von Margit van Ham
So allmählich öffnen sich jetzt wieder die medialen Schleusentore der Erinnerung an die untergegangene DDR. Anlässlich des 25. Jahrestages der deutschen Einheit wird den Ostdeutschen nun wieder – in bevorzugt schwarz-weißen Konturen – ihr Leben erklärt. Wer mehr auf Zwischentöne hören will, dem seien die gerade erschienenen Gespräche von Burga Kalinowski mit Zeitgenossen empfohlen. „War das die Wende, die wir wollten?“ fragt sie Künstler, Politiker, Wissenschaftler und auch den „Normalo“ von nebenan. Zugegeben – der Titel des Buches kommt recht plakativ daher, die Frage scheint rhetorisch, aber die Interviews ergeben ein sehr differenziertes, lesenswertes Bild.
„Erinnern: Tänzeln über ein Minenfeld. Auch im glücklich gelungenen Fall – gefährlich. Man weiß nie, welche Vorstellung wird sofort in der Luft zerfetzt, welche Bilder bleiben, welche werden überschmiert oder, schlimmer noch, vernichtet und welche werden als Waffe zur Lüge umretuschiert.“ Burga Kalinowski bittet ihre Gesprächspartner genau um dieses Erinnern und die Antworten sind sehr persönliche Reflexionen auf das Leben in der DDR, die Hoffnungen der Wendezeit und die Entwicklung bis heute. Bunt. Widersprüchlich. Spannend. Ein paar Beispiele mögen das illustrieren und neugierig machen.
Matthias Brenner, Jahrgang 1957, jetzt Intendant des Neuen Theaters Halle, war von Heiner Müllers Satz „Wie soll ich mir eine Weltanschauung aneignen, wenn ich mir die Welt nicht anschauen kann?“ ins Grübeln gebracht worden. Er erinnert sich aber auch an großartige Theaterjahre mit Freiheit zum Ausprobieren für junge Absolventen in Annaberg-Buchholz. „Bis jetzt ist mir das Werk nicht begegnet, das die Zeit und ihr geistiges Klima tatsächlich wiedergibt.“ Es wird schnell simplifiziert, vieles wiederholt sich heute „was ich damals vom Innersten meiner Seele heraus zu bekämpfen suchte“.
Hellmuth Henneberg, Fernsehjournalist, berichtet über die Wendezeit beim DDR-Fernsehen, die anfängliche Lethargie und die nach dem 4. November folgenden spannenden Sendungen. Für ihn hatte sich auch danach alles gut entwickelt, er hatte Arbeitsmöglichkeiten als Journalist, das Glück, mit Günter Gaus arbeiten zu können. Er überrascht westdeutsche Kollegen mit der Feststellung, dass von den drei journalistischen System, die er erlebt hat, das der Wendezeit das beste und interessanteste war. Eindeutig. „Vielleicht erreichen wir einen solchen Zustand wieder, wenn es den nächsten großen gesellschaftlichen Umbruch gibt – und den wird es geben.“
Nico Hollmann, Musiker, Jahrgang 1952: „ […] ich bin hier groß geworden, ich habe mich hier entwickeln können. Man hatte bloß immer das Gefühl, dass hinter der Mauer noch etwas anderes war, noch mehr war. Das war aber nicht der Fall. Ich bin eigentlich in die Vergangenheit gelaufen. […] In der DDR war die Nähe zu einer menschlicheren Gesellschaft. Das war mir näher, obwohl sie dort auch viel falsch gemacht haben, sie haben es eben auch nicht geschnallt.“ Er meint, dass nichts schlimmer sei, als keine Alternative zu haben.
Arno Kiehl, Maschinenbauer, Jahrgang 1934, blickt auf das Scheitern der DDR zurück, auf Mangelwirtschaft, nicht reisen können… „ Ich glaube, dass die meisten Leute diese Widrigkeiten noch weggesteckt hätten […], wenn es wenigstens ehrlich zugegangen wäre. […] diese Verarsch-Nummer: offiziell ist alles prima und wir sind die Größten – und dagegen stand dann immer der alltägliche Reinfall. Nicht mal ernst genommen werden, nee!“
Burga Kalinowski fragt den Liedermacher Steffen Mensching: „Hat Ihnen die Wende Ihr Leben zerhauen oder war es die große Freiheit?“ Zerteilt, sagt Mensching, in ein Davor und Danach. Die große Freiheit? – nee. Ein großer Schritt und ein totaler Bruch. Er berichtet über die Resolution der Rockmusiker und Liedermacher im Sommer 1989, über deren Nähe zum Publikum.
Der Anspruch, den das Land DDR hatte, war Mensching wichtig. Aber – „Das Doktrinäre in dem Land ging mir ungeheuer auf die Nerven. Das Eingeengtsein, das Gefangensein, nicht reisen können, fand ich barbarisch und konnte ich für mich nie akzeptieren.“ Er erzählt, wie ihm eine Parteisekretärin abgeraten habe, sich auf die Stasi einzulassen. „Das ist nicht schwarz-weiß. Mit dem interpretierenden Verstand der heutigen Medien […] gäbe es so etwas nicht.“ Wichtige Fragen, zum Beispiel, wo ist noch die Basis der Demokratie, wenn die eigentliche Macht immer mehr von den großen Finanzinstituten und Superkonzernen gelenkt wird, würden heute nur schüchtern diskutiert, sie sind nicht gern gehört, so Mensching. „So war das Klima dieser 89er Endzeit: Es passierte eigentlich nichts. Es wurden Zustände verwaltet. Heute wird eigentlich auch nur Zustand verwaltet. Auf einem höheren materiellen Niveau und einer größeren Abgesichertheit. Bewegung findet nicht statt. Und weit und breit keine Aussicht auf einen 4. November.“
Es war eine euphorisierende Zeit, sagt Daniel Rapoport, Chemiker, Jahrgang 1971, über die Wende. Eine Zeit für politische Visionen, für Analyse und Kritik und Betrachtung der Verhältnisse, für Widersprüche. „Plötzlich war die Zeit enorm politisiert. Es gab eigentlich keine anderen Themen mehr, und das fand ich toll. […] Ich hätte die DDR gern umgestaltet, wie viele andere es auch wollten, naiverweise.“
Matthias Pfau, Ingenieur, hatte bei NARVA gearbeitet, erlebt wie Volkseigentum verscherbelt und Leute auf die Straße gesetzt wurden – trotz anderslautender Verträge. 1994 gründet er eine eigene Firma mit NARVA als Markenzeichen. Er redet von einer verrückten Zeit. „So viel Offenheit, so herrlich chaotisch – so viel schien machbar.“ Und er denkt über die 12-jährige Mitgliedschaft in der SED nach: Zu wenig nachgefragt, nicht reagiert und gehandelt, als klar war, es läuft etwas schief. Es bleibt als Lebensfrage: Warum hat man es nicht wenigstens versucht? „Da habe ich mir gesagt, so funktionierst du nie wieder.“
Die Lebenswege der Gesprächspartner sind nach der Wende sehr unterschiedlich verlaufen. Manche erlebten einen Aufschwung, einen neuen Start, andere gingen durch ein Tal. Was alle eint, ist das Vermissen einer Alternative. Burga Kalinowski hat das Nachdenken über die DDR, die Wende und das Heute aus verschiedenen Perspektiven nachgezeichnet. Das „Tänzeln über ein Minenfeld“ der Erinnerung enthält keine Positionen von Personen, die die DDR grundsätzlich abgelehnt hatten und auch die „Stasi“ wird nicht weiter thematisiert. Es braucht vermutlich noch größeren zeitlichen und inneren Abstand, um sich diesem Thema differenziert nähern zu können. Angesichts der Übermacht der heutigen „Erinnerungskultur“ über die DDR und die Wende in den Medien erscheint die erfolgte Auswahl aber sehr verständlich. Wann hört man schon solch nachdenkliche Stimmen. Ein gut geschriebenes und anregendes Buch.
Burga Kalinowski: War das die Wende, die wir wollten? Gespräche mit Zeitgenossen, Verlag Neues Leben, Berlin 2015, 319 Seiten, 19,99 Euro.
Am Mittwoch, 24. Juni, 20 Uhr finden im Theater Schotte in Erfurt eine Buchvorstellung und Gespräche über Theater in der Wende und Theater heute mit Matthias Brenner, Steffen Mensching, Ekkehard Kiesewetter und Burga Kalinowski statt.
Schlagwörter: Burga Kalinowski, DDR, Margit van Ham, Utopie, Wende