von Reinhard Wengierek
Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Atzes politisches Musiktheater für Kinder, Witzels fantasierender Teenager und ein Irrwisch im Farbrausch aus Mutterflammenlichtblau…
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Sagen wir mal mutig: In Europa gibt es das nicht allzu häufig – Musiktheater für Kinder. Freilich, unsere großen Opern machen Programme für die Jungen und Jüngsten, doch eben eher nebenher. „Atze“ in Berlin jedoch tut das institutionalisiert, für 80.000 Besucher im Jahr. Trotzdem muss diese Bühne unermüdlich ringen um die dürftige staatliche Stütze. Dabei ist man hier ziemlich innovativ und fleißig bis zum Umfallen. Allein im ersten Quartal dieses Jahres zeigte „Atze“ rund zwanzig hinsichtlich Inhalt und Ästhetik ganz unterschiedliche Produktionen. Tolle Sache!
Wie auch die jüngste Produktion „Die Ministerpräsidentin“, für die Theaterchef Thomas Sutter den gleichnamigen Roman des Norwegers Tore Tungodden szenisch adaptierte. Es geht um die 12-jährige Hanna Fredriksen, die von der neu gegründeten Partei „Stimme der Zukunft“ als Überraschungs-Kandidatin für die norwegische Präsidentenwahl aufgestellt wird und unter abenteuerlichen Schwierigkeiten angstvoll und skeptisch in einen heftigen Wahlkampf zieht. Motto: Kinder an die Macht.
Ein keckes, ein kühnes Gedankenexperiment um das Wahlrecht für Kinder, ein Märchen, das da durchgespielt wird. Dabei ist die Sache sehr komplex; beinahe zu komplex für Neun- bis 14jährige. Wird doch sehr, sehr viel thematisiert: Parteiengezänk, Parteien-Blabla, Medienmanipulation, Wahlkampf-Wahnsinn, Wahlkampf-Sinn, Abgeordneten-Schwachsinn, Abgeordneten-Schwerstarbeit, die hohen Ansprüche, die ein Regierungsamt stellt und denen ein Schulkind nicht gewachsen sein kann, das immerhin ahnt, was es heißt: ein Kabinett bauen, ein Regierungsprogramm formulieren. Das Stück vermittelt jede Mange Wissen, Widerspruch, Dialektik. Das wird in gut zwei alle Aufmerksamkeit fordernden Stunden witzig, saftig, lustvoll durchgespielt (in der Pause gibt’s Wahlwerbung der verschiedenen Parteien mit ihren Kandidaten im Publikum). Mit viel Musik und Gesang und mit dem für gewisse Momente auch heiligen Ernst. – Alles in allem: Eine ungewohnt aufklärerische, früh schon zur gesellschaftlichen Teilhabe animierende Veranstaltung. Also bei allem komödiantisch ausgestellten Spaß, dem kabarettistischen Jux, der kindgemäßen Blödelei eine große Ernsthaftigkeit. Eine profunde Schulstunde in Sachen Demokratie – im sagen wir: Musical-Sound. Muss erst mal jemand nachmachen. Bravo „Atze“!
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Kleinstadtmief, alte fette Nazis in neuen fetten Nestern, der von den Eltern bevorzugte kleine Bruder, die kranke Mama, die doofen Ansagen im Beichtstuhl, die nervige Fürsorge der Caritas-Tante, die langen Haare, die Beatles, die Stones, die erste Freundin, die schweren Ängste, die großen Ungerechtigkeiten, die verrückten Fantasien – ein namenlos gebliebener superschlauer Überflieger im Westdeutschland der 1960er Jahre hat es mit seinen gut dreizehn Lenzen wahrlich nicht leicht mit sich und seiner Pubertät und seiner Heimat im Hessischen. Womöglich sind es solcherart Daseinsprobleme, die zur Gründung der RAF führten, als deren Erfinder sich der pickelige Pubertätling sieht in seinen tollen, wahnhaften Fantasien.
Frank Witzel, Jahrgang 1955, hat mit seinem weit schweifenden, phantastisch irrlichternden, aber auch vertrackt verschachtelten 800-Seiten-Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ Privat-Alltägliches mit (Pop-)Kulturellem und Politischem aberwitzig verquickt und erzählt so, teils ziemlich berührend, teils deftig humorvoll vom verstörenden Erwachen der alten Bundesrepublik aus dem Schweldunst der deutsch-braunen Vergangenheit. Wofür er 2015 den Deutschen Buchpreis erhielt. Die Jury urteilte trefflich: Der jetzt 60 Jahre alte Autor (der seit seinem 45. Lebensjahr an seinem überbordend assoziativreichen Romankonstrukt werkelte) habe einen „spekulativen Realismus“ verfasst.
In einer Koproduktion der Schaubühne Berlin mit dem Schauspiel Stuttgart hat sich dessen Chef Armin Petras des literarischen Rundumblicks auf die „alte BRD“ angenommen; nachdem er zwei Jahre zuvor das – so seine Meinung – ostdeutsche Gegenstück inszenierte. Nämlich Christa Wolfs Roman über die „Anfänge“ der DDR „Der geteilte Himmel“, der allerdings in der Zeit vor und nach dem Mauerbau 1961 spielt.
Mit Witzels monumentalem Erzähl-Kaleidoskop ist Regisseur Petras in 140 Minuten fertig. Er schnappt sich ein paar kernige Motive und betreibt ansonsten flott unterhaltsam anekdotische Stimmungsmalerei mit kabarettistischem Einschlag. Macht gelegentlich Spaß, was aufs Konto des launigen, gern auch vehement kindertümelnden Ensembles geht. Ist aber letztlich doch ziemlich platt. Gefühliges Oberflächen-Entertainment, das allerhand hervorzupft, jedoch nichts wirklich anfasst. Oder gar anpackt. Die so dahin wabernde Veranstaltung lässt unberührt und bleibt weit entfernt von einem schlüssigen Epochenbild, das der formidable Autor entwirft. Allein die Schuljungen-Rockband „Die Nerven“ sorgt zwischendurch für Krach (für allzu empfindsame Ohrmuscheln werden – haha! ‑ schalldämpfende Stöpsel verteilt). Und wenigstens die Bühnenbildnerin Katrin Brack setzt ein starkes Sinnbild, indem sie drei Dutzend Schaufensterpuppen aufstellt mit Klamotten im Look der 1960er Jahre. So wie in dem Kaufhaus, das die Terroristen abfackelten. Oder wie überhaupt die vermeintlich so erstarrte, verpuppte BRD-Wohlstandsgesellschaft anno 1969.
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Ein denkwürdiges Datum, dieser 17. August 1826. Da rudert ein gewisser August Kopisch, abgebrochener Kunststudent und Lebenskünstler, mit zwei Kumpels an der Küste Capris entlang hin zu einer ominösen Meeresgrotte, wo angeblich, so der Volksmund, der Teufel tobt. Doch die drei vermuten dort, auf dem Grunde des Meeres, „Altertümer“. Und so springen sie ins Wasser. Und staunen, als es unter ihnen blau schimmerte „gleich den Flammen des entzündeten Weltgeists“. Sofort suchen sie nach einer Bezeichnung für das Naturwunder; Kopisch sagt „Grotta azzurra“. Ein Name, der alsbald zum Begriff wurde, sein Erfinder freilich, der Entdecker der Blauen Grotte, versank mit dem Lauf der Zeit ins Vergessen.
Jetzt holt ihn Berlins Alte Nationalgalerie aus der Versenkung mit der Ausstellung „August Kopisch – Maler, Dichter, Entdecker, Erfinder“. Offensichtlich ein Multitalent, dieser Kaufmannssohn aus Breslau, Jahrgang 1799, der nach Italien kam. Dort trieb er sich emsig herum in Roms und Neapels Künstlerkreisen, verdiente sich Taschengeld als Schreiber von Gedichten (seine Dramen führt leider keiner auf), als Übersetzer und Andenkenhersteller (Zeichnungen und Gipsplastiken vom Vesuv). Oder als Fremdenführer (Pompeij, Herculaneum); seine prominenteste Kundschaft 1827: der preußische Kronprinz Friedrich Wilhelm nebst Gemahlin. Ein paar Jahre später kommt Don Augusto prussiano, wie man ihn nannte in Bella Italia, nach Berlin und landet schließlich, nach Thronbesteigung seines Gönners Friedrich Wilhelm, im königlichen Hofmarschallamt.
Als Maler gelangen ihm (Landschafts-)Bilder ganz eigener poetischer Strahlkraft, besonders durch eine sensationelle Farbgebung, als hätte er die moderne Acrylfarbe vorweggenommen. Er selbst sprach von „Mutterflammenlichtblau“ oder „Chrysograsbrillantfeuergrün“.
Trotzdem, Kopisch malte nur wenig. Umso mehr schrieb er. Pompöse Huldigungs- und Heldenpoeme, Vertonung von Gedichten, eine Übersetzung von Dantes „Göttlicher Komödie“ sowie – wer hätte es gedacht! – die Mär von den „Heinzelmännchen von Köln“, deren Illustrationen die Ausstellung genüsslich ausbreitet. 1834 ließ er sich den von ihm sonderlich für die Mitnahme auf Reisen entwickelten „Schnellofen“ patentieren. 1853 starb er an einem Schlaganfall. Postum erschien sein Verzeichnis der Potsdamer Schlösser und Gärten. – Kopisch ein Irrwisch, ein Multitalent. Ein kleines Originalgenie, das mit einigen wenigen Bildern aufgrund ihrer Komposition und Färbung in die Kunstgeschichte einging, ansonsten aber unbekannt blieb. Alle kennen die „Heinzelmännchen“ und die Blaue Grotte, keiner kennt August Kopisch. Und dessen Farb-Räusche. Damit ist jetzt Schluss, dank der faszinierenden Schau an prominenter Stelle.
Schlagwörter: Alte Nationalgalerie, Armin Petras, Atze, August Kopisch, Frank Witzel, Musiktheater, Querbeet, Reinhard Wengierek