von Hubert Thielicke
In Europa scheinen die Dinge langsam in Fluss zu kommen. Der Tagung des NATO-Russland-Rates im April – der ersten seit 2014 – kam wohl eher symbolische Bedeutung zu; sie könnte aber auch die „Schwalbe“ sein, die den Sommer ankündigt. Deutlicher war die Resolution der französischen Nationalversammlung vom 28. April, welche die Regierung auffordert, die antirussischen Sanktionen zu beenden. Werden nun die anstehenden Tagungen von EU und NATO diesen Ball aufnehmen oder aber zu einer Verhärtung der Situation führen? Beim Warschauer NATO-Gipfel im Juli geht es um das militärische Verhalten an Russlands Westgrenzen. Wer wird die Richtung bestimmen? Die eher an einer Einigung mit Russland interessierten Westeuropäer oder die antirussische Fraktion, vor allem Polen und die baltischen Staaten, unterstützt von den USA und Großbritannien? Deutschland kommt eine Schlüsselrolle zu, nicht nur angesichts seiner Interessen als Macht im Zentrum Europas, sondern auch aufgrund seines OSZE-Vorsitzes. Aufschlussreich waren in dieser Hinsicht zwei Berliner Tagungen im April: das vom Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft mit organisierte Berlin east forum (18.-19.04.) und das 1. Egon-Bahr-Symposium, das gemeinsam vom Willy-Brandt-Kreis, der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Landesvertretung Hamburgs in der Bundeshauptstadt durchgeführt wurde (21.04.).
In seinem Einführungsvortrag auf dem Symposium bekannte sich Außenminister Steinmeier zum Grundprinzip der Brandtschen Ostpolitik: „Russland ist unser größter europäischer Nachbar. Oder wie Egon einmal sagte: ‚Amerika ist unverzichtbar. Russland ist unverrückbar.‘ … Nachhaltige Sicherheit für Europa gibt es nicht ohne und schon gar nicht gegen Russland.“ Gleichzeitig betonte er die „Risse“ im Verhältnis zu Russland und bemühte stereotyp die „völkerrechtswidrige Annexion der Krim“. Als Grundkonzept für die derzeitige Politik gegenüber Russland sprach Steinmeier von einem „Doppelten Dialog“: „Kooperation, wo möglich – Dialog und Bewusstsein über Unterschiede, wo nötig!“ Die Kooperation Russlands beim Iran-Abkommen sei sehr wertvoll gewesen; nun brauche man es bei einer Lösung für Syrien. Kooperation sei nicht nur möglich im Rahmen der OSZE, sondern auch zwischen EU und Eurasischer Wirtschaftsunion sowie zwischen NATO und russischem Militär. Innerhalb der NATO hätte er schon länger für ein „Mindestmaß an Vertrauensbildung auch auf militär-technischer Ebene gestritten“ und im Rahmen des OSZE-Vorsitzes schlug er „die Einführung eines gemeinsamen Krisenreaktions- und Mediationsmechanismus“ vor. Auf die in der Diskussion gestellte Frage zur NATO-Präsenz im Osten reagierte Steinmeier zurückhaltend: eine dauerhafte Truppenstationierung würde der NATO-Russland-Schlussakte widersprechen. Hier zeichnete sich die deutsche Zustimmung zu einer „rotierenden Präsenz“ ab.
In der Diskussion fand die von Horst Teltschik, dem ehemaligen außenpolitischen Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl und späteren Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, vorgetragene vehemente Kritik an der westlichen Politik gegenüber Russland große Beachtung. Die Sicherheitsfrage müsse Schlüsselthema in den Beziehungen zu Russland bleiben, so Teltschik. Erklärtes Ziel der Pariser Charta von 1990 war eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok. Was sei aber daraus gemacht worden? Letztlich habe keine Regierung im Westen in den mehr als 20 Jahren ernsthaft den Versuch unternommen, dieses Ziel weiter zu verfolgen. Der Vorschlag von Präsident Medwedew in seiner Rede vom Juni 2008 in Berlin, einen juristisch verbindlichen Vertrag über die europäische Sicherheit abzuschließen, sei im Westen ohne Resonanz geblieben. Genauso wenig Gehör habe die Rede von Präsident Putin 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz gefunden. Bilanziere man die Entwicklung, so dränge sich der Eindruck auf, dass sich der Westen, allen voran auch die deutsche Politik, vornehmlich auf die „weichen Themen“ wie Menschenrechte, Zivilgesellschaft, Demokratie, Pressefreiheit und so weiter konzentriert habe, während für Russland die Sicherheitsthemen im Vordergrund standen: Osterweiterung der NATO; Einkreisungsbefürchtungen; die militärische Intervention der NATO auf dem Balkan – ohne UNO-Mandat!
Es sei zwar, so Teltschik weiter, eine Sicherheitspartnerschaft Deutschlands mit Russland erklärt worden. „Ist sie aber jemals mit Substanz ausgefüllt worden?“, fragte Teltschik. Das gelte ebenfalls für die Sicherheitspartnerschaft der EU mit Russland. Auch der Vorschlag von EU-Kommissionspräsident Prodi gegenüber Putin, eine Gesamteuropäische Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok zu verhandeln, sei nicht weiterverfolgt worden. Zu einer Kooperation über ein Raketenabwehrsystem sei es nicht gekommen. Es habe viele hoffnungsvolle Ansätze gegeben, mit der ungelösten Ukrainekrise stehe man aber nun wieder ziemlich am Anfang eines Prozesses, friedliche Zusammenarbeit neu zu entwickeln. (Zum vollen Wortlaut des Beitrages von H. Teltschik: siehe XXL in dieser Ausgabe – die Redaktion.)
Zur Ukrainekrise entwickelte sich eine angespannte Diskussion zwischen dem ehemaligen stellvertretenden russischen Außenminister Adamischin und dem früheren polnischen Premier Cimoszewicz, der das russische Vorgehen als „Aggression“ bezeichnete, dann aber einen interessanten Lösungsvorschlag zur Krim vortrug: Das Problem könne nur mit Zustimmung der Ukraine gelöst werden; nötig seien ein „faires Referendum“ sowie eine „Kompensation“ für die Ukraine.
Einen prosperierenden gemeinsamen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok werde es nur mit Russland geben, so resümierte der ehemalige Bundeswirtschaftsminister und jetzige Geschäftsführer des Weltwirtschaftsforums in Davos, Philipp Rösler, die Ergebnisse des Berlin east forums, das unter dem Motto stand: „Ein Wirtschaftsgebiet im Umbruch – die Zukunft zwischen Europa und dem Osten gestalten“. Mehr als 400 Teilnehmer aus 40 Ländern diskutierten neue Kooperationsansätze, vor allem: Zusammenarbeit zwischen EU und Eurasischer Wirtschaftsunion und die chinesische Initiative „Neue Seidenstraße“.
Es sei wichtiger denn je für die Wirtschaft, als Brücke für den Dialog zwischen Ost und West zu dienen, so Giuseppe Vita, Vorsitzender des Verwaltungsrates der italienischen Bank UniCredit. „Ein fragmentiertes Europa wird international an Bedeutung verlieren“, warnte der neue Vorsitzende des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft, Wolfgang Büchele. Wenn sich in Europa mit EU und Eurasischer Wirtschaftsunion (EAWU) zwei konkurrierende Wirtschaftsblöcke herausbildeten, führe das insbesondere in den Staaten dazwischen zu Zerreißprozessen. Viele Wirtschaftsvertreter äußerten, dass deshalb Staaten wie die Ukraine, Georgien oder Moldawien mit beiden Integrationsprojekten über Freihandelsabkommen kooperieren sollten. Im Mittelpunkt von Gesprächen zwischen EU und EAWU sollten der Abbau von Handelshemmnissen, die Vereinheitlichung von Normen und Standards sowie die Verbesserung der grenzüberschreitenden Infrastruktur stehen.
Mehr als 80 Prozent der 180 Personen, die an einer Forumsumfrage teilnahmen, befürworteten Gespräche zwischen EU und EAWU über einen gemeinsamen Wirtschaftsraum. Für eine engere Zusammenarbeit im Energiebereich sprachen sich 70 Prozent aus. Während die Mehrheit der Konferenzteilnehmer große Vorteile im Ausbau der Gaslieferungen zwischen Russland und Europa erblickte, sprach sich im Rundtischgespräch nur die Vertreterin des slowakischen Außenministeriums gegen das neue Pipeline-Projekt Nord Stream 2 aus. Verhalten optimistisch waren die Teilnehmer hinsichtlich der Wirtschaftssanktionen zwischen EU und Russland: 35 Prozent erwarten die Rücknahme erster Sanktionen in diesem Jahr, 27 Prozent erst im nächsten. Die knappe Hälfte schätzte die chinesische Seidenstraßen-Initiative positiv ein. Sie soll die Verkehrsinfrastruktur im eurasischen Raum verbessern und durch Investitionen die gesamte Wirtschaft der betroffenen Länder fördern.
Insgesamt wurde deutlich, dass die Wirtschaft von der Politik ein aktiveres Vorgehen zur Überwindung der gegenwärtigen politischen Krisen erwartet. Deutschland wolle dazu den OSZE-Vorsitz in diesem Jahr nutzen, betonte Stephan Steinlein, Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Je früher die Minsker Vereinbarungen umgesetzt würden, desto eher sei „ein Einstieg in den Ausstieg“ bei den Sanktionen möglich. Wenig Verständigungsbereitschaft ließ sein polnischer Kollege, Staatssekretär Alexander Stepkowski, erkennen: Russland sei zur Konfrontation zurückgekehrt und wolle gar keine Kooperation. Das ließ so manchen Forumsteilnehmer besorgt aufhorchen. Sollte das etwa ein Vorgeschmack auf den Warschauer NATO-Gipfel im Juli sein?
Bereits im Mai ist im Auswärtigen Amt eine große OSZE-Wirtschaftskonferenz mit Regierungsvertretern und Unternehmern aus mehr als 60 Ländern geplant, welche die Themen des Berlin east forums weiter behandeln wird. Bleibt zu hoffen, dass Berlin seiner Rolle als Zentrum für den Ost-West-Dialog gerecht wird. Einen historischen Hinweis konnten die Konferenzteilnehmer bei der Eröffnung im Festsaal des Berliner Rathauses auf sich wirken lassen: Ein riesiges Gemälde zeigt Reichskanzler Bismarck und führende europäische Politiker, darunter die russischen Diplomaten Gortschakow und Schuwalow, auf der Berliner Konferenz von 1878. Damals wurde die seinerzeitige Balkankrise beendet und eine neue Ordnung für Südosteuropa geschaffen.
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