21. Juni 1940 an einer Überdosis Veronal.
Nach dem Krieg erfüllten sich beinahe die Absichten der Nationalsozialisten, Hasenclevers Namen und Werk der Vergessenheit anheim zu geben. Nur wenigen Literaturkennern waren seine Werke noch in Erinnerung. Damit sie ihm nicht auch noch seinen Namen nehmen konnten und die Möglichkeit, sich mit ihm zu beschäftigen, wurde vor 20 Jahren die Walter-Hasenclever-Gesellschaft gegründet. Sie ist, zusammen mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach, das Hasenclevers literarischen Nachlass bewahrt, mit der Stadt Aachen und den Aachener Buchhändlern wie dem Einhard-Gymnasium, an dem er das Abitur ablegte, Trägerin des mit 20.000 Euro dotierten, nach Walter Hasenclever benannten Literaturpreises, der alle zwei Jahre verliehen wird. Der österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier sagte vor zwei Jahren in seiner Dankrede zur Verleihung des Preises: „Walter Hasenclever hat man das Leben genommen. Und wir wissen, wer dieser ‚man‘ ist. Es waren die verdammten Nazis. Sie haben seine Bücher verbrannt, sie haben ihn vertrieben. Lange bevor er sich das Leben genommen hat, haben sie ihm das Leben genommen.“
In der Reihe der bisherigen Preisträger stehen bedeutende Autorinnen und Autoren, wie die nachmaligen Literatur-Nobelpreisträgerinnen Elfriede Jelinek und Herta Müller, wie Peter Rühmkorf, George Tabori, Oskar Pastior, F. C. Delius, Christoph Hein, Ralf Rothmann und Michael Lentz.
Jenny Erpenbeck wird im November dieses Jahres den Preis in Aachen entgegennehmen.
Jürgen Lauer, Jahrgang 1937, studierte Romanistik, Geschichte, Sozialwissenschaften und Rechtswissenschaften. Er arbeitete als Lehrer am Einhard-Gymnasium Aachen (der Schule des Absolventen Walter Hasenclever) und zehn Jahre lang als Mitarbeiter am Landesinstitut NRW für Schule und Weiterbildung im Bereich Interkulturelle Verständigung. Der Autor lebt in Aachen.
Schlagwörter: Bücherverbrennung, Drittes Reich, Exil, Jude, Jürgen Lauer, Literatur, Nationalsozialismus, Walter Hasenclever