18. Jahrgang | Nummer 18 | 31. August 2015

Egon Bahr

von Wolfgang Schwarz

Bisher hatten wir keine Beziehungen.
Jetzt werden wir schlechte Beziehungen haben.
Und das ist der Fortschritt.

Egon Bahr,
Bonner Verhandlungsführer, 1972,
nach Abschluss des Grundlagenvertrages
zwischen der DDR und der BRD

Noch bevor ich Egon Bahr persönlich kennen lernte, hatte mich das 1982 publizierte, von ihm im Rahmen der internationalen Palme-Kommission wesentlich mit erarbeitete Konzept der gemeinsamen Sicherheit (common security) überzeugt. Ost und West, die Gegner im Nuklearzeitalter, sollten ihre Sicherheit nicht mehr konfrontativ gegeneinander organisieren und sich – sowie die Menschheit – dabei dem Risiko atomarer Selbstvernichtung aussetzen, sondern kooperativ miteinander, um das nukleare Damoklesschwert schrittweise zu bannen. Diese Überlebenslogik sollte zur Leitschnur meiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit auf dem Gebiet der internationalen Sicherheit bis zum Ende der DDR werden und ist es heute unter den Bedingungen erneuter Konfrontation zwischen dem Westen und Russland nicht minder.
Dass dies so wurde, habe ich nicht unerheblich der persönlichen Bekanntschaft mit Egon Bahr zu verdanken. Die Möglichkeit dazu ergab sich ab 1984, als er die Leitung am Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) übernahm. Mit diesem war das Institut für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR (IPW), meine Arbeitsstelle, damals bereits seit etlichen Jahren durch einen regelmäßigen wissenschaftlichen Meinungsaustausch über drängende sicherheitspolitische Fragen verbunden, der – im kleinen Kreis sowie unter Beteiligung der Institutsdirektoren – alternierend in Berlin und in Hamburg stattfand und zum Beispiel auch gemeinsame Publikationen einschloss.
So konnte ich des Öfteren erleben, wie Egon Bahr den Grundgedanken der gemeinsamen Sicherheit auf der Suche nach beiderseits tragfähigen Lösungen für ganz konkrete Probleme wie etwa atomare Mittelstreckenwaffen in Europa oder konventionelles Kräfteverhältnis zwischen NATO und Warschauer Vertrag „durchdeklinierte“. Dabei hörte er dem Gegenüber zu, nahm dessen Argumente auf, prüfte sie, wies gegebenenfalls auf Widersprüche hin und entwickelte Ansätze, diese aufzulösen. Ganz selbstverständlich akzeptierte er dieselbe Herangehensweise an seine eigenen Auffassungen durch die andere Seite.
Egon Bahr war zwar keineswegs der erste noch gar der einzige westliche Gesprächspartner, der trotz verschärftem Kalten Krieg nach dem NATO-Doppelbeschluss von 1979 Zweifel an meinem antrainierten „klassenmäßigen“ Feindbild in mir auslöste und mich in einem längeren Prozess den Gegner in der Systemauseinandersetzung als notwendigen Kooperationspartner im übergeordneten Ringen um die Verhinderung eines globalen Kernwaffenkrieges und um die Lösung anderer Menschheitsfragen begreifen und akzeptieren ließ, aber er war zweifelsohne der wichtigste.
Als ich nach wendebedingten fast 14 Jahren völlig andersartiger beruflicher Ausrichtung begann, mich wieder sicherheitspolitischen Themen zuzuwenden und dabei erneut den Kontakt auch zu Egon Bahr suchte, erwies sich die konzeptionelle und persönliche Kenntnis voneinander aus früheren Tagen als tragfähig genug, erneut ins Gespräch zu kommen. Erstmals im Jahre 2004 und dann in größeren Abständen hatte ich wiederholt die Gelegenheit dazu. Eines dieser Gespräche ist im Blättchen erschienen. Ich habe noch einmal viel von ihm gelernt.
Unser letztes Telefonat führten wir Anfang April. Egon Bahr hatte den Dr. Friedrich Joseph Haass–Preis 2015 erhalten und zu dieser Gelegenheit eine programmatische Rede zu einem der Themen seines politischen Lebens gehalten – „Verantwortungsgemeinschaft mit Moskau und Washington“. Ich bat über sein Büro um die Erlaubnis zur Übernahme ins Blättchen, und er griff, wie immer in solchen Fällen, zum Hörer, um die Genehmigung persönlich „durchzugeben“. Es entspann sich ein Gespräch, in dessen Verlauf er die Bemerkung fallen ließ, diese Rede werde vermutlich seine letzte gewesen sein; er merke, wie die Batterie nachlasse.
Doch noch vor wenigen Wochen hat er gemeinsam mit dem Willy-Brandt-Kreis, dem er angehörte, eine Erklärung „Zum bedrohten Frieden – für einen neuen europäischen Umgang mit der Ukraine-Krise“ abgegeben, und erst Ende Juli plädierte er auf einer Pressekonferenz in Moskau zusammen mit Michail Gorbatschow für eine neue Ostpolitik. Die alte „Neue Ostpolitik“, die mit den Verträgen von Moskau und Warschau, mit der DDR sowie schließlich mit Prag entscheidende Voraussetzungen für die erste Phase der europäischen Entspannung in den 1970er Jahren durch den KSZE-Prozess schuf, hatte er zusammen mit Willy Brandt konzipiert und war nach der Regierungsübernahme durch letzteren im Jahre 1969 einer ihrer maßgeblichen Akteure.
Nun ist seine Bemerkung vom April leider zur traurigen Gewissheit geworden.