von Erhard Crome
Bleiben sie? Gehen sie? Am 23. Juni 2016 soll die Wahlbevölkerung Großbritanniens über den Verbleib des Landes in der Europäischen Union abstimmen. „Brexit“ wurde zum Synonym für den Austritt (Britannien und Exit für Ausgang, Abtreten). Dieses Kunstwort kam auf, als allenthalben über den Austritt Griechenlands („Grexit“) aus der Eurozone oder der EU diskutiert wurde, während sich am Horizont bereits der Brexit als viel größere Gefahr für die EU, wie wir sie kennen, abzeichnete.
Der Einfluss der EU-feindlichen Partei UKIP (UK Independence Party) nimmt weiter zu; bei den Wahlen zum EU-Parlament im Mai 2014 erhielt sie 27,5 Prozent der Stimmen, bei der Unterhauswahl am 7. Mai 2015 12,6 Prozent. Das Mehrheitswahlrecht hatte zur Folge, dass nur ein Abgeordneter in das Unterhaus einzog. Dennoch wurde die innenpolitische Lage für die Konservative Partei von Premierminister David Cameron schwieriger, die „Schrift an der Wand“ war eindeutig. Die EU-Mitgliedschaft wurde auch zum Thema für Camerons innerparteiliche Gegner.
Der prominente und spätestens seit den Olympischen Spielen in London 2012 auch international bekannte Londoner Bürgermeister, Boris Johnson, hatte 2014 eine Studie anfertigen lassen, wonach es für Großbritannien besser sei, die EU, wie sie jetzt ist, zu verlassen. Ohne die EU auszukommen, sei für Großbritannien eine „gangbare Option“. Angesichts des wachsenden Drucks entschloss sich Cameron 2013, die Flucht nach vorn anzutreten, und erklärte, die Bedingungen für Großbritannien in der EU neu verhandeln zu wollen und darüber spätestens 2017 ein Referendum abzuhalten.
Das Verhältnis Großbritanniens zur EU war seit Anbeginn von drei Momenten geprägt: Der Verlust des Kolonialreiches machte Großbritannien zu einem europäischen Land unter anderen; nur im europäischen Kontext konnte es künftig seinen Platz in der Welt bestimmen und ausfüllen. Der Versuch, einen eigenen Wirtschaftsverbund in Europa zu schaffen, war gescheitert: Nachdem 1957 Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, heute die EU) gegründet hatten, wurde 1960 die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA) geschaffen, deren Gründungsmitglieder Großbritannien, Dänemark, Norwegen, Schweden, Portugal, Österreich und die Schweiz waren – alles Länder, die nicht unter einer deutschen Dominanz zusammenarbeiten wollten, aber auch gemeinsam keine der EWG vergleichbare Dynamik erreichten.
So hatte Großbritannien bereits 1963 einen Antrag auf EWG-Beitritt gestellt, der durch den französischen Präsidenten Charles de Gaulle allerdings abgelehnt wurde. Mit dem Beitritt Großbritanniens und Dänemarks zur EWG/EU 1973 und später auch Portugals, Schwedens und Österreichs war das EFTA-Projekt als Konkurrenz zur EU beerdigt. Die „Rest-EFTA“ besteht heute noch aus Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz, die über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) beziehungsweise über bilaterale Verträge der EU assoziiert ist. Das bedeutet, deren Regeln befolgen zu müssen, ohne über diese Regeln mitbestimmen zu können.
Das dritte Moment des ambivalenten Verhältnisses Großbritanniens zur EU ist die Wahrnehmung, dass diese dem Wesen nach die Fortsetzung der deutschen Hegemonie in Europa mit anderen Mitteln ist. Was Wilhelm II. und Hitler mittels Krieges nicht geschafft hatten, erreichten Helmut Kohl und Angela Merkel mit der Wirtschaftskraft. Das hatte die britische Premierministerin Margaret Thatcher zur Zeit der deutschen Vereinigung diskutieren lassen, allerdings traute sie sich – wie auch der französische Präsident Francois Mitterrand – nicht, der USA-Politik, die mit Bundeskanzler Kohl die Modalitäten für den neuen deutschen Einheitsstaat längst vereinbart hatte, offen zu widersprechen. Heute taucht dies als eine Argumentationsfigur in der Auseinandersetzung um den Brexit wieder auf. Der britische Staubsauger-Milliardär James Dyson hatte schon Ende 2014 gefordert, Großbritannien müsse die EU verlassen, um sich von dem übermächtigen Einfluss Deutschlands, das die EU „dominiert und schikaniert“, zu befreien. Eines der Themen in der öffentlichen Auseinandersetzung in Großbritannien mit Blick auf das Referendum ist so das der „Souveränität“.
Der EU-Gipfel in Brüssel am 18. und 19. Februar 2016 hatte sich „über einen verstärkten Sonderstatus Großbritanniens in der EU“ verständigt. Donald Tusk, der Präsident des Europäischen Rates, nannte dies „einen rechtsverbindlichen und unumkehrbaren Beschluss aller 28 Staats- und Regierungschefs“. David Cameron meinte, damit seien seine Bedingungen erfüllt, und das Referendum könne stattfinden. Die Vereinbarungen umfassen vier Bereiche. Was Sozialleistungen anbetrifft, so können Staaten „Schutzmechanismen“ anwenden, falls ein außergewöhnlich hoher Zustrom von Arbeitskräften aus anderen EU-Ländern die Sozialsysteme, den Arbeitsmarkt oder die öffentlichen Dienstleistungen überfordert. Außerdem kann Kindergeld für Kinder von Arbeitnehmern (ich benutze hier der Einfachheit halber den üblichen Jargon, ohne jetzt marxistisch über die Begriffe zu raisonieren) aus anderen EU-Ländern, die nicht in dem betreffenden Land leben, entsprechend dem Lebensstandard im Aufenthaltsland der Kinder reduziert werden. Im Klartext: polnische Putzfrauen und Krankenschwestern, die in Großbritannien arbeiten und ihre Kinder in Polen bei der Oma gelassen haben, erhalten für diese nicht mehr das britische Kindergeld, sondern ein reduziertes. In Sachen Finanzmärkte wurden die Sonderrechte für den Finanzplatz London gestärkt. Großbritannien erhielt jedoch kein Veto-Recht in Bezug auf die Euro-Zone. Zum Thema „Wettbewerbsfähigkeit“ wurden wieder vage Formulierungen zu Freihandel und Demokratieabbau gefunden. Zum Thema „Souveränität“ heißt es, Großbritannien verpflichte sich nicht zu einer weiteren politischen Integration in der EU.
Letzteres hat Angela Merkel bedauert, während die Bundesregierung verlautbarte, dass die Kürzungen von Kindergeld und Sozialleistungen für Beschäftigte aus anderen EU-Ländern auch für Deutschland von Interesse werden könnten. Der allgemein erwartete Protest aus Polen und anderen osteuropäischen Ländern, deren Wanderarbeiter von den Sozialkürzungen betroffen sein werden, blieb aus. Aus den Visegrád-Ländern war zu vernehmen, dass gerade die politischen Sonderbedingungen, die jetzt Großbritannien eingeräumt werden, auch für sie eine Berufungsgrundlage sind – im Bereich Flüchtlingspolitik praktizieren sie das ja bereits.
In Kraft treten diese Vereinbarungen, wenn Großbritannien der EU mitteilt, dass es Mitglied bleibt. Oder anders: wenn das Referendum im Sinne des Verbleibs in der EU ausgeht. Das aber ist nicht ausgemacht. Die Befürworter des Brexit auf den Inseln meinen, sie könnten die Vorteile der Zusammenarbeit mit den EU-Ländern weiter nutzen, ohne bisherige Nachteile – etwa durch Netto-Zahlungen in die EU-Töpfe – hinnehmen zu müssen. Derzeit (so Zeit online) werden 52 Prozent des Güterhandels, 42 Prozent des Handels mit Dienstleistungen und 30 Prozent des Handels mit „Finanzdienstleistungen“ mit den anderen EU-Ländern abgewickelt. Es gibt aber keine Garantie, dass das nach einem Brexit zu den bisherigen Bedingungen erfolgt. Roberto Balzaretti, Schweizer Botschafter in Brüssel, hat kürzlich darauf verwiesen, dass Länder wie die Schweiz oder Norwegen, alle EU-Vorschriften übernehmen müssen, ohne an deren Zustandekommen beteiligt zu sein, und trotzdem nicht dieselben Bedingungen haben, wie die EU-Inländer. Großbritannien sei zwar von größerem Gewicht als die beiden Länder, werde aber dennoch an den Grundsatzentscheidungen der EU nicht mehr beteiligt sein.
Ökonomen in Großbritannien wie in Deutschland meinen, zum Brexit werde es nicht kommen, weil er laut n-tv eine „Lose-Lose-Situation“ schaffen würde, die wirtschaftlich unvernünftig sei. Dabei unterschätzen sie, dass im Referendum die einfachen Bürger mit ihren Ängsten und Wahrnehmungen abstimmen. Die weniger qualifizierten Arbeiter und Angestellten in Großbritannien erhoffen sich neue Arbeitsplätze im Lande, wenn die Konkurrenz vom Kontinent wegfällt. Das kann sich rasch als Illusion erweisen. Dann ist der Austritt aber schon erfolgt.
Hinzu kommen weitere Unwägbarkeiten. Etliche konservative Politiker – auch Boris Johnson, der sich jetzt offen als Befürworter des Brexit erklärt hat – benutzen die Brexit-Abstimmung, um endlich Cameron auszubooten. Völlig unklar ist, ob der Finanzplatz London für die von den USA aus agierenden Finanzgruppen noch interessant ist, wenn er nicht mehr das Tor nach Europa ist. Die schottischen Nationalisten, die sich gegenüber London gern auf Brüssel berufen, haben bereits angekündigt, dass nach einem Brexit-Beschluss das Kapitel „Austritt Schottlands aus Großbritannien“ neu eröffnet wird. Und für Kanzlerin Merkel wird es in der EU enger, weil das Gewicht Frankreichs, Italiens und anderer Südlander in der EU relativ größer wird, wenn Großbritannien nicht mehr dabei ist.
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