von Erhard Crome
„Wollen wir zum Europa von Merkel gehören oder zu dem von Orbán? Ein Europa, das eine Wertegemeinschaft sein will? Oder ein Europa der nationalen Interessen?“ Das fragte dieser Tage die belgische Zeitung De Standaard. Nun wissen wir, schon von der Ukraine-Politik der Europäischen Union und Deutschlands, dass es, wenn von Werten die Rede ist, immer auch um Interessen geht, hier der deutschen. Es ist nicht anzunehmen, dass das jetzt anders ist.
Allerdings verbirgt sich hinter der Frage „Merkel oder Orbán?“ ein inzwischen unterschiedliches Nationsverständnis. Und das ist nicht nur eine Frage subjektiver Wahrnehmung, sondern der tatsächlichen Verhältnisse. Zunächst ist die Nation als eine eigenständige, sozialhistorisch begründete Verbindungsweise zwischen Menschen anzusehen. Sie verschwindet nicht angesichts globaler Herausforderungen. Mit der Nationalökonomie entstand der moderne Staat, der eine einheitliche Rechtsordnung, einen einheitlichen Entwicklungsraum für die Wirtschaft und ein vereinheitlichtes Bildungssystem schuf und sicherstellte, das wiederum für eine einheitliche Verkehrssprache sorgte. Die Nation und der ihr zugehörige Staat sind in Europa und darüber hinaus als historisch gewachsene Organisations- oder Lebensformen menschlicher Gesellschaft anzusehen. Die ihnen im 19. Jahrhundert zugeschriebene Potenz haben sie gewiss nicht, oder nicht mehr; sie werden von der Weltgesellschaft und der Weltwirtschaft einerseits und dem wachsenden Gewicht der Regionen andererseits schrittweise relativiert. Dennoch behalten sie ihren Platz und ihr Gewicht in der Geschichte.
In den politischen und sozialen Kämpfen des 19. und 20. Jahrhunderts hat sich das ursprüngliche Modell der (US-) amerikanischen und französischen Revolution durchgesetzt, das die Nation mit den Bürger- und Menschenrechten in eins setzt und die Verfassung zur Voraussetzung hat. Vor diesem Hintergrund wird die Zugehörigkeit zur Nation nach den Regeln der Konstituierung der Staatsbürgernation und nicht nach denen einer völkischen Nation bestimmt, was in der veränderten deutschen Staatsbürgerschaftsgesetzgebung seinen politischen Ausdruck findet. So ist die Nation keine bloße Ethnie, sondern das Ergebnis politischer Konstituierung unter der Voraussetzung der Teilnahme am Weltmarkt, wie der Philosoph Peter Ruben immer wieder betont hat.
Dennoch ist einmal zu unterscheiden zwischen den großen europäischen Nationen, wie Frankreich oder England, die jahrhundertelang über andere Völker herrschten, und kleinen Nationen, die sich erst im Kampf gegen unterdrückende Staaten und Nationen konstituierten, wie die Iren gegen England, die Tschechen gegen Österreich, die Esten, Letten und Litauer gegen Russland, die Griechen gegen das Osmanische Reich. Unter diesen waren viele zugleich arm und jahrhundertelang Auswanderungs-, nicht Einwanderungsgesellschaften. Etliche Nationen im Osten Europas gehen in ihrem Selbstverständnis davon aus, dass sie erst nach dem Ende der Sowjetunion und des realsozialistischen Staatengefüges ihre Unabhängigkeit und nationale Selbstbestimmung erreicht haben. Außer den baltischen Republiken rechnen sich dazu auch die Slowakei, Slowenien, Ungarn und Polen. Den Beitritt zur EU haben sie als Chance verstanden, den wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsrückstand zum Westen des Kontinents zu verringern, nicht als Eintritt in eine Haftungsgemeinschaft. Die Abwehrhaltung gegen die Aufnahme nichteuropäischer, gar muslimischer Flüchtlinge hat hier eine Grundlage.
Deutschland hatte eine andere Geschichte. Es war jahrhundertelang das Reich in der Mitte des Kontinents, mit einem Kaiser an der Spitze. Als mit der Revolution von 1848/49 die Frankfurter Nationalversammlung über eine demokratische Zukunft stritt, konnte sie sich nicht darüber einigen, was denn nun Deutschland sei und wo seine Grenzen liegen. Das Bismarck-Reich von 1871 war im Grunde kein Nationalstaat, weil die Deutschen in Österreich und in Böhmen draußen blieben. Desto stärker entwickelte sich der Nationalismus als Herrschaftskonstrukt. Als Hitler mit dem „Anschluss Österreichs“ 1938 behauptete, nun „Großdeutschland“ geschaffen zu haben, ging es längst um die Eroberung Europas, nicht um die deutsche Nation. Nach dem Scheitern dieses verbrecherischen Versuchs waren die Bundesrepublik und die DDR Teilstaaten, die dem alten Nationalismus abgeschworen hatten. Die deutsche Vereinigung von 1990 fand dann nochmals im Namen der Nation statt. Doch die nationale Aufwallung verebbte bald.
Die jahrzehntelange Auseinandersetzung auch innerhalb der Christdemokratie um Einwanderungsquoten und Asylpolitik hat Angela Merkel nun zugunsten der Aufnahme von Flüchtlingen entschieden. Die auf eine national-orientierte Politik Fixierten sind in Deutschland nun eine sichtliche Minderheit und durch die Verbrechen rechter Brandstifter diskreditiert. „Für Asylsuchende gibt es keine Quote“, war die Begründung. Nachdem die Entscheidung getroffen war, die in Ungarn kujonierten Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen, lautete die Nachrichtenmeldung, Linke, Grüne und Sozialdemokraten unterstützten die Kanzlerin – während die bayerische CSU dies kritisierte. Nach der Koalitionsrunde am 6. September war denn auch letztere eingebunden und der Parteifriede wiederhergestellt.
Es war ein Szenario, wie beim Atomausstieg: Zunächst längeres Zaudern und Schweigen, dann ein rascher und weitreichender Entschluss der Kanzlerin, und dies in einer politischen Konstellation, da sachlicher Widerstand von Seiten der Opposition nicht zu erwarten ist. Der Teufel liegt im Detail, aber der verschwindet in der verbreiteten Freude über die Sache als solche. Hier sind die Details, dass die Unterschlupf Suchenden vom Westbalkan sofort und unverzüglich an der Grenze abgewiesen werden und dass verbreitet wieder Sachleistungen an die Stelle von Geldzahlungen treten sollen, solange das Asylverfahren läuft.
Ist das nun alles reine Freundlichkeit, oder doch Ausdruck hegemonialer deutscher Machtpolitik? Zuerst ist das Image gewendet: Schrieben internationale Zeitungen nach der Griechenland-Entscheidung vom Juli, nun sei das Gesicht des „hässlichen Deutschen“ wieder da, erscheint nun Angela Merkel als die Mutter der Mühseligen und Beladenen. Der Politik-Chef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Volker Zastrow, fabulierte: „Deutschland muss den Flüchtlingen keine Kerzen ins Fenster stellen. Es ist ein Leuchtturm. Deutschland muss ihnen keine Versprechen machen. Es ist das Versprechen.“ In der Image-Konkurrenz mit den USA, die im 19. und 20. Jahrhundert stets verloren ging, hätte in diesem Sinne Deutschland nun auch hier endlich die Nase vorn.
Wichtiger sind die harten Fakten. Daimler-Boss Dieter Zetsche tirilierte ganz offen: „Die meisten Flüchtlinge sind gut ausgebildet und motiviert. Solche Leute suchen wir.“ Nachdem es gerade unter der Federführung der Konservativen in Deutschland jahrzehntelang versäumt wurde, eine kinderfreundliche Familienpolitik zu machen, und die Geburtenrate niedrig bleibt, das Bildungswesen vernachlässigt wurde und die sozialen Differenzen hier reproduziert werden, fehlen allenthalben qualifizierte Arbeitskräfte. Die gewinnt man nun durch die rasche Zuwanderung. Auf die Prekarisierten kann man noch mehr verzichten als zuvor. Sie erhalten fünf Euro mehr Hartz-IV-Geld und sollen nur nicht die öffentliche Ruhe und Ordnung stören. Außerdem weiß man aus unterschiedlichen Befunden zur Bevölkerungsentwicklung, etwa Vergleichsstudien zwischen den USA und der EU oder Indien und China, dass alternde Gesellschaften an Innovationsfähigkeit und Dynamik verlieren. Wenn Deutschland als geoökonomische Macht mit globalen Interessen seine Position in der Welt also halten und ausbauen will, braucht es eine neue Bevölkerungsdynamik. Und wenn die nicht von innen kommt, holt man sie von außen. Bei Friedrich II. von Preußen hieß das „Peuplierung“.
Deutschland braucht immer auch die EU. Aber welche? Die Zeitung The Malta Independent stellte fragend fest, die Flüchtlingskrise könnte die Prozesse der Entscheidungsfindung in der EU grundlegend verändern. „Teil unseres einzigartigen Demokratieexperiments ist das Prinzip der Einstimmigkeit bei Entscheidungsprozessen. Es ist offensichtlich, dass das unsere Handlungsfähigkeit einschränkt. Welchen Weg werden wir gehen?“ Dem Europäischen Parlament könnten mehr Rechte übertragen werden oder die politischen Führer der EU-Länder könnten dringend benötigte gemeinsame Vorgehensweisen ausarbeiten. „Wird die Migrationskrise zu einer Entwicklung, die die EU in Richtung Bundesstaat führt?“
Nachdem die Schuldenregime, wie im Falle Griechenlands, dazu geführt haben, die nationalen Entscheidungskompetenzen der gewählten Parlamente und Regierungen drastisch zu beschneiden, geht es nun um die Aushöhlung des Souveränitätsprinzips überhaupt. Die Einwanderungspolitik wird hier zum Einfallstor. Es ist aber nicht gesagt, dass es dabei um den Bundesstaat geht. Der Zielpunkt kann auch Ausbau der deutschen Hegemonie sein: „Wir“ entscheiden, was allen gut tut.
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