18. Jahrgang | Nummer 10 | 11. Mai 2015

Linker Illusionismus?

von Heino Bosselmann

Man sollte sich Gedanken über die Linke machen. Vielleicht sogar Sorgen. Denn vom kritischen Potential her ist die intellektuelle Linke hervorragend ausgestattet. Nur einer der großen Modernen, vielleicht der Letzte, sei genannt: Eric Hobsbawn. Tragisch, dass die politisch präsente Linke an dieses Potential kaum anknüpft, sondern weitestgehend in der Konsensgesellschaft aufgeht und deren propagandistischen Erregungsfrequenzen, etwa dem mystifizierten Kampf gegen Rechts, auf eine Weise folgt, die nicht mehr politisch, sondern eher folkloristisch anmutet.
Weshalb scheint die intellektuelle Linke so am Ende, weshalb beschränkt sie sich auf Gesten und Theaterdonner?
Ihre verhängnisvolle Illusion besteht darin, pauschal und kritiklos einem im Sinne des Als-ob hochgehaltenen Vermächtnis der Aufklärung zu folgen, ohne je willens zu sein, auch nur deren eigenen selbstkritischen Prozess – mindestens über Max Weber, die Frankfurter Schule, Georges Bateilles und anderen – zur Kenntnis zu nehmen. Das Establishment und die von ihm betreute Schule als neue „Volksbildung“ verhalten sich „sozialkundlich“ ganz genauso. Offenbar schließt die Vermittlung geistesgeschichtlicher Inhalte mit der Aufklärung ab und damit, was im emanzipatorisch gestimmten 19. Jahrhundert daraus wurde.
Deswegen ist selbst unter Lehrern so viel von Kant die Rede, obwohl gerade sie ihn kaum lesen, deshalb Lessings „Nathan der Weise“ – nicht als Problem-, sondern gleich als Beweisstück – und anschließend das Hohelied auf die Weimarer Klassik, als wäre mit der „Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“ und Gesprächen am Ilmpark die Humanität beschlossene Sache gewesen. Vielleicht noch Habermas hinterdrein, weil Diskursethik als so eingängiger Begriff erscheint und die Achtundsechziger Gegenstand eigener Legendenbildung sind.
Unerfindlich, wie mit religiöser Inbrunst Wunschvorstellungen eines die spätfeudale Welt kritisierenden Denkens nachgesprochen werden, als hätte die jüngere Geschichte dazu kein weiteres Material hinterlassen. Spätestens Max Weber wusste um den langen Schatten des Siegeszuges betriebsrationaler Vernunft: „Heute ist ihr Geist (jener der Menschen – Anm. H. B.) aus diesem Gehäuse entwichen. Der siegreiche Kapitalismus jedenfalls bedarf, seit er auf mechanischer Grundlage ruht, dieser Stütze nicht mehr. […] Niemand weiß noch, wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werde, oder aber – wenn keines von beiden – mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-nehmen verbrämt. Dann allerdings könnte für die ‚letzten Menschen’ dieser Kulturentwicklung das Wort Wahrheit werden: ‚Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dieses Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.’“
Der bereits 1920 verstorbene Weber befürchtete, dass die im „stahlharten Gehäuse“ festsitzenden, von den „äußeren Gütern“ faszinierten und korrumpierten Menschen sich, „der Besinnungslosigkeit des gesellschaftlichen Mechanismus ausgeliefert“ (Gerhard Gamm), irgendwann einem totalitären Staat zu überantworten bereit wären. Wie leider geschehen! Und die Anknüpfung von Adorno und Horkheimer bestand in der erschreckenden Einsicht, dass die Aufklärung verdrängte, wovon sie neuzeitlich ausgegangen war – die Janusköpfigkeit des von Weber beschriebenen Rationalisierungsprozesses. Denn die große Verheißung Kants, den Menschen aus seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ herauszuführen – wurde sie je eingelöst? Vielmehr fand sich der Mensch im zwanzigsten Jahrhundert in ganz neuen Gefangenschaften wieder. Die „Dialektik der Aufklärung“ konstatierte daraufhin: „Denken verdinglicht sich zu einem selbsttätig ablaufenden, automatischen Prozeß, der Maschine nacheifernd, die er selber hervorbringt, damit sie ihn schließlich ersetzen kann.“ Was nicht quantifizierbar und nützlich erscheint, erweckt den Argwohn der Aufklärung. Die „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) führt auf ihre Weise zu einem Verlust von Freiheit und Sinngebung.
Die Hoffnung jedenfalls, „den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen“, erscheint schon Adorno und Horkheimer gescheitert und vergeblich. In Totalitarismus und Faschismus wäre solcherart nicht der Rückfall hinter die Ideale der Aufklärung zu erkennen, sondern vielmehr das Ergebnis der von ihr ausgelösten „rastlosen Zerstörung“. Sie hätte ihre Ursache im epistemologisch wie moralisch veranschlagten, aber dabei auf Ermächtigung und Herrschaft gerichteten Vernunftbegriff selbst.
Sind Hitler und Stalin – jeweils auf verschiedene Weise – Ausdruck dessen geworden? Die „Dialektik der Aufklärung“ beklagt: „Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein.“ – Dies ließe sich eher erweitert anthropologisch und staatsphilosophisch als nur eng ökologisch begreifen. Aber insofern die neue und ökologische Linke maßgeblich von 1968 ausgeht und den Menschen nach wie vor als aller guten Möglichkeiten voll ansieht, wird sie den Satz nicht verstehen wollen.
In „Eros und Civilisation“ sah ebenso Herbert Marcuse, dass die Greuel der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts nicht den „Rückfall in die Barbarei“ bedeuteten, sondern ganz umgekehrt Folge des bejubelten Wissenschaftszeitalters und der damit verbundenen Formen von Herrschaft waren. Den Aspekt der sagenhaften Befreiung kommentiert der Darmstädter Philosoph Gerhard Gamm, von Marcuse ausgehend, so: „Wir sind befreit, aber auf eine konsumistische oder pornografische Weise. Wie für Marx die Befreiung der Arbeitskraft aus den feudalistischen Fesseln nur dazu dient, die Arbeitskraft auf dem kapitalistisch organisierten Arbeitsmarkt verkaufen zu können, so dient die Befreiung der Sexualität aus den Zwängen der bürgerlichen Moral und Gesellschaft nur dazu, die Sexualität den Konsumenten und Leistungszwängen auszuliefern und im Tausch die eigene wie die fremde Sexualität als Konsumartikel zu verbrauchen.“ – Sex sells!
Nun ist das in Ergebnis eines historischen Prozesses wohl nicht anders zu haben, aber gerade deswegen muss man die tragischen Entwicklungslinien mitbedenken, anstatt auf den Optimismus hegelianischer Geschichtsphilosophie und deren marxistischer Umpolung zu setzen. Gerade links! Vorsicht mit Begriffen wie Volk und Freiheit, vor allem Vorsicht mit inflationärem Gebrauch davon! Die Linke träumte von einem Sozialismus mit menschlichem Gesicht – was immer das sein mag. Sie bekam – nicht zuletzt in Ergebnis des rousseauistischen Erbschadens des Marxismus – den stalinistischen Realsozialismus, und sie bekam Mao und Pol Pot. Das „funktionierte“, allerdings nur zum Preis zahlloser Opfer und namenlosen Leids.
Als Nachwendepartei des „demokratischen Sozialismus“ – und nunmehr revisionistisch gestimmt wie vormals Eduard Bernstein – dürfte „Die Linke“ jetzt von einem Kapitalismus mit menschlichem Antlitz träumen und die ihr von ihm angebotene Demokratie für das beste Vehikel zur Reise dorthin halten. Indem mittlerweile die intellektuelle Rechte allein auf anthropologische, kulturelle und ethisch-moralische Warnzeichen verweist und der Linken in Bezug auf offensive Kritik tendenziell den Schneid abkauft, wird sie folgerichtig zum Hauptgegner – für die Linke ebenso wie für „die Demokraten“. Es dürfte die Linke befremden, dass mittlerweile alle „links“ sind, die gesamte Mitte. Oder umgekehrt: Dass alle „Mitte“ sind, selbst die Linke. Als sehe die ganze Welt schon aus wie der glückliche Prenzlauer Berg in Berlin.