von Petra Erler
„Die Kontraste und Widersprüche, die dauernd in einer Hirnschale friedlich nebeneinander hausen können, werfen alle Systeme der politischen Optimisten und Pessimisten über den Haufen.“ (Albert Einstein) In der EU gibt es inzwischen mehr als 500 Millionen Menschen, also mehr als 500 Millionen Hirnschalen, und entsprechend groß ist die Fülle der Widersprüche und Gegensätze, die sich da friedlich tummeln. Nehmen wir die Erweiterung der EU, ein Fall voller Widersprüche und Gegensätze.
Einerseits, wer hat nicht der das Ende des Kalten Krieges als erleichternd empfunden? Die damit verbundene europäische Unordnung, Majakowski hätte es „neue geographische Moden“ genannt, war schon schwerer zu verdauen. Wo war gleich der Unterschied zwischen der Slowakei und Slowenien? Wie hießen doch die drei baltischen Staaten? Plötzlich offene Grenzen spülten nicht nur fremde Zungen, wissbegierige Jugendliche und willige billige Arbeitskräfte, sondern auch neue Kriminalitätsformen in das alte Westeuropa, das sich bestens eingerichtet hatte, auf der „richtigen“ Seite des Eisernen Vorhangs zu sein. Mit dem Fall der Mauer gab es keine richtige Seite mehr in Europa– nur sehr viele Hoffnungen, Ansprüche, Erwartungen und Ängste. Und jede Menge Vorurteile, die den Jahrhunderten getrotzt hatten.
Die Zeit der europäischen Teilung, der Kalte Krieg, hatte vergessen gemacht, dass die Zuordnung der Völker zu den rivalisierenden Bündnissen keineswegs das Ergebnis einer demokratischen Willensbildung aller war, sondern das Ergebnis von Jalta und Potsdam. Dort, aufgrund des von Deutschland angezettelten Weltkrieges, wurde der europäische Kuchen verteilt, die Teilung im Kalten Krieg zementiert. Was die betroffenen Völker wollten, war schlicht irrelevant. Die Griechen landeten im Westen (gerettet!), die Polen oder Tschechen im Osten (Pech gehabt!). Die Deutschen in Ost und West. Punkt.
Die Deutschen waren die ersten, die nach dem Fall der Mauer vom Recht auf nationale Selbstbestimmung Gebrauch machten, machen durften, sich friedlich vereinigten und als neues großes Land der EG angehörten– mit der Zustimmung der alliierten Siegermächte (unter Beteiligung Polens) und mit der Zustimmung aller Mitglieder der damaligen Europäischen Gemeinschaft. Das war kein planvoller, über Jahre vorgezeichneter Vorgang, sondern ein politisches Hau-ruck-Verfahren.
Demgegenüber waren alle anderen Völker in der Mitte und im Osten des Kontinents weit weniger privilegiert. Sie mussten streiten für die Einsicht, dass auch sie dazugehören zur europäischen Integration, Teil dieses Europas sind, das entweder zusammensteht, oder sich im Krieg und der Krise zerfetzt. Aber auch eine solche Sichtweise mutete vielen schon antiquiert an, hatten doch Wirtschaftswunder und westeuropäischer Aufschwung beinahe vergessen lassen, dass Kriege in Europa über viele Jahrhunderte die Norm waren, Frieden die Ausnahme. Kurz, der Weg der Mittel- und Osteuropäer in die EU war steinig, mit Reformen beladen, von denen man im Westen nicht leiseste Ahnung hat, bis heute nicht, immer begleitet vom Gefühl, der ungebetene Gast in der EU zu sein, der arme Verwandte, am Katzentisch platziert.
2007 landeten die Bulgaren und Rumänen dann noch nicht einmal dort, sondern gleich in der Ecke für die Schmuddelkinder. Bei diesen zwei Staaten waren sich fast alle einig – die bringen gar nichts in Punkto Demokratie und Rechtstaatlichkeit.
Die EU nahm zwar dankend und mit geschwellter Brust den Friedensnobelpreis 2012 entgegen, vor allem dafür, dass aufgrund der Erweiterung Frieden und Stabilität gesichert wurden für einen größeren Teil des europäischen Kontinents, aber bei jedem auftauchenden Problem – wie gerade eben in der Flüchtlingsfrage – wird die Grenzüberschreitung der EU hin in die Mitte und den Osten des Kontinents wieder ganz grundsätzlich thematisiert und in Frage gestellt.
Während europäische Politiker – bis heute blind für die tatsächlichen Befindlichkeiten der Ukraine – in demonstrativer Solidarität zu diesem Land stehen, fand sich für den jüngsten demokratischen Aufschrei der rumänischen Bevölkerung, die die Nase voll hat von Korruption, nur wenig öffentlicher Rückhalt. Dass die Rumänen, nicht zuletzt dank ihrer EU Mitgliedschaft heute in Punkto Korruptionsbekämpfung der Ukraine helfen könnten, weil sie wirklich Beachtliches leisten, wen kümmert es, wenn es doch ums große Ganze geht, das knapp so zusammengefasst wird: Dass die Erweiterung falsch war oder viel zu schnell kam.
Oder dass die neuen den alten EU Mitgliedsländern viel zu verdanken hätten. Was genau, wird nie gesagt. Dass solche Gedanken gerade dann auftauchen, wenn die EU durch Unmengen Flüchtlinge damit konfrontiert ist, dass Krieg, Perspektivlosigkeit und wirtschaftliche Not Menschen nicht nur in die Verzweiflung sondern regelrecht in die Flucht treiben, mutet dabei besonders anachronistisch an. Polen hat, EU-Mitgliedschaft hin oder her, inzwischen zwei Millionen Menschen ins Ausland verloren. Wie viele wären wohl gegangen, wenn es für Polen keine Hoffnung auf die EU Mitgliedschaft gegeben hätte?
Natürlich kann es uns überhaupt nicht gefallen, welche Entwicklung Ungarn, das einstige „Musterländle“ des Ostens (im westeuropäischen Verständnis) seit Jahren nimmt – nur, hat die EU hier wirklich gehandelt? Hat sie alle Instrumente benutzt, um die Entartungen in Ungarn zu zügeln? Ganz sicher nicht, denn Orbáns regierende Fidesz gehört zur konservativen Mehrheit in der EU und da hält man zusammen, notfalls nach dem Prinzip „Augen zu und durch“.
Darf es uns stören, dass mittel- und osteuropäische Staaten sich regelrecht bockig verhalten, und überhaupt nicht einsehen, warum sie Flüchtlingen eine Heimstatt gewähren sollen? Wenn auch dort radikale, fremdenfeindliche Tendenzen zu Tage treten. Ja, das darf und muss es. Nur sie rebellieren nicht alleine. Schweden schließt die Grenzen, Slowenien baut doch einen Zaun, die Deutschen kehren angeblich aus österreichischer Sicht „zur Vernunft zurück“ und der Bundesfinanzminister redet von einer „Lawine“, also eine Naturkatastrophe, die über Deutschland hereinbricht. Vom rechten Rand in Deutschland, der immer breiter wird und längst zur Mitte vordringt, ganz zu schweigen.
In der Flüchtlingsfrage rebelliert der EU-Katzentisch – ganz offen, zum ersten Mal. Und schon fällt uns nichts Besseres ein, als deren mangelnde politische Kultur zu beklagen und die Erweiterung wieder grundsätzlich in Frage zu stellen.
Wir Deutsche sollten, was Kinderkrankheiten junger Demokratien angeht, ganz still sein. Das erste Demokratieexperiment bei uns endete nach 15 Jahren, 1933, in einer weltgeschichtlichen Katastrophe. Auch das Grundgesetz wurde nicht von Deutschen geschrieben.
Anstatt also weiter so zu tun, als seien die Länder nur durch westliche Gnade Teil der EU, wäre es höchste Zeit, diese Länder endlich ernst zu nehmen und eine Politik auf Augenhöhe zu betreiben. Was weiß man schon in Berlin oder Paris oder Rom, was die Polen oder Litauer wirklich umtreibt? Hinhören, Hinschauen und sich um Verständnis bemühen – das war noch nie die Stärke der EU, aber nur so entstehen Gemeinsamkeit und Solidarität.
Verstehen wollen und verstehen können ist spätestens seit der „Putin-Versteher“-Demagogie in der EU aus der Mode gekommen. Stattdessen werden die bockigen Staaten überstimmt – so gewinnt man keine Verbündeten. Wozu die Griechen verstehen? Oder die Polen, wenn wir Deutsche schon unsere Schwierigkeiten mit uns haben? Was uns nicht daran hindert, für unsere Sicht der Dinge immer die ganze EU in Haft zu nehmen – das war schon beim Sparkurs in der Schuldenkrise so und wir spucken nur Gift und Galle, wenn die betroffenen Völker dann diesen Kurs abwählen, so, als sie wären nicht ganz bei Trost (oder „Chaoten“, siehe Griechenland). So ist das auch in der Flüchtlingsfrage. Mal gilt Dublin aus deutscher Sicht nicht. Dann aber soll es wieder gelten. Wer unserer Partner soll das verstehen (von der eigenen Bevölkerung ganz zu schweigen)? Nun ja, der Einsteinsche Schädel eben. Oder deutsche Verantwortungslosigkeit in und für Europa. Dazu gehört auch das erbärmliche Schweigen, wenn wieder einmal deutsche Stimmen gegen die Osterweiterung der EU zu Felde ziehen.
Dr. Petra Erler ist Geschäftsführerin der Strategieberatung European Experience Company GmbH. 1990 war sie nach den ersten freien Wahlen in der DDR Staatssekretärin für Europäische Angelegenheiten. Von 2006 bis 2010 war sie die Kabinettschefin von EU-Kommissar Günter Verheugen.
Schlagwörter: Demokratie, Dublin, EU, EU-Erweiterung, Flüchtlingspolitik, Osteuropa, Petra Erler