von Gerd-Rüdiger Hoffmann
Wer den „Tag der deutschen Einheit“ nicht im Taumel des Offiziellen begehen, dennoch diesen Tag nicht ignorieren wollte, der konnte durchaus fündig werden. Nach dem Motto eines Wenzel-Liedes „Halte Dich von den Siegern fern, / Halte Dich tapfer am Rand!“ war das Theater am Rand im Oderbruch eine gute Adresse. Hier spielte bereits am Vorabend die „Bolschewistische Kurkapelle“ und ließ das voll besetzte Theater mit Eisler, Reiser und Brecht beben.
Am Feiertag dann eine Premiere: Der Schauspieler Jens-Uwe Bogadke, Tobias Morgenstern am Akkordeon, der legendäre Conny Bauer an der Posaune sowie vor allem Walfriede Schmitt präsentierten eine Collage aus Marx-Texten und geschickt ausgesuchten Stellen aus dem 1920 zuerst erschienenen fiktiven Reisebericht „Der Papalagi“ von Erich Scheurmann. Das Buch zu „Manifestliches – Dialog zwischen Karl Marx und dem Südseehäuptling Tujavii“ schrieb Walfriede Schmitt selbst. Regie führte Olaf Winkler. Gern konnte man deshalb der Ankündigung glauben, dass die Namen der Mitwirkenden für Sinnlichkeit und Humor bürgten. Und wer das von Tobias Morgenstern und Thomas Rühmann geleitete Theater am Rand einmal gefunden hat, weiß ohnehin, dass Denken nicht notwendigerweise schlimm sein muss. Unterstützt haben das Vorhaben die kulturpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Sigrid Hupach, Hans Modrow und die Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Dennoch gab es vor der Aufführung gute Gründe für eine gewisse Skepsis.
Einmal wurde mit brechtscher didaktischer Strenge im Programmheft angekündigt, dass es Zeit sei, mit dem Jammern auf hohem Niveau aufzuhören. Aufklärung darüber sei angesagt, dass das Kapital dabei wäre, die alleinige Herrschaft in der Welt endgültig zu erringen und dass es deshalb höchste Zeit sei, „konzentriert hinzuschauen auf die beängstigenden Gründe für den Zustand dieser Welt“.
Doch gehören Sätze aus dem „Kommunistischen Manifest“ oder dem „Kapital“ wirklich auf die Bühne, und können sie zu neuen Erkenntnissen über unsere Zeit führen? Kann das gar unterhaltsam sein? Bei diesem Publikum, zum großen Teil aus Berlin angereist mit einem von der Luxemburgstiftung gecharterten Bus? Kommt da nicht bloß Bestätigung des immer schon Gewussten raus?
Ja, das auch, und an einigen Stellen gab es selbst dafür Szenenapplaus, weil die Wut der Akteure auf der Bühne über den Zustand der Gesellschaft echt war. Berührend und gleichzeitig von eindringlicher Schärfe zum Beispiel der verzweifelte Aufschrei der Schmitt in Richtung Linke: „So einigt Euch doch!“
Dass ein tieferes Nachdenken nützlich ist, dass Marx noch immer dabei behilflich sein kann, dass schließlich Wut alleine nicht ausreicht, sondern zu „wissender Unzufriedenheit“ führen müsse, wie Ernst Bloch es formulierte, das alles wurde sinnlich wahrnehmbar. Selbst schwierige Texte belehrten mit einem Augenzwinkern äußerst kurzweilig. Man war an Yanis Varoufakis erinnert, der sich zwar als erratischer Marxist bezeichnet und Marx deshalb mit flotter Polemik immer wieder mal vom Sockel holt, aber auch betont: „Jedes Mal, wenn ich aus dem Fenster sehe, bin ich mit den Widersprüchen konfrontiert, auf die er hingewiesen hat.“
Walfriede Schmitt gibt den „Kapitalisten an sich“ mit allen Klischees, die man von Karikaturen der 1920er Jahre kennt. Der kluge Humor der Buchautorin und das intensive Spiel der Schauspielerin in einer Person vermeiden aber jede Plattheit. Und wenn es dann doch im Text zu akademisch wird, geht die Musik dazwischen. Das hat Witz, wenn gewaltige Marx-Sätze durch Posaune und Akkordeon gelegentlich regelrecht karikiert werden. Das kann der Marx doch nicht ernst gemeint haben! Und wenn doch, dann ist unverständlich, warum alles anders gelaufen ist.
Der erste Grund für Skepsis ist also entkräftet, und so erging es auch dem anderen, obwohl der schwerer wiegt.
Der zweite Grund liegt nämlich in der Verwendung der „Reden des Südseehäuptlings Tujavii aus Tiavea“, angeblich gehalten vor seinen Leuten, nachdem er aus Europa zurückgekehrt ist und gar seltsame Dinge über das Denken und Tun des Weißen, des Papalagi, zu berichten hat: Geld sei bei ihm Gott. Selbst Liebe ginge beim Papalagi nicht ohne Geld. Ständig wolle er Dinge, nur durch eine Anhäufung von vielen Dingen fühle er sich in seinem Wert bestätigt. Zeit hätte er nie.
Die Textstellen sind so ausgewählt, dass der romantisierende Ethnokitsch Scheurmanns nicht zum Tragen kommt. Jens-Uwe Bogadke spielt den „Häuptling“, den Retter der Bäume, Tiere und des Menschlichen, als Überlegenen gegenüber dem satten und zum Schluss dann doch ermatteten und verunsicherten Kapitalisten.
Und die musikalischen Einfälle von Conny Bauer und Tobias Morgenstern machen die Sache rund und retten manchmal auch die Grundidee. Denn Walfriede Schmitt geht es vor allem darum zu zeigen, dass so manches Ungerechte und Unbegreifliche durch recht alte Wahrheiten des gesunden Menschenverstandes und nach dem Lesen von Marx-Büchern umso mehr durchschaubar sein müssten. Gleichzeitig, und hier spielt wieder die Musik eine tragende aufklärerische Rolle, sei es besser, auch die einfachen Wahrheiten immer wieder neu zu prüfen.
Scheurmann tat zeitlebens so, als hätte er den „Häuptling“ Tujavii gekannt und lediglich seine Botschaft übersetzt. Beim Schummeln erwischt und von kritischen Ethnologen angegriffen, verteidigten er und seine Anhänger das Machwerk bierernst und stur. In „Manifestliches“ zerstören die Musiker Conny Bauer und Tobias Morgenstern und Jens-Uwe Bogadke mit herrlicher Ironie alles Apodiktische, wodurch das kapitalismuskritische Anliegen des Theaterstücks stärker hervortritt. Damit ist auch die Abgrenzung zum später naziaffinen Scheurmann gelungen, der außerdem noch üble Beiträge über exotische Frauen und andere Geschichten über „die edlen Wilden“ verfasst hat.
Was Marx zur „Agrikultur“ im „Kapital“ formulierte, wurde im Theater am Rand zu guter aufklärerischer Unterhaltung: Die Tragik des Kapitalismus mit seiner nicht zu bremsenden Dynamik in der Produktion bestünde darin, dass „sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter“. Die Frage, ob diese Feststellung Widerstand mobilisiert oder ob das Sich-Fügen unter die Geschäftsordnung des Systems weiterhin dominieren wird, bleibt offen. „Manifestliches“ trifft auf die Wirklichkeit.
Einige „Striche“ würden der Collage nicht schaden, dann jedoch sollte unbedingt nach weiteren Aufführungsmöglichkeiten gesucht werden.
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