19. Jahrgang | Nummer 4 | 15. Februar 2016

Botschaften aus der Hölle des Holocaust

von Klaus Hammer

Es ist totenstill im Raum. Kaum jemand wagt zu flüstern. Erschütterung, Entsetzen, Ergriffenheit, tiefes Mitgefühl steht in den Gesichtern der Besucher geschrieben. Die Schatten der Vergangenheit kehren zurück. Diese Künstler, die den Tod erlitten oder die das Grauen überlebt haben, was müssen sie erfahren haben, dass ihnen Bilder mit einer solchen Aussagekraft gelungen sind. Wir befinden uns in der Ausstellung „Kunst aus dem Holocaust“ des Deutschen Historischen Museums.
100 Werke von 50 Künstlern – 24 wurden von den Nazis ermordet, die anderen haben überlebt –, Zeichnungen, Skizzen und – in einzelnen Fällen – auch Gemälde aus den Ghettos und Vernichtungslagern wurden aus dem Bestand der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem ausgewählt, um sie erstmals in Deutschland, in dieser Ausstellung zu zeigen. Diese Arbeiten sind die wahrheitsgetreue Wiedergabe der damaligen Wirklichkeit, versehen mit der Kraft der visuellen Vorstellung. Das Leid steht in den von Hunger ausgemergelten Gesichtern geschrieben, es drückt sich aus in Bergen von Skeletten und es spricht aus Augen, die verzweifelt und verlassen aus tiefen Höhlen starren. Das Unfassbare fassbar zu machen, das ist die Aufgabe dieser Bilder, sie geben sowohl eine künstlerische wie menschliche Aussage, sind aber auch als geschichtliche Dokumente zu betrachten. In drei Themenbereiche sind sie in der Ausstellung gegliedert worden: Bilder, die die Wirklichkeit des Holocaust beschreiben, Porträts und Bilder der Sehnsucht und geistigen Zuflucht.

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Ein „Flüchtling“ (Öl auf Leinwand, 1939) sitzt in gebeugter Haltung, den Kopf in den Händen vergraben, in einem kahlen Raum, der von einem langgestreckten riesigen Tisch blockiert wird. Auf ihm befindet sich ein Globus, der einen düsteren Schatten wirft und ebenso wenig Hoffnung vermittelt wie der Ausgang, denn auch draußen herrschen nur Ödnis und Tod. Ein Bild totaler Verzweiflung, eine Beschreibung des Lebens des dann in Auschwitz ermordeten jüdischen Künstlers Felix Nussbaum unter den Bedingungen der Flucht, ein Sinnbild der Shoa. In Felix Blochs „Unter den Rädern“ (Kohle und Fixierung auf Papier, 1942-44) eines Totenwagens liegen Tote, Sterbende und Entkräftete – 35.000 Menschen starben im Ghetto Theresienstadt, weitere 88.000 wurden in die Todeslager deportiert und dort ermordet. „Ankunft eines Transports in Theresienstadt“ (Tusche, laviert auf Papier, 1942) von Leo Haas: Ein Menschenstrom zieht durch die Winterlandschaft dem Eingang des Ghettos zu, an der Mauer unten links ist der Buchstabe V, das Symbol des Widerstandskampfes, eingegraben.
Leo Breuers „Pfad zwischen Baracken“ des Internierungslagers Gurs (Wasserfarbe auf Papier, 1941) vermittelt einen trostlosen Lageralltag, die schneebedeckten Pyrenäen im Hintergrund zeigen die Freiheit versprechende spanische Grenze an.
Frantisek Moric Nagl wirft einen Blick auf „Emil Zentners Pritsche in der Männerunterkunft“ des Ghettos Theresienstadt (Gouache und Wasserfarbe auf Papier, 1943); die Nummern an den armseligen Gegenständen bezeichnen ihre abwesenden Besitzer, die Häftlinge. Ein „Fieberndes Kind“ (1944), ein Gesicht voller Unschuld und Zartheit, zeichnet Hilde Zadikow – nur wenige von den zehntausend Kindern, die in die Todeslager deportiert wurden, haben überlebt. In expressiver, fast schon abstrakter Weise konterfeit Karel Fleischmann, der auch als Arzt in Theresienstadt tätig war, gebrochene, im Todeskampf gekrümmte Menschen (Kohle auf Papier, 1942). „Im Büro des Kompaniekommandanten“ (von Marko Behar, Tinte und Bleistift auf Papier, 1941) wird ein im Arbeitslager zwangsverpflichteter jüdischer Mann brutal zusammengeschlagen und mit Füßen getreten. Josef Schlesinger dokumentiert „Nahum Becks Hinrichtung durch den Strang“ (Tinte auf Papier, 1943); die Ghetto-Bewohner müssen bei der Exekution zusehen. In einer unter Lebensgefahr angefertigten Karikatur „Das Lied ist aus“ (Wasserfarbe und Tusche auf Papier), die Hitler als betrunkenen Harlekin präsentiert, drückt Pavel Fantl seine Hoffnung auf ein baldiges Ende des faschistischen Alptraumes aus. „Unter dem Stiefel des Nazi-Schergen“, der einem Juden das Bajonett in die Brust gebohrt hat (Tusche auf Papier, 1940), geißelt Marcel Janco, einer der Dada-Mitbegründer, das faschistische Regime in Rumänien. Seinen Aufschrei drückt Jacob Lipchitz in der Darstellung des geschundenen, zerschlagenen Rückens seines Bruders aus (Wasserfarbe auf Papier).
Das geistvolle Porträt des Dichters und Philosophen Benjamin Fondane (Kohle und Farbkreide auf Papier, um 1943) von Grégoire Michonze ist das letzte vor dessen Ermordung in Auschwitz-Birkenau. Der Partisan Alexander Bogen bannte Widerstandskämpfer in unterschiedlichen Situationen auf das Papier. Während seiner Lagerhaft in Frankreich porträtierte Osias Hofstatter einfühlsam seine Mitgefangenen, ihre Verzweiflung und Trauer. Nur auf einem kleinen Fetzen Papier hat Esther Lurie 1944 ausdrucksstark eine junge Mitgefangene im Lager Stutthof skizziert. Max Placek wiederum setzt unter das Porträt des Pianisten und Dirigenten Franz Eugen Klein ein Noten-Zitat aus der Oper „Tosca“ („Wie sich die Bilder gleichen“, 1943). Mit fleckigen Tupfern, vertikalen Pinselstrichen gibt Josef Kowner ein melancholisches Selbstporträt aus seiner Ghetto-Zeit in Lodz/Litzmannstadt (Wasserfarbe auf Papier, 1941). In der grünlichen Färbung des Gesichts von Charlotte Salomon zeichnet sich der Ausdruck lähmender existenzieller Angst ab. Karel Fleischmanns „Lesende Frau“ zeigt eine Gefangene aus dem Ghetto Theresienstadt, die bei ihrer Lektüre für einige Augenblicke die Grausamkeit ihres täglichen Lebens vergessen hat.
Felix Nussbaum („Die Synagoge im Lager Saint-Cyprien“, Öl auf Sperrholz, 1941) stellt Gefangene dar, die sich, in ihre Gebetsmäntel gehüllt, zum Gebet versammelt haben. Sie bilden die einzige Lichtquelle in dem sonst dunklen Gemälde. Auf die „Reichspogromnacht“ im November 1938 reagiert Ludwig Meidner, ein Exponent des urbanen Expressionismus, und stellt eine Parallele zwischen der Zerstörung der Synagogen in Nazi-Deutschland und des Tempels in Jerusalem her. Sinnfälliger kann die Sehnsucht der Gefangenen nach Freiheit nicht dargestellt werden als durch jenen gelben Schmetterling auf dem Stacheldrahtzaun des Lagers Gurs, der den kommenden Frühling ankündigt (Karl Robert Rodek und Kurt Conrad Löw, Wasserfarbe, Tusche und Bleistift auf Papier, 1941). Pavel Fantl schildert humoristisch das Staunen eines Kindes, das die Welt außerhalb des Ghettos Theresienstadt entdeckt. Der Künstler hat seinem eigenen Sohn, der mit vier Jahren ins Ghetto gekommen ist, eine andere Realität zu eröffnen versucht, die auf Phantasie und Hoffnung beruht. Herbstliche Bäume im strahlenden Rot, Gelb, Grün verkünden für Karel Fleischmann die Hoffnung auf Freiheit und illustrieren ein Gedicht mit gleichem Titel. Einer „Straße im Ghetto von Lodz“ (Wasserfarbe auf Papier, 1941) gibt Josef Kowner eine überraschende Farbigkeit, die im Gegensatz zu den Bedingungen steht, unter denen dieses Bild gemalt wurde. Das Kind Nelly Toll brachte 1943 in ihrem Versteck in Lwow ihre Sehnsucht nach ihrem Zuhause und ihrer Familie bewegend zum Ausdruck.

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Dieser Blick in das „Innere“ des Holocaust – das ist das Besondere dieser Arbeiten. Sie wollen Menschlichkeit verteidigen, auch unter den unmenschlichsten Umständen. Hier können nur einige Sujets der ausgestellten Arbeiten genannt werden, es müsste aber auch über die Schicksale der Arbeiten (wie wurden sie verborgen, wie konnten sie gerettet werden?) und über die der Künstler gesprochen werden. Diese „drei Geschichten“ eines jeden Werkes werden in dem eindringlich gestalteten Katalog vermittelt.
In der Tat: Diese Bilder vergisst man nicht mehr. Sie bleiben im Kopf und im Herzen – als Mahnung und Verpflichtung, nie wieder so etwas zuzulassen, stets für die Würde des Menschen einzutreten.

Kunst aus dem Holocaust. 100 Werke aus der Gedenkstätte Yad Vashem. Ausstellungshalle des Deutschen Historischen Museums, Unter den Linden 2, 10117 Berlin, tägl. 10-18 Uhr, bis 3. April. Katalog 39.80 Euro.