von Bernhard Romeike
In diesem Jahr werden etwa 800.000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Das Dublin-Verfahren – Bearbeitung von Asylanträgen in dem EU-Land, das der Asylsuchende zuerst betreten hat – wurde deutscherseits für Flüchtlinge aus Syrien außer Kraft gesetzt. Die spanische Zeitung La Vanguardia stellte fest: „Erst kürzlich sagte Merkel, dass die Griechenland- und die Eurokrise im Vergleich zur Flüchtlingskrise eher die kleineren Probleme sein werden. Eine einfache Lösung wird es nicht geben. Doch muss man anerkennen, dass Merkel in dieser Sache schnell und energisch gehandelt hat. Das kann einerseits als Machtdemonstration verstanden werden, was natürlich auch Deutschlands Rolle als wichtigster und stabilster Wirtschaftsmacht Europas entspricht. Aber es beweist auch Merkels Glauben an das Projekt Europa und ihr echtes Engagement für die menschlichen Werte, was wir nur unterstützen können.“
Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier, der sozialdemokratische Vizekanzler und der Außenminister in Merkels Regierung, veröffentlichten einen Zehn-Punkte-Plan „Für eine europäische Antwort in der Flüchtlingspolitik“, in dem sie unter anderem „EU-weite Standards“ für die Aufnahme von Flüchtlingen fordern, „die in jedem EU-Staat eingehalten werden“. Barbara John, 1981 bis 2003 Ausländerbeauftragte des Berliner Senats, machte dagegen geltend, dass dies von EU-Ländern wie Ungarn, der Slowakei oder Rumänien kaum zu leisten sein wird, „mit Unterkunft und rund 390 Euro, wenn die Arbeitslosen in diesen Ländern weit darunter alimentiert werden“.
Eine gemeinsame europäische Lösung bleibt unwahrscheinlich, „deutsche Machtdemonstration“ in Gestalt einer im Vergleich zu früheren Zeiten offeneren Flüchtlingspolitik hin oder her. Sie wird die nationale Entscheidungskompetenz der EU-Staaten in Asylpolitik und -praxis nicht außer Kraft setzen. Frankreich hat an der Grenze zu Italien das Schengen-Abkommen ausgesetzt, um weitere afrikanische Flüchtlinge fern zu halten. Am Euro-Tunnel zwischen Frankreich und Großbritannien wird gemeinsam technisch aufgerüstet, um die Flucht auf die Insel weiter zu erschweren. Die britische Regierung hat angekündigt, noch schärfer gegen illegale Einwanderer vorzugehen; wer sich illegal im Land aufhalte, dürfe weder arbeiten noch eine Wohnung mieten, ein Bankkonto eröffnen oder Auto fahren. Stattdessen müssten Betroffene mit Gefängnisstrafen und der Beschlagnahme von Einkünften rechnen. Firmen, die illegale Einwanderer beschäftigen, sollen mit Geldstrafen belegt und die Geschäfte geschlossen werden.
So befinden sich die mittel- und osteuropäischen Staaten mit ihrer restriktiven Politik durchaus in honoriger westeuropäischer Gesellschaft. Der ungarische Zaun, der die Grenze zu Serbien dicht machen soll, wird Anfang September fertig sein. Begleitet wird das zum einen von einer bombastischen nationalen Propaganda: Das Land übernehme wieder seine traditionelle Rolle als Hüter des Abendlandes. So betonte der Politologe Tamás Lánczi: „Im Gegensatz zum Selbstverständnis anderer Völker hat sich die ungarische Identität niemals von der Realität abgekoppelt, um zu einer theoretischen Konstruktion zu verkommen. Die Verteidigung des Abendlands war stets mit einem veritablen Kampf gegen Gegner aus Fleisch und Blut verbunden, die uns nahezu ausnahmslos eine andere Kultur, Sprache, Religion und Moral aufzwingen wollten. Gerade deshalb reagieren die Ungarn auf Herausforderungen durch fremde Kulturen besonders sensibel. Als würde dieses historische Selbstverständnis der Magyaren durch den in den vergangenen Monaten zur Völkerwanderung ausgewachsenen Flüchtlingsstrom im öffentlichen Denken Ungarns neu erweckt. Wieder fühlen wir uns an der Grenze zweier Zivilisationen, und wieder stehen wir ohne Hilfe da.“
Zum anderen, wie um westlichen Einwänden gegen eine solche Position vorzubeugen, gibt es auch einen zeitgeschichtlichen Argumentationsstrang in Ungarn. Der Publizist Péter Techet schrieb in der linksliberalen Wochenzeitung Heti Világgazdaság: „Die westeuropäischen Mitgliedsstaaten der EU haben gegenüber der östlichen Peripherie der Union eine historische Bringschuld, haben sie doch nach dem Zweiten Weltkrieg Osteuropa der Sowjetunion überlassen, was zum heutigen eklatanten Wohlstandsrückstand der osteuropäischen Länder geführt hat.“ Auch während der vergangenen 25 Jahre sei keine grundlegende Veränderung erreicht worden. „Der Westen hat seine historische Verantwortung für das Elend des Ostens bis zum heutigen Tag nicht ernst genommen. Die EU-Förderungen sind mitnichten dazu geeignet, den sozialen Anschluss der osteuropäischen Region zu gewährleisten.“
Tschechiens Präsident Miloš Zeman äußerte kürzlich Unverständnis dafür, dass der Staat zwar für Flüchtlinge Geld habe, nicht aber für überschuldete Einrichtungen, in denen Kinder in Notlagen vorübergehend betreut werden. Kolportiert wurde sein Satz, ein gemäßigter Muslim sei ebenso ein Widerspruch in sich, wie ein gemäßigter Nazi. „Es beginnt mit dem Hidschab und endet mit der Burka. Das ist eine schräge Fläche, auf der man immer weiter abrutscht. Heute zweifelt kaum jemand mehr daran. Ein bestimmter Teil des Islam missbraucht die Religion zum Angriff auf unsere Gesellschaft.”
In ähnlichem Sinne erklärte die polnische Ministerpräsidentin Ewa Kopacz, aus Syrien kommende „Christen, die auf barbarische Weise verfolgt werden, verdienen es, dass ein christliches Land wie Polen ihnen hilft.“ Anfang August begann in Estland die Debatte über ein Verbot der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit. Kurz darauf sprach sich Lettlands Präsident Raimonds Vējonis für ein solches Verbot aus. Kaum hatte die litauische Regierung erklärt, 300 Flüchtlinge aufnehmen zu wollen, plädierte auch dort der Vorsitzende des Parlamentsausschusses für nationale Sicherheit und Verteidigung, Artūras Paulauskas, für ein Verbot des Tragens von Burkas in der Öffentlichkeit. Gemeint ist: Man will keine Muslime im Land haben.
Die slowakische Regierung teilte ebenfalls mit, keine muslimischen Flüchtlinge aufnehmen zu wollen, weil es im Land keine Moscheen gebe. Die bulgarische Tageszeitung Duma, die dort als vergleichsweise links gilt, bekundete Verständnis für die Angst der Slowaken vor dem Islam und meinte, bald werde auch der Rest Europas seine Toleranzschwelle erreichen: „Die Muslime wollen um jeden Preis Kultur, Sprache, Bräuche und Religion in der ,neuen Heimat‘ beibehalten. Sie kapseln sich ab und bestimmen sich dann selbst als getrennte und unabhängige Gemeinschaft.“ Dafür gäbe es etliche Beispiele. Deshalb reagiere man in Europa zunehmend gereizter. Statt den Islam mit offenen Armen zu empfangen, werde es bald zu einer Abkühlung kommen. Diese Tendenz sei bereits spürbar. „Die Europäer werden früher oder später aufwachen und merken, dass sie Opfer einer Doktrin geworden sind, die mit der Idee der Europäischen Union als Gemeinschaft souveräner Staaten nichts mehr zu tun hat. Hoffentlich wird man die Slowaken nicht zwingen, Moscheen zu bauen, aber wer weiß.“ Tschechiens Vizepremier Andrej Babis forderte am 25. August den Einsatz der NATO, um Flüchtlinge von der EU fernzuhalten. „Wir müssen den Schengenraum nach außen abschließen.“ Der Flüchtlingsstrom sei „die größte Gefahr für Europa“.
Deutschland, das bei seiner Druckpolitik gegenüber Griechenland immer auf Unterstützung aus Mittel- und Osteuropa rechnen konnte, wird sie bei einer Änderung der EU-Flüchtlingspolitik nicht bekommen. Es sind dieselben Gründe: Die sozialen Verhältnisse, der Stand der wirtschaftlichen Entwicklung im Osten der EU. Und das dort vorherrschende Nationsverständnis, das von Abstammung, Ethnie, Kultur und Sprache im Sinne des 19. Jahrhunderts ausgeht.
Jedoch hat, wie die TAZ kürzlich hervorhob, auch die deutsche Politik einen wirtschaftspolitischen Hintergrund. Bei 800.000 Zuwanderern 2015 kommen auf Länder und Kommunen Ausgaben von etwa zehn Milliarden Euro zu. Doch die wirkten wie ein Konjunkturprogramm: „Bauunternehmer verdienen, weil sie Flüchtlingsheime errichten. Caterer machen gute Geschäfte, wenn sie Asylantenunterkünfte beliefern. Für die Flüchtlinge gilt, was auch bei der Wiedervereinigung zu beobachten war: Die staatlichen Kosten wirken wie ein Konjunkturprogramm. […] In Deutschland haben 16 Millionen Bürger einen ,Migrationshintergrund‘. Kosten sind nicht entstanden, im Gegenteil. Die Bertelsmann-Stiftung hat eine Studie veröffentlicht, die sich nur mit den Einwohnern mit Ausländerstatus befasste: Pro Kopf und Jahr zahlen sie 3.300 Euro mehr an Steuern und Sozialbeiträgen, als sie selbst vom Staat erhalten. Für Panik gibt es also keinen Grund. Stattdessen sollten die Flüchtlinge so schnell wie möglich integriert werden. Das lohnt sich.“ Es stärkt den Wirtschaftsstandort. Das erklärt auch, weshalb das deutsche Kapital, die Bundeskanzlerin sowie die Linken und die Grünen in einem Maße in Bezug auf die neue Offenheit in der Zuwanderung übereinstimmen, das Staunen macht.
Schlagwörter: Bernhard Romeike, Deutschland, EU, Flüchtlinge, Konjunkturprogramm, Osteuropa