von Renate Hoffmann
Görlitz in feinem Regen. So recht der Tag, um auf dem Städtischen Friedhof nach einem besonderen Grab zu suchen. Die Begräbnisstätte ist groß, die Suche mühsam. Auf dem erweiterten Neuen Teil, und nach Befragen eines älteren Herrn: „Sie meinen Goethes späte Liebschaft?!“ (ob spät oder nicht, sei dahin gestellt), finde ich sie. Die Ruhestatt von Christiane Friederike Wilhelmine Herzlieb, verehelichte Walch (1789-1865), genannt Minna, Minne, Minchen. In Züllichau (Sulechów) geboren, in Jena aufgewachsen, von Unruhe getrieben, in Görlitz gestorben.
Die Grabstätte umgibt eine efeuberankte Mauer. In der Mitte des mit Platten ausgelegten Platzes ragt eine Linde empor. Ein wenig schief geraten und ans zierliche Gitter gelehnt, wächst sie aus Minchens Grab. Auf der Gedenktafel, beidseitig beschriftet, liest man: „Minna Herzlieb“ und „Göthe’s Liebe verklärte Dir einst die glückliche Jugend: Göthe – Liebe. Sie schmückt Dir das erlösende Grab.“ Und auf der Rückseite des kleinen Ensembles eine weitere Inschrift: „Hier ruhet die Appelat. Gerichtsräthin Walch geb. d. 22. Mai 1789 gest. d. 10. Juli 1865“ –
Zwischen „Göthes Liebe“, die Fräulein Herzliebs Jugend verklärte, und der Anrede als „Frau Räthin“, liegen Jahre des Überschwangs, der Enttäuschung und tiefen Verzweiflung. Trotz aller Natürlichkeit, ja zuweilen Heiterkeit und Neckerei, blieb Minna verschlossen. Die Malerin Louise Seidler (1786-1866), mit Minne in Jena gut bekannt, nennt sie „eine innerliche Natur“. –
Im Pfarrhaus des 1. Predigers der Züllichauer Stadtpfarrkirche Karl Herzlieb erlebt Minna mit drei Geschwistern die Kindertage. Herzlieb, ein rühriger Mann, betätigt sich nebenher als Schriftsteller. Das führt zu einer freundschaftlichen Bindung an den Buchhändler und Verleger Carl Friedrich Ernst Frommann (1765-1837). Wohnhaft am Markt in Züllichau.
Familie Herzlieb ereilt ein arges Geschick. Karl stirbt 34-jährig an Tuberkulose. Das jüngste Kind lebt nur drei Jahre. Und die Mutter folgt 1797. Nun stehen die Geschwister unter Vormundschaft. Frommanns nehmen Minchen zu sich. Der Verleger siedelt nach Jena über, dem damaligen Zentrum von Gelehrsamkeit und geistigem Austausch. Hier begegnen sich Klassik und Frühromantik. An der Universität sind Natur- und Geisteswissenschaften hochrangig besetzt. Und Goethe ist in der Nähe! Bestes verlegerisches Territorium.
C.F.E. Frommann öffnet sein Haus zu Begegnung und Gespräch. Johanna Frommann sorgt für die Behaglichkeit der Gäste. Und alle kommen. Natürlich auch Goethe. Um den „Theetisch“ versammelt sich eine literarisch-philosophische Runde, die oftmals bis in die Nachtstunden bleibt. Goethe später zu Eckermann: „Es wird Ihnen in diesem Kreise gefallen. Ich habe dort schöne Abende verlebt. Auch Jean Paul, Tieck, die Schlegel, und was in Deutschland sonst Namen hat, ist dort gewesen.“ – Und Fichte und Schelling und Zelter waren auch da.
In diesem Kreis lebt Minna. Goethe kennt sie und nennt sie das liebe „musisch begabte Kind“ …, welches fast unbemerkt zur jungen Frau voller Liebreiz heranwächst. Noch hat sie im Jahr 1806 die Schrecknisse der Schlacht bei Jena (und Auerstedt) zu überstehen: „In dieser fürchterlichen Zeit, wo kein Mensch ohne Angst und Not lebte, waren wir recht sehr in Gefahr, nicht nur alles was zum Leben gehört, sondern auch das Leben selbst zu verlieren.“
Die Wunden versorgt, nicht verheilt, sehnt man sich nach musischer Linderung. Im November 1807 weilt Goethe in Jena. Der romantische Dichter Zacharias Werner (1768-1823) begleitet ihn öfter. Auch zu Frommanns. Goethe hält ihn für eine „auf Abwege geratene Natur“, von der man sich aber angeregt fühle. Auch Karl Ludwig von Knebel (1744-1834) und Friedrich Wilhelm Riemer, Goethes Sekretär, gesellen sich zur Runde im „Blauen Salon“. Als Minchen den Tee serviert, geraten die Herren in leichte Erregung. Was ihnen da entgegen schwebt, schildert Louise Seidler:
„Minne war die lieblichste aller jungfräulichen Rosen, […] mit großen dunkeln Augen, die jeden herzig unschuldsvoll bezaubern mußten. Die Flechten glänzend rabenschwarz, […], die Gestalt schlank und biegsam.“ Sie trug gern schlichte Kleider in Weiß, „in einem solchen habe ich sie lebensgroß in Öl gemalt.“ Das Gemälde ist Abbild einer jugendlichen Schönheit. – Minnas Anblick begeistert die Herren und löst einen Poeten- Wettstreit aus. Man verlegt sich aufs Sonette-Schreiben. Am 13. Dezember, „mitternachts“ bringt Goethe folgende Zeilen zu Papier: „Als kleines art’ges Kind nach Feld und Auen / Sprangst du mit mir gar manchen Frühlingsmorgen. […] Nun kann den schönen Wachsthum nichts beschränken; / Ich fühl’ im Herzen heißes Liebestoben. / Umfaß’ ich sie, die Schmerzen zu beschwicht’gen? […] Doch ach! nun muß ich dich als Fürstin denken: / Du stehst so schroff vor mir empor gehoben; / Ich beuge mich vor deinem Blick, dem flücht’gen.“
Es bleiben nicht die einzigen Zeilen, in denen Minna, das „Geistchen“ geistert. Der Endfünfziger Goethe fühlt wieder „Liebestoben“ und gibt sich im Hause Frommann ungewohnt gesellig. Riemer meint, Goethe erscheine bei den Abendunterhaltungen von einer Liebenswürdigkeit, von der die Welt keinen Begriff habe. – Zum letzten Dezembertreffen, singt man, munter gestimmt, Weihnachtslieder, bei denen „Zacharias wie ein Hahn krähte, Riemer seinen guten Tenor, und der liebe alte Herr seine wunderbare Baritonstimme ertönen ließ“, vermerkt Minchen. Für die Siebzehnjährige bleibt Goethe der „liebe alte Herr“, den sie zeitlebens verehrt. Für ihn bleibt es eine heftige Neigung, die, wie so oft, ihren literarischen Ausklang findet. Später räumt er rückblickend ein, Minna Herzlieb „mehr als billig geliebt zu haben.“
Bereits im Jahr 1808, in den böhmischen Bädern, beginnt Goethe mit der Niederschrift des Romans „Die Wahlverwandtschaften“. Ottilie, eine der Frauengestalten, trägt manches von Minchens Wesen und Erscheinungsbild. Diejenigen, die sie kennen, entdecken es. Als August Varnhagen von Ense (1785-1858) Minna in Berlin kennenlernte, äußerte er: „Sehr einleuchtend, daß Goethe seine Ottilie größtenteils nach ihr geformt (hat).“
Minnas weiterer Lebensweg wird zum Leidensweg. Zwei Verlobungen scheitern. 1821 heiratet sie den ungeliebten, um viele Jahre älteren Oberappelationsgerichtsrat Carl Wilhelm Walch (1776-1853). Eine Ehe, die sie in hohem Maße unglücklich macht. Sie erträgt Walchs zu nahe Nähe nicht. Diese Abneigung steigert sich zu wiederkehrenden Depressionen. Der Aufenthalt in Heilstätten bringt nur geringe Besserung. Minnas Halt und Zuflucht bleibt die Familie Frommann. Nach ihr sehnt sie sich. In einem Görlitzer Sanatorium findet die Rätin Walch, geborene Herzlieb in den Morgenstunden des 10. Juli 1865 ihren Frieden.
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Besuch bei Frommanns im sorgsam restaurierten Anwesen. Eigner und Nutzer ist die Friedrich Schiller Universität Jena. Über dem Eingangstor ein Gruß von Goethen: „Ich habe dort schöne Abende verlebt.“ Der Gebäudekomplex am Fürstengraben 14/16/18 heißt den Gast willkommen. In der 1. Etage des eigentlichen Verlags- und Wohnhauses wird mir freundlich die Tür zum „Blauen Salon“ geöffnet. Hier also …
Der weite, lichte Raum ist in ätherischem Blau gehalten. Eine antike Skulptur (Kopie „Betender Knabe“?) fängt den Blick, ebenso das alte, in Intarsien gelegte Parkett. Der elegant gestaltete Rundtisch lädt zum Gespräch ein. Nichts lenkt ab. – Hier also traf sich die Gesellschaft zum „Theetisch“. Wahrscheinlich hier brachte Minchen durch ihr Erscheinen die Herren in gelinde Verwirrung. Hier stand der Gabentisch zu ihrem 25. Geburtstag und darauf ein kleiner Orangenbaum. Hausarzt Johann Christian Stark hatte ihn geschickt. Sie freute sich. Denn, „als ich zum ersten Mal an diesem Tage in unsere Blaue Stube ging“, (wurde ich) „auf das freundlichste überrascht. In der Mitte stand Ihr, jetzt mein Orangenbaum.“ Minne bedankte sich herzlich. – Ich danke auch und verabschiede mich.
Schlagwörter: Christiane Herzlieb, Die Wahlverwandtschaften, Görlitz, Jena, Johann Wolfgang von Goethe, Renate Hoffmann