von Bernhard Mankwald
Nach weit verbreiteter Meinung ist die Demokratie nicht mehr das, was sie früher einmal war. Man hört aber auch die Gegenfrage, wann und in welchem Land je ideale demokratische Zustände verwirklicht gewesen sein sollen. Es ist also durchaus verständlich, wenn Franz Schandl eine ganze, wenn auch recht schmale Blättchen-Sonderausgabe mit „verächtlichen Widerreden“ zu diesem Prinzip füllt. Sehr gewagt ist es allerdings, wenn er sich dabei ausgerechnet auf Karl Marx beruft; propagierte dieser doch in seiner wichtigsten programmatischen Schrift, dem „Manifest der Kommunistischen Partei“, die „Erkämpfung der Demokratie“.
Noch im gleichen Jahr 1848 unternahmen die Deutschen den durchaus energischen Versuch, ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen. Er wurde zunächst in Berlin und Wien mit militärischer Gewalt unterdrückt, bevor die Repression in Gestalt preußischer Truppen Zentren des Widerstands wie Baden, das Rheinland und Westfalen erfasste. Auch in Dresden ging man damals für die Revolution auf die Barrikaden.
Marx griff in diese Kämpfe mit den ihm eigenen Mitteln ein: als Chefredakteur einer Tageszeitung, der Neuen Rheinischen Zeitung, die von der ersten bis zur letzten Ausgabe den Untertitel „Organ der Demokratie“ führte. Er setzte darauf, dass das aufstrebende Großbürgertum das Bündnis mit der Arbeiterklasse suchen würde, um die politische Vorherrschaft zu erlangen. Statt dessen ereiferten sich die Bürger in der frisch gewählten Nationalversammlung hauptsächlich über die Frage, ob auch Österreich zum neu zu gründenden Deutschland gehören sollte, und boten schließlich dem preußischen König die Kaiserkrone an, die dieser verächtlich zurückwies. Bismarck gründete später das gewünschte kleindeutsche Reich mit seinen Mitteln: Blut und Eisen. Das Bürgertum ordnete sich zum größten Teil gerne der fortbestehenden feudal-militaristischen Hegemonie unter – eine Entwicklung, die auf ziemlich geradem Wege zur totalen militärischen wie moralischen Katastrophe von 1945 führte.
In Preußen und ab 1871 dann im Kaiserreich wagte es nur eine Partei, die 1869 auf wesentliche Initiative von August Bebel und Wilhelm Liebknecht in Eisenach gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei, das Attribut „demokratisch“ im Namen zu führen – und wurde, seit dem Gothaer Vereinigungsparteitag von 1875 als Sozialistische Arbeiterpartei firmierend, 1878 unter dem Beifall der übrigen Parteien verboten. In den Vereinigten Staaten gab es zu diesem Zeitpunkt längst eine Partei, die sich „demokratisch“ nannte – zu ihr gehörten ausgerechnet die entschiedensten Verfechter der Sklaverei, die die Union schließlich spalteten. Marx ging mit diesem Sachverhalt pragmatisch um und ließ sich in seinen ausführlichen Kommentaren zu diesem Konflikt an manchen Stellen auf die Selbstbezeichnung ein. „Die Demokratie“ bedeutete dann für ihn nichts weiter als: die Partei, die sich als demokratisch bezeichnet. Wo es um die Kernfrage der Auseinandersetzung geht, wurde er deutlicher und sprach von einer „Oligarchie (Hervorhebung – B. M.) von 300000 Sklavenhaltern“, die nach seiner Darstellung versuchte, ihre Herrschaft auch den „freien“ Staaten aufzuzwingen. Seine ausgesprochene Sympathie gehörte in diesem Kampf daher dem „Republikaner“ Abraham Lincoln.
Einen Idealzustand sah Marx in der demokratischen Republik sicher nicht; vielmehr erwartete er, dass die Demokratie sich im dialektischen Sinne selbst aufheben würde. Im bereits zitierten Kommunistischen Manifest setzte er die „Erringung der Demokratie“ gleich mit der „Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse“, die mittelfristig zur Aufhebung der Klassengesellschaft überhaupt führen sollte. Bei der Analyse der politischen Auseinandersetzungen, die in Frankreich der Revolution folgten, verwendete er für diesen hypothetischen historischen Vorgang die Bezeichnung „Diktatur des Proletariats“. Zu verstehen ist dies zunächst einmal als Antithese zur „Diktatur der Bourgeoisie“, die Marx in Frankreich am Werk sah. In meinem Buch „Das Rezept des Dr. Marx“ habe ich die Formel so interpretiert: „Die formulierte Aufgabe kann man darin sehen, das komplexe demokratische Instrumentarium zu entwickeln, mit dem die Mehrheit der Bevölkerung die Umsetzung einer Politik in ihrem Interesse kontrollieren und steuern kann, die nur mit konzentrierten Kräften zu verwirklichen ist.“
Die Diktatur der Bourgeoisie wich schließlich derjenigen Bonapartes; die erhoffte historische Entwicklung hatte sich, wenigstens für den Augenblick, als Illusion erwiesen. Marx verwendete die Formel in späteren Veröffentlichungen denn auch nicht mehr. Stattdessen beschrieb er 1871 ausführlich die demokratischen Verfahrensweisen der Pariser Kommune und zeigte so seine Bereitschaft, abstrakte Formulierungen aufzugeben, sobald er sie durch konkretere Beschreibungen ersetzen konnte.
Friedrich Engels blieb es vorbehalten, diesen Fortschritt durch eine ganz undialektische Verneinung zunichte zu machen. 1891 schrieb er: „Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats.“ Dies ist eine durchaus eigenwillige Interpretation, die sich vom Text Marxens her nicht recht belegen lässt. In der ganzen Schrift des inzwischen verstorbenen Marx über diese Ereignisse kommt das Wort „Diktatur“ nur an einer Stelle vor: im soeben zitierten Vorwort von Engels. Es wäre daher unbillig, Marx für spätere Diktaturen gleich welcher Art haftbar zu machen.
Franz Schandl aber möge noch einmal mit sich zu Rate gehen, ob er wirklich die Demokratie bekämpfen will – oder doch eher eine Oligarchie, die sich nur als solche ausgibt.
Schlagwörter: Bernhard Mankwald, Demokratie, Diktatur des Proletariats, Franz Schandl, Karl Marx