von Mario Keßler
In Zeiten, da Flüchtlingen bei uns oft Argwohn, manchmal auch Hass entgegenschlägt, tut es Not, an Schicksale von Menschen zu erinnern, die willkürlich aus Deutschland vertrieben wurden; zwischen 1933 und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges waren dies eine halbe Million Männer, Frauen und Kinder. Ihr „Verbrechen“ bestand darin, Jude oder Nazigegner zu sein. Im Fall von Erich Hellmuth Jacoby (1903-1979) traf beides zu.
Erich Hellmuth Jacoby war ein Verwandter des Radikaldemokraten und späteren Sozialisten Johann Jacoby (1805-1877), dessem Denken er sich seit seiner Jugend verpflichtet fühlte. Geboren und aufgewachsen als Sohn eines Arztes im kaiserlichen Berlin, wurde der Heranwachsende im Ersten Weltkrieg zum Kriegsgegner. Im November 1918 hörte er Karl Liebknecht sprechen. „Seit diesem Tag glaubte ich fest an den Sozialismus, ein Glaube, der zu Enttäuschungen führte, aber weiter mit mir leben sollte“, schrieb Jacoby in seinen Lebenserinnerungen, die bereits 1977 in schwedischer Übersetzung erschienen. Im Original wurde das in deutscher Sprache verfasste Manuskript jedoch erst kürzlich publiziert, auch dank einer finanziellen Unterstützung durch die Hans-Böckler-Stiftung.
Als Student der Rechtswissenschaft erlebte Jacoby in Berlin, wie die Demonstrationen der Arbeiter „häufiger und häufiger“ zu Beerdigungszügen für die wurden, „die von politischen Mördern der aufkommenden völkischen Organisationen dahingestreckt waren.“ Jacoby trat der SPD bei und stand auf ihrem linken Flügel. Nach der Promotion und den juristischen Staatsexamina arbeitete er als Rechtsanwalt und als Syndikus der Gewerkschaft der Eisenbahner. Ein prägendes Erlebnis für ihn war die Entlarvung des Reichsanwalts Jörns, der die Mörder Liebknechts und Luxemburgs juristisch zu decken suchte, durch Paul Levi.
Dramatisch lesen sich die Kapitel über die Flucht aus Deutschland 1933 und die schweren Jahre, die ihr folgten. In Dänemark schlug sich Jacoby zunächst mit dem Verkauf von Zeitungen und Anzeigenabonnements durch, eher er eine Anstellung im Gewerkschaftsbund fand. Er lernte seine spätere Frau Lotte Friediger, eine Chemikerin und Tochter des dänischen Oberrabiners, kennen. Dessen Familie akzeptierte erst nach jahrelangem Widerstand die Verbindung der Tochter mit einem atheistischen, nichtzionistischen Juden. Viel Raum nimmt die Schilderung der solidarischen Hilfe ein, die Jacoby erfuhr, so durch Edo Fimmen, den niederländischen Generalsekretär der Internationalen Transportarbeiter-Föderation.
Im April 1940 gelang dem Paar die Flucht aus dem von Nazideutschland überfallenen Dänemark nach Schweden. Dort schrieb er wie in Dänemark für die Gewerkschaftspresse. Seine Frau fand eine Anstellung in einem Forschungsprojekt in Uppsala, doch die schwedischen Behörden wollten den Status der beiden Flüchtlinge nicht legalisieren. So reisten sie Ende 1940 durch die Sowjetunion und Japan weiter auf die Philippinen. Das noch als Kolonie zu den USA gehörende Land hatte ihnen zwei der raren Einwanderungsvisen zukommen lassen. Wie Lotte und Erich Jacoby sich dort zurechtfanden und ihr Überleben sicherten, gehört zu den interessantesten Passagen des Buches. Es gelang Erich Jacoby, einen Lehrauftrag für Ökonomie an der Technischen Hochschule in Manila zu bekommen, und auch seine Frau fand eine bezahlte Stellung. Später arbeitete er als Wohnungsmakler.
Jacoby schildert Manila als Stadt riesiger sozialer Gegensätze. Die Reichen lebten im Luxus, doch auch sie litten „unter dem Trauma einer rassischen Minderwertigkeit gegenüber Europäern und Amerikanern. Eine lichtere Hautfarbe war identisch mit Schönheit, und sie vermieden es soweit als möglich, sich der Sonne auszusetzen. Amerikanische Firmen verdienten groß an dem Verkauf hautbleichender Kosmetika und hellem Puder.“ Doch die arme Bevölkerungsmehrheit hatte andere Sorgen. Auf dem Land sah Jacoby die riesigen Güter, die von Landarbeitern in absoluter Rechtlosigkeit bearbeitet wurden. Er sah, dass die amerikanischen Lehrbücher, die er an der Hochschule benutzte, nichts mit der philippinischen Wirklichkeit zu tun hatten. Dies trug maßgeblich zu seiner Entscheidung bei, sich beruflich nunmehr der Agrarsoziologie und Agrarökonomie zuzuwenden.
Im Februar 1942 okkupierte Japan Manila. Als großes Glück erwiesen sich Lottes dänischer Pass und Erichs Flüchtlingsausweis, da Dänemark kein formeller Kriegsgegner Japans war. Genau drei Jahre dauerte die japanische Okkupation, ehe Manila von den Amerikanern befreit wurde. Doch setzten die Japaner bei ihrem Rückzug große Teile der Stadt in Brand, den die Jacobys nur mit viel Glück überlebten.
Erst allmählich folgten ruhigere Jahre. Die Familie reiste in die USA, wo Erich Jacoby vom Abwurf der Atombomben erfuhr, gegen den nur wenige Amerikaner zu protestieren wagten. Die Carnegie-Stiftung finanzierte ihm eine Forschungsarbeit über Agrarbewegungen in Südostasien, doch hatte er Probleme, das daraus erwachsende Buch zu publizieren. 1949 wurde schließlich die Tochter Ruth geboren, die eine diplomatische Laufbahn einschlagen sollte: Von 2006 bis 2010 war sie schwedische Botschafterin in Deutschland und ist heute in gleicher Funktion in Italien tätig.
Die Jacobys pendelten einige Jahre zwischen den USA, wo sie wegen ihrer linken Gesinnung auf immer größere Probleme stießen, und Dänemark hin und her, bevor sie sich in Schweden niederließen. Dort arbeitete Erich Jacoby nach Tätigkeiten in der Wirtschaft seit 1951 für die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) der UNO. Das bedeutete einen erneuten Umzug, diesmal nach Rom zum Hauptsitz der FAO. 1967 kehrte die Familie nach Schweden zurück. Danach nahm Erich Jacoby eine durch Gunnar Myrdal vermittelte Forschungsprofessur in Stockholm wahr. Er war nun schwedischer Staatsbürger, und auch kulturell war Schweden zur Heimat geworden. Der Internationalist blieb Internationalist; seine aus vielen Forschungsreisen erwachsenden Publikationen waren vom Bemühen getragen, das Leben der Menschen in der „Dritten Welt“ verbessern zu helfen.
Das gut geschriebene Buch wird durch einen umfangreichen Anmerkungsapparat und mehrere, die Hintergründe von Jacobys Exil erhellende Essays bereichert: durch einen biographischen Abriss von Ulf Hannerz, durch Berichte über jüdische Emigranten auf den Philippinen von Christine Kanzler, über Wege jüdischer Gewerkschafter im Exil von Simone Ladwig-Winters, einen Überblick über die Forschungen zur Landreform von Hans Meliczek, einen Beitrag zu Johann Jacoby von Uwe Wesel sowie eine Bibliographie Erich Jacobys, die seine Tochter Ruth zusammenstellte, und ein Nachwort des Mitherausgebers Felix Schikorski.
Erich Jacoby war ein humaner, aufmerksamer, bis zum Kern der Dinge vordringender Beobachter und Mitgestalter des Zeitgeschehens. Sein Lebensbericht, das bedeutsame Zeugnis eines unbeugsamen Charakters, gehört in die Hände aller, die mehr über das deutsche antifaschistische Exil nach 1933 wissen wollen.
Erich Hellmuth Jacoby: Mensch – Land – Gerechtigkeit. Die Erinnerungen Erich Hellmuth Jacobys (1903-1979). Ein Leben im Spiegel der Zeit, herausgegeben von Ruth Jacoby und Felix Schikorski, Hentrich & Hentrich, Berlin 2014, 342 Seiten, 24,90 Euro.
Schlagwörter: Erich Hellmuth Jacoby, Exil, Faschismus, Mario Keßler, Philippinen, Schweden, USA