von Wolfgang Brauer
Im August 1922 erschien in der Weltbühne ein Gedicht, das der Autor Kurt Tucholsky dem Generalquartiermeister des Kaisers, Erich Ludendorff, widmete: „General! General! / Wag es nur nicht noch einmal! / Es schrein die Toten! / Denk an die Roten!“ 13 Jahre später wagten es die deutschen Generale noch einmal. 1935 führten sie die Wehrpflicht wieder ein. Im Folgejahr verfügte die Wehrmacht über 36 Divisionen – und die kamen nur scheinbar aus dem Nichts. „Seit 21 haben sie das vorbereitet. Sie werden die Ostvölker und auch die Russen zu Kleinholz schlagen.“ Das trug Tucholsky am 3. April 1935 im „Q-Tagebuch“ für die Schweizer Freundin Hedwig Müller ein. Vier Jahre später schlugen „sie“ erst einmal die Tschechoslowakei zu Kleinholz, ein halbes Jahr später Polen. Die Geschichte ist bekannt, und Kurt Tucholsky war zu Kriegsbeginn 1939 bereits vier Jahre tot. Er starb am 21. Dezember 1935 im schwedischen Göteborg an einer Überdosis Schlafmittel.
„Das Fahrzeug sitzt fest, will nicht mehr“, schrieb er zwei Tage vor seinem Weggehen an Mary Gerold-Tucholsky. Und er weist Mary auf Heinrich von Kleists Abschiedsbrief an die Schwester Ulrike hin. „[…] die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war“, steht da zu lesen. Tuchos Brief lässt mich nicht los. Er will so gar nicht in das lieb gewonnene Bild des streitbaren Publizisten passen. Mir hilft auch nicht Michael Hepps These, Tucholsky könne „aus Versehen Selbstmord“ verübt haben. Hepp räumt übrigens ein, dass sich weder das Eine noch das Andere beweisen lasse. Das ist mir eigentlich auch egal. Letztlich haben „sie“ ihn zur Strecke gebracht. Das Triumphgeheul des Völkischen Beobachters war nicht grundlos.
Tucho war ein tapferer Streiter gegen den Militarismus, und er war es mit einer Leidenschaft wie kaum ein anderer Autor seiner Zeit. Am 2. Januar 1919 wurde er aus der Armee entlassen. Am 9. Januar 1919 begann die Weltbühne mit dem Abdruck seiner siebenteiligen „Militaria“-Serie, einer schonungslosen Abrechnung mit dem deutschen Offizierskorps. Am 17. Mai 1932 erschien dann im Heft 20 der Weltbühne einer seiner letzten größeren Texte: „Für Carl v. Ossietzky“. Er beginnt mit der Feststellung, dass die Verurteilung Carl von Ossietzkys am 23. November 1931 „die Quittung der Generale“ gewesen sei „für all das, was hier seit Jahren gestanden hat“. Ossietzky gehe „ins Gefängnis für alle seine Mitarbeiter“. An Rudolf Leonhard hatte Tucho nach dem Urteil gegen Ossietzky geschrieben: „Dieses Pack hat die Gelegenheit benutzt: der Junge sitzt für meine große Schnauze mit, das ist kein Zweifel. Sie haben sich gerächt […].“ Der Aufsatz vom Mai 1932 endet mit dem Satz „Die Ware wird weitergeliefert.“ Mit „Ware“ meinte er die Weltbühne. Aber: Von nun an schwieg Tucholsky für die Öffentlichkeit beharrlich.
Am 10. April 1932 war Paul von Hindenburg erneut zum Reichspräsidenten gewählt worden. Vier Wochen zuvor hatte Kurt Tucholsky an Carl von Ossietzky hinsichtlich des Ausgangs der Wahlen geschrieben, dass es bei einer Entscheidung zwischen Hindenburg und Hitler mitnichten um ein „kleineres Übel“ ginge. „Das Übel ist beinah genauso groß. […] denn ich halte mit Ihnen die neue Herrschaft Hindenburgs […] für dreiviertel faschistisch, und einen gewählten Hitler niemals für voll faschistisch.“ In Bezug auf Adolf Hitler irrten beide fatal. In der Einschätzung der Wiederwahl Hindenburgs wurde Tucholsky spätestens am 20. Juli 1932 durch den „Preußenschlag“, den Staatsstreich Franz von Papens bestätigt. Der ersten deutschen Demokratie war dadurch der Todesstoß versetzt worden. Kurt Tucholsky wusste, dass es bis zu deren endgültiger Einsargung nur noch eine Frage der Zeit war. An eine einigermaßen ernst zu nehmende Gegenwehr vermochte er nicht mehr zu glauben. Auch darin sollte er Recht behalten.
Vier Tage bevor er die verhängnisvolle Überdosis nahm, schrieb Tucholsky einen langen Brief an Arnold Zweig, der sich zu dieser Zeit bereits in Palästina befand: „Ich klage die Gesinnung der Juden an, und viel weiter gehend, die Gesinnung der sog. ‚deutschen Linken‘, […] Man ist so verprügelt worden, wie seit langer Zeit keine Partei, die alle Trümpfe in der Hand hatte. […] Nun muß, auf die lächerliche Gefahr hin, daß das ausgebeutet wird, eine Selbstkritik vorgenommen werden, gegen die Schwefellauge Seifenwasser ist. […] Was geschieht statt dessen? Statt dessen bekommen wir Lobhudeleien zu lesen, die ich nicht mag – Lob der Juden und Lob der Sozis und Lob der Kommunisten – ‚sie sitzen da und hochachten einander‘ heißt es einmal im Schwedischen.“ Die Antwort Zweigs erreichte den Briefeschreiber nicht mehr. Sie hätte ihn bestätigt. Arnold Zweig reduzierte, aus seiner Situation heraus überaus nachvollziehbar, Tuchos Befund auf die jüdische Frage. Die meinte Kurt Tucholsky auch, aber nicht nur. Seine Resignation ist grundsätzlicherer Natur: „Statt einer Selbstkritik und einer Selbsteinkehr sehe ich da etwas von ‚Wir sind das bessere Deutschland‘ und ‚Das da ist gar nicht Deutschland‘ und solchen Unsinn. Aber ein Land ist nicht nur das, was es tut – es ist auch das, was es verträgt, was es duldet. Es ist gespenstisch zu sehen, was die pariser Leute treiben [er meinte den Kreis um Heinrich Mann – W.B.] – wie sie mit etwas spielen, was es gar nicht mehr gibt. Wie sie noch schielen – wie sie sich als Deutsche fühlen – aber zum Donner, die Deutschen wollen euch nicht! Sie merken es nicht.“
Das ist heftig. Das trifft noch heute. Und angesichts der jüngsten französischen Wahlergebnisse und nicht zuletzt angesichts der Prognosen für die AfD und ähnliche Vereinigungen gewinnen Tucholskys Sätze eine europäische Aktualität, die Grusel bereiten kann. Die Linken aber sitzen immer noch da und hochachten einander – aber das stimmt nicht ganz: Sie schlagen immer noch mit Doktrinen um sich, die zunächst einmal ihresgleichen treffen sollen. Sie reden weniger mit-, sie reden lieber gegeneinander. Zumindest das ist wie 1932. Derweilen besetzt die Rechte nach und nach die öffentlichen Plätze. Deutsche Polizisten benutzen die Drohung, rechtspopulistisch zu wählen, als Mittel in Tarifstreitigkeiten – als ob Polizisten gewöhnlich links wählten … Die Tatsache, dass die große Masse sich nach außen hin „still“ verhält, besagt gar nichts. Das faktische Potenzial der „richtig rechten“ Brüder und Schwestern, die Zustimmungsrate zu ihren brandgefährlichen Thesen liegt auch in Deutschland ähnlich wie in unserem Nachbarland Frankreich in etwa auf der Quote der aktuellen Wahlergebnisse des Front National. Pure Wahlumfragen beziehen sich auf konkrete Parteien und täuschen über die mentale Befindlichkeit eines Volkes oft hinweg. Tucholsky zitiert Alfred Polgar: „Der Umfall beginnt damit, daß man hört: Eines muss man den Leuten lassen …“ Heute heißt es: „Das ist doch wirklich ein Problem, das wird man wohl noch mal sagen dürfen!“ Der Stammtisch gibt sich diskursfähig. Er ist es nicht. Er will seine Meinung sagen. Nur seine.
Kurt Tucholsky ging am 22. Dezember 1935 aus dem Leben. Es spielt letztlich keine Rolle mehr, ob die Dosis zufällig zu hoch war oder er sie absichtsvoll nahm. Er war zutiefst verzweifelt: „Der Grund zu kämpfen, die Brücke, das innere Glied, die raison d’être fehlt“, endet der Abschiedsbrief an Mary Gerold-Tucholsky.
„Das Spiel ist aus“, schrieben Sie, lieber Tucho, an Arnold Zweig. Wir widersprechen Ihnen ungern und sehr selten, hier aber deutlich: Das Spiel ist eben nicht aus. In Deutschland wird wieder gezündelt, die Generale haben wieder Lust auf Kleinholz. Wir versprechen Ihnen: Die Ware, das Blättchen, wird weiter geliefert werden.
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