von Peter Linke
Auch in seiner jüngsten Rede vor der Föderalen Versammlung Anfang Dezember hat Russlands Präsident Wladimir Putin noch einmal auf ihre Bedeutung für die Schaffung einer alternativen, eurasischen Sicherheitsarchitektur hingewiesen: die Arktis – der letzte rechtlich und wirtschaftlich unerschlossene Großraum des Planeten und als solcher Objekt wachsender geopolitischer Begehrlichkeiten einer Vielzahl von Akteuren.
Bislang ist es ein einsamer Kampf, den Russland im Hohen Norden ausficht. Es mangelt an manchem, vor allem jedoch an Partnern, die nicht nur auf wirtschaftlichen Profit erpicht sind, sondern auch in der einen oder anderen Form Moskaus außen- und sicherheitspolitischen Revisionismus teilen.
Zunächst denkt man da natürlich an China: Seit Jahren nutzt Peking regionale und transregionale Netzwerke wie die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit oder BRICS, um am globalpolitischen Status quo zu kratzen. In der Arktis sind die Chinesen seit Mitte der 90er Jahre unterwegs. Fünf Expeditionen haben sie bislang entsandt. Seit 2004 betreibt China eine eigene Forschungsstation im Norden Norwegens. Seit 2013 ist das Land im Arktischen Rat als ständiger Beobachter präsent. Im gleichen Jahr wurde in Schanghai das Chinesisch-Nordeuropäische Zentrum für Arktisforschung aus der Taufe gehoben, in dem Wissenschaftler aus dem Reich der Mitte mit Kollegen aus Norwegen, Finnland, Island, Dänemark und Schweden über Klimafragen, die wirtschaftliche Entwicklung der Arktis und die Nutzung der Nordroute brüten. Dem Vernehmen nach gibt Peking derzeit im Jahr rund 60 Millionen US-Dollar für arktische Forschungsprogramme aus und plant, das dafür notwendige Personal von derzeit 200 auf 1000 aufzustocken …
Warum also nicht China, noch dazu, wo es seit Jahren als „strategischer Partner“ Russlands gilt. Weil es auch aus Moskauer Sicht kein wirklicher Mannschaftsspieler ist, weil es letztlich niemandem vertraut, weil es sich und der Welt beweisen will, es ganz allein an die Spitze schaffen zu können.
Entsprechend sein Verhalten, auch und vor allem in der Arktis. So erklärte Konteradmiral Yin Zhuo bereits 2010, dass die Arktis allen Menschen gehöre, es daher keine nationalen Souveränitätsansprüche gebe könne. Gleichwohl müsse China mit einem Anteil von rund 20 Prozent an der Weltbevölkerung eine zentrale Rolle bei der Erforschung der Arktis spielen …
Noch unverblümter zwei Jahre später Li Yuansheng, Vizedirektor des Zentrallabors für arktische Wissenschaften der Staatlichen Verwaltung für Ozeanische Angelegenheiten: „Für uns ist die Öffnung der Arktis eine Frage von zentraler Bedeutung. Und wir erwarten von Moskau, dass es uns nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht entgegenkommt, sondern auch unseren Schiffen ermöglicht, russische Hoheitsgewässer zu günstigen Bedingungen zu passieren.“
Für Irina Komissina, leitende Analytikerin am kremlnahen Moskauer Institut für Strategische Studien (RISI), Grund genug für einen Weckruf: „Das zielgerichtete Vorgehen Chinas in der Arktis erfüllt viele Russen mit Sorge. Die Arktis verfügt über keine strikte sektorale Demarkierung. International ist die Frage der Aufteilung des arktischen Aquatoriums nach wie vor ungelöst. Russland bleibt an stabilen und berechenbaren Beziehungen mit China interessiert. Allerdings berücksichtigt Peking nicht immer Russlands nationale Interessen, wie bestimmte Aussagen hochrangiger Offizieller zeigen.“
Komissinas Einschätzung wird insbesondere von russischen Militärs geteilt, die seit Jahren vor Pekings arktischen Ambitionen warnen. Etwa Konteradmiral Wjatscheslaw Apanasenko, ehemals Chef für maritime Rüstung, der nicht ausschließen möchte, dass sich die zunehmenden Auseinandersetzungen um die strategischen Rohstoffe der Arktis zu einem größeren Konflikt auswachsen könnten. China, so der Admiral bereits 2012, spiele dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Der Kreml ist sich des Ernstes der Lage durchaus bewusst. Und scheint als potenziellen Verbündeten gegen Pekings arktischen Drive einen alten Widersacher ausgemacht zu haben: Tokio. Warum auch nicht. Der Augenblick ist günstig: Auch Tokio ist auf der Suche nach neuen Partnern, mit denen es in Peking Eindruck schinden kann. Und Moskau scheint einer der heißesten Kandidaten für den Job zu sein.
Tatsächlich haben sich unter Premier Shinzo Abe die bilateralen Beziehungen rapide entwickelt: Ende 2013 führten beide Staaten erstmals Regierungskonsultationen auf der Ebene der Außen- und Verteidigungsminister (2+2) durch. Für Japan ein Format, das es bis dato nur mit den USA und Australien gepflegt hatte; für Russland die ersten derartigen Konsultationen mit einem asiatischen Land.
Ebenfalls 2013 unterstützte Moskau sehr energisch Tokios Bewerbung um die Olympischen Sommerspiele 2020. Im Februar 2014 reiste Shinzo Abe als einer von zwei Staatsführern der G7 (neben dem damaligen italienischen Premier Enrico Letta) zur Eröffnungsfeier der Olympischen Winterspiele in Sotschi.
An der Embargopolitik des Westens gegenüber Moskau beteiligte sich Tokio eher widerwillig, suchte auch weiterhin den wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Dialog. Gleichzeitig intensivierte Japan die arktische Dimension seiner Beziehungen mit Russland: Im Oktober 2014 einigten sich beide Länder auf ein umfassendes Kooperationsprogramm mit den Schwerpunkten Erderwärmung, Eisschmelze, Materialzyklus und Grünhausgase, Gletscherforschung, Permafrostböden und Hydrologie sowie Ökosysteme und Biodiversität …
Für Russland vorläufiger Höhepunkt einer seit Jahren verfolgten Politik arktischen Miteinanders: Als sich 2012 der Eisbrecher „Xue Long“ (Schneedrache) anschickte, als erstes chinesisches Schiff die Nordroute zu passieren, ignorierte Moskau den Antrag Chinas auf permanenten Beobachterstatus im Arktischen Rat und unterstützte stattdessen demonstrativ die Kandidatur Tokios. Und im Mai 2013 unterzeichneten Russlands Ölgigant Rosneft und die japanische Energiegesellschaft Inpex Corporation einen Vertrag über die gemeinsame Erschließung zweier russischer Öl- und Gasfelder im Ochotskischen Meer.
Russland und Japan sollten ihre arktische Zusammenarbeit weiter vertiefen. Natürlich nicht gegen China, aber durchaus mit der Absicht, Pekings Kollektivgeist zu befördern. Davon könnten letztlich alle profitieren: Für Russland verringerte sich die Gefahr, von China fortgesetzt über den Tisch gezogen zu werden. Die russisch-japanischen Beziehungen würden auf ein breiteres Fundament gestellt, was neue Möglichkeiten zur Beilegung alter Konflikte eröffnen könnte. Japans außen- und sicherheitspolitische Reichweite vergrößerte sich, was wiederum helfen würde, den Einfluss Washingtons in der Region auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren. Und Peking bekäme eine unikale Chance, sich in praktischer Multilateralität zu üben, was seine Nachbarn bestimmt begrüßen würden.
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