von Wolfgang Schwarz
„Viererbanden“ sind im Westen augenscheinlich ein weit häufiger auftretendes Phänomen als im chinesischen Herkunftsland. Jedenfalls im Bereich der Sicherheitspolitik.
Es begann 1982, in einer Hochphase der Ost-West-Konfrontation, als McGeorge Bundy, George F. Kennan, Robert S. McNamara und Gerard Smith in einem Essay in Foreign Affairs dafür plädierten, auf die Drohung mit nuklearem Ersteinsatz für den Fall eines militärischen Konflikts mit der UdSSR und dem Warschauer Pakt zu verzichten. Diese Drohung war seinerzeit bereits seit Jahrzehnten der Dreh- und Angelpunkt der Militärstrategie der USA und der NATO.
35 Jahre später, im Januar 2007, waren es William J. Perry, George P. Shultz, Henry A. Kissinger und Sam Nunn, die sich im Wallstreet Journal für Schritte in Richtung einer von Nuklearwaffen freien Welt aussprachen.
Ihnen schlossen sich im Januar 2009 in einem „Für eine atomwaffenfreie Welt“ betitelten Grundsatzbeitrag, der in der FAZ publiziert wurde, vier deutsche elder statesmen an: Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Egon Bahr und Hans-Dietrich Genscher.
Jüngst hat sich mit
- Frank Elbe, zuzeiten der diplomatischen Vorbereitung der deutschen Vereinigung Büroleiter des bundesdeutschen Außenministers und nachmals langjähriger Botschafter,
- Harald Kujat, früherer Generalinspekteur der Bundeswehr,
- Horst Teltschik, ehemaliger stellvertretender Leiter des Bundeskanzleramtes und engster außenpolitischer Berater von Helmut Kohl sowie später langjähriger Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, sowie
- Bruno Redeker, Vorstand der Carl Friedrich von Weizsäcker-Stiftung,
erneut ein Quartett mit ausgewiesener außen- und sicherheitspolitischer Kompetenz zu Wort gemeldet – mit einer Denkschrift („In den Krisen unserer Zeit“) für den Arbeitskreis Gemeinsames Haus Europa der Weizsäcker-Stiftung. Darin stellen die Autoren fest: „Die Chance zu einer ‚Friedens-und Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok‘, wie sie in der ‚Pariser Charta für ein neues Europa‘ angelegt ist, scheint weitgehend vertan.“ Nicht nur, aber auch nicht zuletzt, so wäre zu ergänzen, weil der Westen die russische Initiative in diese Richtung aus dem Jahre 2008 nicht aufgegriffen, sondern seinerzeit immer noch mehrheitlich nach fortgesetzter Ausweitung der NATO nach Osten gestrebt hat. Da war das Diktum von US-Präsident George Bush senior vom 31. Mai 1989, das die Denkschrift zitiert, leider schon länger Geschichte: „Die Sowjets sollen wissen, dass unser Ziel nicht darin besteht, ihre legitimen Sicherheitsinteressen zu untergraben.“
Die Autoren rufen einige Sachverhalte und Zusammenhänge in Erinnerung, die in den seit 2014 geführten, teils nassforschen, teils geschichstvergessenen sicherheitspolitischen Debatten um den aktuellen und künftigen Umgang mit Moskau allzu häufig außer Sicht bleiben. Das sind zuvorderst die Existenz von Kernwaffen sowie die Tatsache, dass sich 90 Prozent der weltweiten Arsenale in den Händen Russlands und der USA befinden. Deren jeweils gesicherte Zweitschlagskapazität sei allerdings nicht mit gesicherter Verhütung von Krieg gleichzusetzen, denn: „Eine Technik in ständiger Weiterentwicklung kann keine Garantie gegen technisches Versagen bieten, nicht gegen die Eskalation regionaler Konflikte, nicht gegen die Proliferation nuklearer Waffen und Technologien, schließlich auch nicht gegen den Irrtum und den menschlichen Wahn. Kriegsverhütung kann letztlich überhaupt nicht technisch, sondern nur politisch gesichert werden.“ Und: Die „nukleare Zweitschlagskapazität der beiden Großmächte mag heute noch oder vielleicht wieder das stärkste Argument der Friedenssicherung sein. Aber dieses Gleichgewicht ist hochgradig instabil. Und die Kubakrise lehrt: Ein Versagen genügt.“
Die Aussicht auf ein solches Versagen steigt geradezu zwangsläufig, wenn, wie das seit vergangenem Jahr der Fall ist, eine Politik gegenseitiger militärischer Nadelstiche betrieben wird und zugleich der Wille zum Interessenausgleich und zur Kompromissfindung gegen Null tendiert. „Dieser Wille“, so die Autoren, „scheint heute auf beiden Seiten nahezu erloschen und ist wohl auch nicht so ohne weiteres wiederzubeleben“.
Ein Blick auf die Geschichte des Kalten Krieges, aus der auch die Autoren einen nicht unerheblichen Teil ihrer Berufs- und Lebenserfahrungen schöpfen, zeigt allerdings, dass es – zumindest bisher – keine alternativlos zugespitzten Krisen gegeben hat, auch wenn manche Vorschläge zur Krisenüberwindung zum Zeitpunkt ihrer Verkündigung wie aus der Zeit gefallen schienen – so Egon Bahrs Konzept vom „Wandel durch Annäherung“ im Jahre 1963, das schließlich zu einem der entscheidenden Hebel zur Beendigung der Ost-West-Konfrontation wurde. Ganz in diesem Sinne fordert die Denkschrift gerade jetzt, mitten in der Krise, „das große Ziel zu verwirklichen, das die Charta von Paris entwirft: eine umfassende Friedens- und Sicherheitsordnung mit dem ‚Gemeinsamen Haus Europa‘ als gleichsam harten Kern“.
Auch der längste Weg beginnt bekanntlich mit wenigstens einem ersten Schritt. Die Autoren der Denkschrift ihrerseits sehen „drei zwar nicht hinreichende, aber zunächst doch notwendige, ineinander verschränkte Schritte:
- Erstens die Einsicht, dass jede Großmacht ihr Kuba hat. Das meint die definierte und gegenseitig respektierte Anerkennung strategischer Interessen, damit der Krieg in der Ukraine nicht in einen Krieg um die Ukraine entgleitet.
- Zweitens die Entideologisierung von Konflikten. Das gilt für Syrien ebenso wie für die Ukraine, für die Henry Kissinger eine ‚konsolidierte Neutralität‘ vorgeschlagen hat, im Sinne einer stabilisierenden, gleichwohl progressiven Entwicklung im Gemeinsamen Haus Europa.
- Drittens Verhandlungen, die gegenüber Trennendem gemeinsamen Interessen den Vorrang geben und zu einer möglichst engen Verflechtung führen, deren Unterbrechung Folgen nach sich zieht, die keiner der Beteiligten würde wollen können.“
Wem eine derartige Linie jedoch nicht passt, dem steht es natürlich frei, auch ganz anderen Empfehlungen zu folgen – etwa diesen aus der Feder eines Richard Herzinger, Leitartikler der Welt: „Eine dringend notwendige Doktrin im Umgang mit dem Putinismus müsste von einer langen Phase der Konfrontation ausgehen und daraus ableiten, welche Mittel politischer wie militärischer Abschreckung in welcher Dosierung zu dessen Eindämmung einzusetzen sind.“
Bereits ohne eine solche Doktrin hat allerdings das Risiko eines Einsatzes von Kernwaffen in Europa seit Ausbruch des Ukraine-Konflikts deutlich zugenommen. So das Urteil eines von der Nuclear Threat Initiative (NTI) – Co-Chairman: Sam Nunn, ehemals Vorsitzender des Streitkräfte-Ausschusses des US-Senats – mit einer entsprechenden Untersuchung betrauten Panels US-amerikanischer, russischer und europäischer Experten. Deren Ergebnisse wurden am 28. September unter dem Titel „Wachsende nukleare Gefahren: Einschätzung des Risikos nuklearer Waffenanwendung in der euro-atlantischen Region“ (Rising Nuclear Dangers: Assessing the Risk of Nuclear Use in the Euro-Atlantic Region) publiziert – mit folgendem Fazit: „Das Risiko eines Einsatzes von Kernwaffen in der euro-atlantischen Region ist im Steigen begriffen, und es ist höher als jemals zuvor seit Ende des Kalten Krieges.“
Insgesamt haben die Experten zehn Faktoren identifiziert, durch die sich das Risiko eines Nuklearkriegs zwischen der NATO und Russland erhöht habe – darunter: Mangel an gegenseitigem Vertrauen, Bündniszwänge, unterbrochene Kommunikationskanäle, mangelhafte Sicherungen zur Verhütung von Nuklearwaffengebrauch, Ungleichgewicht bei konventionellen Streitkräften und fehlende nukleare Sachkenntnis.
Angesichts dieser Besorgnis erregenden Lagebeurteilung scheint es wohl doch angeraten, um solche Knüppel-aus-dem-Sack-„Strategen“ wie Herzinger einen weiten Bogen zu schlagen.
Die NTI-Analyse jedenfalls bestätigt die Autoren der eingangs behandelten Denkschrift, wenn sie unterstreichen, dass es im „ureigensten Interesse“ Europas läge, „nach allen Kräften dazu beizutragen, den Antagonismus zwischen Ost und West, die Spirale von Drohung und Gegendrohung, von Fehleinschätzung und Überreaktion zu überwinden“.
Schlagwörter: Carl Friedrich von Weizsäcker-Stiftung, Europa, NATO, Nuclear Threat Initiative, Russland, Vancouver, Wladiwostok, Wolfgang Schwarz