Sünde und Genuss
Da folgen bei Spiegel-online zwei Meldungen gleich hintereinander: In seinem „Ökomanifest“ kritisiert Papst Franziskus Konsumrausch, Umweltzerstörung und die Unterwerfung der Politik unter die Interessen der Wirtschaft als für die Menschheit selbstmörderisch. Und die andere: Im Schnitt werfen die Deutschen 313 Kilo genießbare Nahrungsmittel unnötig weg – pro Sekunde! Und eine Milliarde Menschen hungert – Tag für Tag. Ja, diese Welt ist längst pervers, der Papst hat recht. Und ausnahmsweise sind daran nicht der Sozialismus und nicht einmal die Stasi schuld. Allerdings auch nicht allein das Kapital, das aus alledem Gewinn zieht. Denn spielte das Gros der Menschen hierzulande und anderenorts in der Ersten Welt das üble Spiel nicht mit, würde es nicht mehr lange funktionieren. Aber das diesbezüglich mal ein Wandel geschehe – so gläubig ist vermutlich nicht einmal der Papst, zumal auch seine allezeit kreuzschlagenden Schäfchen beim Tanz um das goldene Kalb massenhaft wacker dabei sind.
HWK
Salut für al Sisi
Wir sind kein Freund von solchen Staaten,
in denen die Gewalt regiert.
Drum werden deren Potentaten
ausschließlich dann von uns hofiert,
wenn sie uns ökonomisch nützen
und uns politisch unterstützen.
Ein Staatsmann, den man kritisiert,
weil er sein Volk tyrannisiert,
wird von uns lediglich geehrt,
sofern er unser Wachstum mehrt.
Wenn er mit uns Verträge schließt,
dass unser Wirtschaftswachstum sprießt,
kann man ihm alle Schweinereien,
die er zu Hause macht, verzeihen.
Das alles ist dann nur noch nebbich.
Der Mann darf auf den roten Teppich,
wo er, von Prominenz begleitet,
die Ehrenkompanie abschreitet.
Florierende Ökonomie
erquickt sich an Moralphobie.
Günter Krone
Europampe
BILD online meint, die Bürger seien bei der Einführung des Euro von führenden Politikern „ verschaukelt“, also belogen worden, weil damals gesagt wurde, Deutschland müsse nicht für die Schulden anderer Länder aufkommen, jedoch „inzwischen haftet Deutschland mit mehr als 80 Mrd. für Griechenland“. Mit dem Vorwurf des Verschaukelns sollte man sich zurückhalten, denn Verschaukeln setzt das Wissen um die Wahrheit und damit eine Intelligenz voraus, die nicht so ohne weiteres zu unterstellen ist.
gk
Von infantilem Träumen
Kulturschock in Katar: Zum ersten Mal seit 15 Jahren muss das ölgeldverwöhnte Emirat mit einem Haushaltsdefizit rechnen. Mit einem Defizit in Höhe von 4,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sei zu rechnen, verlautet aus dem Ministerium für Entwicklungsplanung und Statistik in Doha.
Nun kann und darf man Katar und Griechenland freilich nicht in eins setzen, bewahre. Nur eben stellt sich doch eine Gemeinsamkeit fest, wenn man an deutsche Rüstungsexporte denkt, die ja stets einen regierungsamtlichen Hintergrund haben. Zieht Berlin nun etwa eine – wenn auch späte – Lehre aus der Tatsache, dass man Griechenlands abstruse Rüstungspolitik vor Syriza höchst willfährig mit der Lieferung sauteurer U-Boote (unter anderem) beliefert hat, als Athens finanzielles Verhängnis schon absehbar war? Das hieße im Falle Katar indes, den „größten Waffendeal der jüngeren deutschen Geschichte“ (Die Zeit) von 2013 mit einem Umfang von 1,9 Milliarden Euro auszusetzen. Aber ach, welch infantiler Traum …
Helge Jürgs
Kurze Hosen*
Als wenn dies nicht alle Jungs kennen würden: Spätestens in der Schule und/oder im heimischen Quartier fügen sich Zufalls- zu Zweckgemeinschaften. Das Sagen hat der jeweils Stärkste, um den man sich zu sammeln pflegt. Das ist manchmal auch der Klügste, aber nur manchmal. Je nach eigener Muskel- beziehungsweise Geisteskraft geben die anderen das Gefolge; mal freiwillig gern, mal widerwillig notgedrungen, mit allen Zwischenstufen binnen dieser Pole.
Gibt es etwa gleichwertige oder auch nur ähnlich eigensinnige Platzhirsche, ist in der Regel eine Zellteilung angesagt. Nun entstehen Gruppen, und sie werden, was die Durchsetzung eigenen Willens betrifft, in kürzester Frist fast immer zu Konkurrenten. Wer dereinst mal zusammen spielte, hasst sich nun von Herzen, denn im Gegensatz zur erwiesenen eigenen Lauterkeit ist der andere dumm oder böse, meist ist er beides, und zwar sehr. Entrüstet demaskiert man „Die Anderen“ dreimal täglich als gemein, verschlagen, brutal und feige; sie sind halt die Bösen. Das schreit nach Rache, und wenn erst der Platzhirsch danach schreit, gibt es Keile für „Die Anderen“, am besten gegen jeden einzelnen und aus einer furchterregenden Übermacht heraus. Wer versucht, sich raus zu halten, hat oft sogar die schlechtesten Karten. Bestenfalls ist er isoliert, anderenfalls aber ein beliebtes Opfer beider Konkurrenten. Zwischen denen geht es dann aber solange zur Sache, bis es möglicherweise zwar noch verschiedene Gruppen gibt, aber nur eine die fraglose Hoheit hat; die ihres „Chefs“. Ist die erreicht, bleibt „Den Anderen“ entweder eine lange Trauerzeit als Verlierer oder aber die Unterwerfung, bis – eventuell – zum nächsten Mal oder zum nächsten Kandidaten für die Spitze des Rudels.
Kinder pflegen in solchen Dingen ziemlich taktlos zu verfahren, um es sehr freundlich auszudrücken. Wo es zwangsläufig an Reife und/oder Verstand gebricht, wird an Argumente keine überflüssige Zeit verschwendet. Die Muskelkraft samt der von ihr benutzten Hilfsmittel richtet alles fast von allein und auf das verbindlichste. Wer sich auf der „richtigen“ Seite bewegt, der kommt um den Preis der eigenen Würde möglicherweise unterm Regen durch, vielleicht kann er am Machtgefühl sogar ein wenig partizipieren. So entstehen Cliquen bei (vornehmlich) Jungs, und so funktionieren sie. Das weiß – wie gesagt – ein jeder, so er seine Kindheit denn nicht bei einem Privatlehrer im Schutz des elterlichen Kabinetts hat verbringen können/dürfen/müssen. Irgendwann hält (fast) ein jeder dieses Lebenskapitel für abgeschlossen, der eine früher, der andere etwas später. Aber vielleicht ist gerade das einer der grundlegenden Irrtümer unserer Spezies. Denn, um nur mal wieder auf das Tun und Lassen der Beteiligten am Ukraine-Konflikt samt deren jeweilige Unterstützer zu verweisen – man sehe sich die Protagonisten an und stelle sie sich einfach mal in kurzen Hosen vor …
* – Bis auf den hier aus aktuellem Anlass veränderten letzten Satz ist dieser Text über die Jahre im Blättchen bereits zweimal erschienen – eigentlich könnte ihm ein fester Platz zugewiesen werden. Exklusive Bezüge im letzten Satz lassen sich leider immer finden, denn wirklich lernfähig sind die Menschen in summa wohl nicht.
Horst Jacob
Mein Dekalog
Wir haben Blättchen-Autoren und -Freunde befragt: Wenn Sie, aus welchen Gründen
auch immer, für den Rest Ihres Lebens mit zehn Büchern auskommen müssten,
welche wären dies?
Und wir haben auch uns selbst befragt …
Die Redaktion
1. Lao-tse: Tao te king
2. Omar Chajjam: Rubaijat
3. Michel de Montaigne: Essays
4. Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher
5. C.W. Ceram: Götter, Gräber und Gelehrte
6. Theodor Fontane: Der Stechlin
7. Georges Simenon: Das Testament Donadieu
8. Heinrich Mann: Henri Quatre
9. Thomas Mann: Doktor Faustus
10. Günter Grass: Ein weites Feld
Hermann-Peter Eberlein
1. Edgar Hilsenrath: Nacht
2. Robert Merle: Der Tod ist mein Beruf
3. Erich Maria Remarque: Der Funke Leben
4. Ernest Hemingway: 49 Stories
5. Stefan Heym: Ahasver
6. Stefan Zweig: Josef Fouche
7. Lion Feuchtwanger: Der jüdische Krieg (3 Bände)
8. Erwin Strittmatter: Der Wundertäter (3 Bände)
9. Hermann Kant: Die Aula
10. Antal Szerb: Die Pendragon-Legende
Gabriele Muthesius
Insellektüre
Von einem interessierten Herrn erhielt Thomas Mann, aus gegebenem Anlass, eine Anfrage. Was er denn auf eine einsame Insel an Büchern mitzunehmen gedenke. Da kämen, so antwortete dieser, in die engere Wahl: Väter und Söhne (Iwan Turgenjew), Goethes Faust; etwas von Dostojewski – Die Brüder Karamasow oder Die Dämonen. Tolstois Krieg und Frieden. Ein Band von Adalbert Stifter – vielleicht Die bunten Steine. Und aus der französischen Literatur wahrscheinlich noch L’Education sentimentale (Gustave Flaubert: Erziehung der Gefühle).
In der Eile vergaß der Befragte natürlich das wichtigste Werk. Dasjenige mit dem längsten Titel, aber mit dem größten Nutzen für ein Inseldasein: The Life and Strange Surprising Adventures of Robinson Crusoe of York, Mariner von Daniel Defoe.
Renate Hoffmann
Mit freundlicher Genehmigung des Eulenspiegel Verlags (aus: Er konnte ja sehr drollig sein. Anekdoten über Thomas Mann).
Ab inne Wanne
Es ist heiß in Berlin.
Wo soll ick bloß hin?
Mir fehlt echt die Kühle
In all dieser Schwüle.
Ick muss inne Wanne
Und det volle Kanne!
Es lastet die Hitze
Det ick nur so schwitze.
Mir rinnt ja der Schweiß
Von der Stirn bis zum Steiß.
Wo soll ick bloß hin?
Sʼist zu heiß in Berlin.
Ick liebe die Stadt.
Nu macht se mich platt.
Ick muss inne Wanne
Und det volle Kanne!
Ick mach nich mehr rom
Und mach mir von hinne – nach Usedom!
Jürgen Scherer
Der kleine Peter vom Film
Ein acht Jahrzehnte währendes öffentliches Leben im Dienste der Kino- und Theaterbesucher, der Fernsehzuschauer und vor allem der Rundfunkhörer galt es darzulegen, als Gastgeber Ilja Richter im Berliner Schlosspark Theater den einstigen Kinderstar Peter Bosse empfing. Er steht mittlerweile im 85. Lebensjahr und begann seine Laufbahn mit drei Jahren im Rundfunk in der Masurenallee. Mit vier filmte er erstmals an der Seite von Magda Schneider und Benjamino Gigli, mit denen er auch in weiteren Filmen auftrat. Der kleine Peter drehte in Berlin, Prag und Rom unter Regisseuren wie Augusto Genina, Douglas Sirk und Martin Frić. Seine eigentliche Regisseurin war aber seine Mutter Hilde Maroff, ein früherer Stummfilmstar. Sie wusste, wie man Sohnematz zu den natürlichsten Leistungen bringt, erzählte er. Neben Hans Moser spielte der kleine Peter 1936 die Hauptrolle in dessen bestem Film „Das Gäßchen zum Paradies“. Wegen „Elendstendenzen“ konnte der Film damals nur kurze Zeit laufen, und beide Hauptdarsteller trafen sich 1954 im Hansa-Kino in Moabit wieder, wo die Wiederaufführung gefeiert wurde. Damals war Bosse bereits von West- nach Ostberlin gezogen. Dort sprach er am Berliner Rundfunk alles, was gebraucht wurde – vom Hörspiel und den Wasserständen und Tauchtiefen bis zu „7-10 in Spreeathen“. Dass er das Experiment Sozialismus dem Wirtschaftswunder der Bundesrepublik vorzog, hatte mit der konsequenten Friedenspolitik in der DDR zu tun, wie Bosse auf energische Nachfrage von Richter erzählt, denn er hatte seine speziellen Erfahrungen machen müssen. Nach der Reichspogromnacht hatte er als Siebenjähriger Auftrittsverbot erhalten, denn nach der Nazi-Terminologie galt er als „Vierteljude“ und musste den Krieg über mit Mutter und Schwester Dutzende Male umziehen. Zuvor hatte es noch eine groteske Begegnung mit Hitler in der Reichskanzlei gegeben, der dort mehrere Filmlieblinge empfing, aber von keinem so aus der Fassung gebracht wurde wie von dem aufgeweckten Peter Bosse. Er erzählt es heute pointenreich, und Ilja Richter, dessen jüdische Mutter nur mit gefälschter Identität das „Dritte Reich“ überleben konnte, fragt mehrmals nach, wie so etwas gehen konnte. Genau wird man es wohl in dem Erinnerungsbuch nachlesen können, an dem Peter Bosse gerade arbeitet. Hier kann man dann auch erfahren, wie es der „abgewickelte“ Bosse in den neunziger Jahren schaffte, einen neuen Radiosender aus der Taufe zu heben, der heute noch als „Spreeradio“ Erfolg hat.
Ilja Richter stellte die Matinee übrigens unter das Motto „Wir Kinderdarsteller müssen zusammenhalten“, ein Trost, den ihm Curt Bois mitgegeben hatte, als beide vor fünfzig Jahren im Schlosspark Theater spielten. Zu Curt Boisʼ 100. Geburtstag gab es in der Ägide von Heribert Sasse hier eine Foyerausstellung. Jetzt hängt immerhin noch ein Foto mit Curt Bois im Foyer. Doch während alle anderen Schauspieler mit Namen genannt werden, fehlt der von Bois. Das fiel Peter Bosse auf, der gern noch erzählt hätte, wie er mit Bois in Hörspielen sprach. Aber danach hat Ilja Richter ihn nicht gefragt.
Frank Burkhard
Musikalischer Reiseführer für Nomadenseelen
Die Schweizerin Sophie Hunger hatte vor drei Jahren mit ihrer letzten Studioplatte „The Danger of Light“, einer längeren Tournee und dem darauffolgenden Livealbum „The Rules of Fire“ fast eine Art Kultstatus im Genre des Alternative Rock erobert.
Um dann, musikalisch leergefegt, die Flucht aus dem Musikgeschäft nach Kalifornien zu ergreifen.
Dieser Exilaufenthalt in den USA dauerte zwar noch eine Zeit, bevor sie wieder nach Europa übersiedelte – derzeit ist Berlin ihr Hauptwohnsitz. Doch die Flucht vor weiteren musikalischen Aktivitäten war nur sehr kurzfristig. Denn in einem Museum im Golden Gate Park von San Francisco wurde die Künstlerin fasziniert von den Monddarstellungen. Wissenschaftlichen Theorien zufolge wurde der Mond nach einem Crash zwischen der Erde und einem Himmelskörper ins All geschleudert. Der Mond besteht demnach aus alter Erde. Was Sophie Hunger sehr irritiert:
„Wir heulen ihn an, weil er für uns so schön die Sehnsucht nach dem Fremden darstellt. Dabei ist er ein Teil von uns.“
Zwei Wochen hielt die selbst auferlegte musikalische Abstinenz nur an, dann begann sie mit einer Gitarre neue Lieder zu schreiben. Im Titelsong der neusten CD singt Hungers Mond, der in der ersten Person erzählt und auf die Erde hinunterblickt:
„I was cut of your stone
I am empty but I’m never alone.”
Man könnte natürlich an die Stelle des Mond-Ichs die Sängerin selbst setzen und die musikalische Botschaft dann so verstehen:
Ich bin aus demselben Stein wie ihr gehauen, liebes Publikum. Ich bin leer und unbewohnt, aber nie allein.
Allein die Songtitel wie „Mad Miles“, „Die Ganze Welt“, „Heicho“ (schweizerdeutsch für: nach Hause kommen) oder „Queen Drifter“ verraten, dass das Album „Supermoon“ von einer Person handelt, die auszog …
„Queen Drifter“ etwa ist ein Stück, das das Unterwegssein thematisiert: keine Wurzeln schlagen, ohne Familie leben, das Abenteuer suchen …
Und dabei ummantelt sie ihre Texte nicht mit weichgespülten Melodien, sondern arbeitet mit Halleffekten oder entlockt den Instrumenten verzerrte Effekte.
Und wenn Kalifornien in „Mad Miles“ bedacht wird mit den Zeilen:
„There’s nothing here to remember or recognize
I could stay here forever and never arrive”
dann ist dies vielleicht auch eine Reminiszenz an ihre Kindheit, die von vielen Ortswechseln geprägt war.
Immer weiterziehen und nie wirklich ankommen … Sophie Hunger hat hierfür einen musikalischen Reiseführer für Nomadenseelen geschrieben.
Thomas Rüger
Sophie Hunger: Supermoon, CD 2015, Label: Caroline/Universal Music, etwa 15 Euro.
Medien-Mosaik
Wie sehr dürsten die deutschen Filmkritiker und die Deutsche Filmakademie nach etwas Neuem, was auch immer es sei! Anders sind weder das (allerdings nicht einhellige) Kritikerlob noch die sechsfache Nominierung zum Deutschen Filmpreis für Sebastian Schippers Spielfilm „Victoria“ zu erklären. Nur die Nominierung für den besten Schnitt fehlt, und das wäre wirklich übertrieben, denn montiert wurde dieses äußerlich gelungene Experiment nicht. Es gibt nur eine einzige Einstellung, und die dauert 140 Minuten. Zu Zeiten des Zelluloids konnte eine Einstellung nur so lange dauern, wie eine Filmrolle reichte, also etwa 10 Minuten. Was man da Faszinierendes zaubern kann, haben in den siebziger Jahren zum Beispiel Miklós Jancsó und sein Kameramann Janós Kende in „Elektra“ und anderen Filmen bewiesen. Der Norweger Sturla Grøvlen hat in „Victoria“ an der Digitalkamera wirklich eine große Leistung an Konzentration und Ausdauer bewiesen. Aber was für Bilder sind dabei herausgekommen! Meist sind sie verwackelt, und weil der Film auf Improvisation beruht, weiß der Kameramann auch nicht, was passieren wird, wer agiert, und schwenkt nervös von einer zur anderen Person. Auch für den Drehbuchpreis konnte „Victoria“ nicht nominiert werden, denn es gab nur einen groben Entwurf von wenigen Seiten. Schipper überließ den Schauspielern die Improvisation. Glücklicherweise sind die meisten sympathisch, so dass man sich stellenweise auf sie einlässt. Leider ist Schippers Hauptperson aber eine Ausländerin, die er mit der hübschen Katalanin Laia Costa besetzte. Sie spielt zwar eine Bedienung in einem Berliner Café, spricht aber kein Deutsch (was Berliner nicht verwundert), so dass alle Dialoge, an denen sie beteiligt ist, in einer Art Denglisch geradebrecht werden. Um das zu verfolgen braucht man starke Nerven. Der Film hat auch eine Handlung: Sympathische Kleinkriminelle, von denen sich einer in eine spanische Klavierspielerin verliebt, werden in einen Bankraub verstrickt und enden tragisch. Bei Erscheinen des Blättchens werden wir wissen, ob und wie viele Filmpreise „Victoria“ gewonnen hat. Ich fürchte Schlimmstes.
„Victoria“, Regie Sebastian Schipper, seit 11. Juni in ausgewählten Kinos
*
Die Kameraarbeit von Peter Ziesche (Jahrgang 1955) ist nicht hoch genug zu loben. Im letzten DEFA-Jahrzehnt hat er unter anderem mit Siegfried Kühn, Heiner Carow, Lothar Warneke, Frank Beyer und Roland Gräf gearbeitet, Titel wie „Die Schauspielerin“, „So viele Träume“, „Einer trage des anderen Last“, „Der Bruch“ und „Der Tangospieler“ sprechen für sich. Gute Bildgestalter (wie Kameramänner und -frauen jetzt genannt werden) haben meist eine Fotografenausbildung als Grundlage und leisten auch auf diesem Gebiet etwas. Beispielsweise war Ursula Arnold (1929-2012) jahrzehntelang Kamerafrau beim Fernsehfunk und offenbarte erst im reifen Alter, dass sie immer nebenher in Berlin und Leipzig fotografierend umherzog. Heute zählt sie zu den Großen ihrer Zunft in Deutschland. Gleiches wird man vielleicht bald von Peter Ziesche sagen, der jetzt angefangen hat, seine Fotos in die Öffentlichkeit zu bringen. Nach einer Ausstellung in der DEFA-Stiftung öffnete eine in der Berliner jW-Ladengalerie. „Zeit im Rahmen – PORTRÄTS“ heißt sie und vereint Fotos von 1979 bis 2015. Die frühesten Bilder sind Schnappschüsse aus der DDR, die von einer gewissen Melancholie geprägt sind, etwa die Obstverkäufer aus Freiberg und Bernau, die ebenso traurig sind wie ihre Früchte, oder der müde Fahrstuhlführer in der Berliner Markthalle. Dazu kommen viele Porträts prominenter Kollegen, von denen man einige tausendmal gesehen hat und neu auf sie schaut, wie es mir bei Jennipher Antoni oder Bernd Böhlich ging. Katharina und Anna Thalbach wirken wie Schwestern, und Frank Bredow, Ziesches liebster Kamera-Assi, sieht im Gewächshaus fast glücklich aus. Ziesche hat den gewissen Blick für Gesichter und Situationen, weiß selbstverständlich um die Wirkung des Lichts. Wer nicht nach Berlin kommen kann, sollte sich den Ausstellungskatalog besorgen, der ein Kleinod darstellt.
Zeit im Rahmen – PORTRÄTS, Fotografien von Peter Ziesche, junge-Welt-Ladengalerie Berlin, Torstr. 6, bis 31. Juli; Ausstellungskatalog mit Vorwort von Michael Mäde, Verlag Wiljo Heinen, 48 Seiten, 15,00 Euro.
bebe
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