18. Jahrgang | Nummer 8 | 13. April 2015

Das Sturmgewehr G36 – ein Rohrkrepierer

von Sarcasticus

Dass die Bundeswehr, mindestens was ihre Bewaffnung und Ausrüstung, ihre militärische und zivile Führung sowie insbesondere ihre Beschaffungsbürokratie anbetrifft, eine ziemliche Gurkentruppe ist, deren Probleme wohl am nachhaltigsten durch allgemeine und vollständige Abrüstung zu lösen wären, konnte auch in diesem Magazin schon anhand so vieler Einzelbeispiele nachgelesen werden, dass selbst der Autor bisweilen versucht gewesen ist stoßzuseufzen: „Mein Gott, nun kann doch eigentlich nichts mehr kommen.“
Der Seufzer wäre ein verfrühter gewesen, denn nach Korvette K 130, Kampfhubschrauber „Tiger“, Drohne „Euro Hawk“, Kampfbomber „Tornado“, Fregatte 125, Militärairbus A400M, Schützenpanzer Puma, nach Euro-Fighter und Transporthubschrauber NH90 sowie den Wunder-U-Booten der Klasse 212 A hat es nun endlich auch die Standardinfanteriewaffe der Bundeswehr, das Sturmgewehr G36, von dem seit 1996 über 175.000 Stück beschafft wurden, in die Schlagzeilen der hämischen Journaille geschafft, weil das G36 …
… doch beginnen wir in diesem Fall vielleicht einfach mal mit den guten Nachrichten.
Da wäre zunächst der Sachverhalt, dass sich das G36 – laut Herstellerfirma Heckler & Koch „seit nahezu 20 Jahren genutzt und […] in mehr als 35 Staaten weltweit bei vielen Einsätzen bewährt“ – international allerhöchster Beliebtheit erfreut, weil man damit natürlich ganz vorzüglich und ohne nennenswerte Streuverluste Menschen, insbesondere Zivilisten, umzubringen vermag. Davon können Opfer-Hinterbliebene von Mexiko über Kolumbien, Libyen und den Südsudan bis Georgien, um nur ein paar aktuelle oder schwelende Konflikt- und Kriegsgebiete mit G36-Präsenz anzusprechen, nicht nur ein Lied singen. In all diesen Gebieten dürften die deutschen Schießprügel zwar gar nicht sein, denn der Kriegswaffenexport in solche Regionen ist in Deutschland ja bekanntlich gesetzlich verboten, aber Qualität setzt sich nun mal durch. Da kann auch der Bundessicherheitsrat, der hierzulande derartige Exporte genehmigt oder ablehnt, gar nichts machen.
Die zweite gute Nachrichte: Eine weitere Landung in der Normandie, die allerdings auch seinerzeit durch barbarisches Dauerfeuer aus deutschen Maschinengewehrläufen nicht wirklich aufzuhalten, geschweige denn zu verhindern war, ist in absehbarer Zeit nicht zu befürchten. Deutschland ist von Freunden umzingelt. Da ist es für die nationale Sicherheit also wirklich irrelevant, dass sich der Lauf des G36 bei Dauerfeuer, also in richtigen Gefechten mit militärisch potenten Gegnern, so stark erhitzt, dass sich die Treffsicherheit über größere Entfernungen um zwei Drittel reduziert.
Eine gute Nachricht gibt es leider auch für die ganz Falschen: Frohlocken dürfen, ob des letztgenannten Sachverhaltes, alle potenziellen künftigen Gegner der Bundeswehr: Mit dem G36 werden ihre Opferzahlen auch fürderhin eher niedriger ausfallen als kriegsüblich.
Und – last but not least – ist eine Armee, die überhaupt erst nach jahrzehntelangem Gebrauch definitiv mitkriegt, dass die Braut ihrer Soldaten nicht kriegstauglich ist, ein dermaßen schlagender Beweis für das unausrottbare inhärente Absurditätspotenzial des Militärs, dass eine auch nur halbwegs kreative Linke daraus – wie aus all den anderen oben genannten Bundeswehrskandalen – eigentlich Dauernektar für ein fortgesetztes Feuerwerk antimilitaristischer Forderungen und Kampagnen saugen müsste, wenn, ja wenn nicht diese Linke längst auch nicht bloß noch eine überwiegend mit sich selbst befasste Gurkentruppe wäre.
Schlechte Nachrichten im Zusammenhang mit dem G36 gibt es allerdings nicht minder. Und die betreffen zuvorderst den Augiasstall Bundesverteidigungsministerium (BMVg), in dem die rechte Hand selten weiß, wo die linke gerade herumfuhrwerkt, und in dem die drei großen „T“ (für Tarnen, Tricksen, Täuschen) zur handwerklichen Grundausstattung von Funktions- und Amtssträgern im Umgang untereinander, mit der eigenen Obrigkeit, aber auch mit dem Parlament und nicht zuletzt den Medien und der Öffentlichkeit gehören.
Beispiele gefällig? Ein Experte der Güteprüfstelle hatte bereits vor fünf Jahren vor dem Überhitzungsproblem des G36 gewarnt. Die Warnung wurde im BMVg unter den Teppich gekehrt. Solches Verhalten war zwar nicht erst unter dem Vorgänger der jetzigen Dienstherrin der Behörde – der hieß Thomas de Maizière – gang und gäbe, dieser jedoch litt diese „Kultur im Ministerium und das prägt so einen Riesenapparat“ nicht nur, sondern er „hat teilweise Menschen, die aufgeklärt haben, gedeckelt“, so der SPD-Verteidigungspolitiker Rainer Arnold.
Eine grundsätzliche Änderung ist nach der Amtsübernahme durch Ursula von der Leyen offenbar bisher nicht eingetreten. Über das Beschönigen einer Expertise zum G36 durch die Rüstungsabteilung des BMVG im Verlaufe des vergangenen Jahres, also bereits unter von der Leyens Zuständigkeit, berichtete die Süddeutsche Zeitung jedenfalls noch im November 2014.
Erst jetzt erklärte von der Leyen etwas verschwurbelt: „Das G36 hat offenbar ein Präzisionsproblem bei hohen Temperaturen, aber auch im heiß geschossenen Zustand.“ Damit korrigierte sie einerseits eine Antwort ihres Ministeriums auf eine Anfrage der Grünen-Abgeordneten Agniezska Brugger vom 13. Februar 2014, in der es noch geheißen hatte: „Das Sturmgewehr G36 ist technisch zuverlässig und ohne Mangel. Es war und ist uneingeschränkt tauglich für die Erfordernisse der laufenden Einsätze und des Grundbetriebs der Bundeswehr.“ Allerdings hatte es da schon zwei Jahre zuvor, im März 2012, folgende Weisung des Einsatzführungskommandos gegeben: „Nach dem Verschießen von Patronen im schnellen Einzelfeuer oder in kurzen Feuerstößen (150 Schuss Dauerfeuer Gefechtsmunition bzw. max. 100 Schuss Manövermunition) muss bei starker Rohrerhitzung das Rohr (bei offenem Verschluss) auf Handwärme abkühlen, bevor weitergeschossen werden darf. Aufgrund des Wärmestaus in der Waffe nach schnellem Verschuss einer großen Menge von Munition (s.o.) muss zudem von einer erheblich größeren Streuung ausgegangen werden. Dadurch wird die zuverlässige Bekämpfung von Zielen bei Kampfentfernungen über 100 Metern mit zunehmender Entfernung deutlich erschwert. Die Trefferwahrscheinlichkeit sinkt dann bei Entfernungen von 300 Metern allein aufgrund der Streuung auf circa ein Drittel. […] Ist in einer taktischen Situation das Abkühlen des Gewehrs nicht möglich, und muss weitergeschossen werden, ist zu berücksichtigen, dass bei weiterem Feuerkampf Waffen komplett ausfallen können und/oder dauerhaft beschädigt werden.“
Ursächlich zu tun haben die Mängel wahrscheinlich nicht zuletzt mit der Verwendung des billigen (und minderwertigen) Plastikzusatzstoffs Polyehthylen bei der Herstellung der Waffe. Das Demonstrationsmodell von Heckler & Koch von 1993 hatte noch ausschließlich Polyamid mit entsprechender Tauglichkeit enthalten. Das wurde später zum Teil durch Polyethylen substituiert. Pikante Beinote: Laut Stern soll die BMVg-Spitze bereits seit Anfang 2011 über den möglichen Herstellungsfehler informiert gewesen sein.
Schließen wir trotzdem mit einer weiteren guten Nachricht – in diesem Falle für die Rüstungsindustrie. Seitens des BMVg verlautbarte inzwischen, dass zu gegebener Zeit die Frage zu prüfen sein werde, ob die Truppe „auf mittlere Sicht mit einem anderen Sturmgewehr ausgerüstet werden muss“. Dafür wird dann ganz gewiss wieder ein „zuverlässiger Partner der Bundeswehr“ (O-Ton Heckler & Koch über Heckler & Koch) gesucht werden …

P.S.: Das G36 ist im Übrigen aber auch noch (längst?) nicht das Ende der Fahnenstange, was die Trinität von Pleiten, Pech und Pannen bei der Bundeswehr anbetrifft. Anfang April ging die Meldung durch die Medien, dass der nur bedingt flugfähige Kampfhubschrauber „Tiger“ eine nur bedingt zielgenaue Panzerabwehrlenkrakete als Hauptwaffensystem erhalten soll. Ein Gutachten der Beratungsfirma KPMG bescheinigte dieser sogenannten Pars3_LR „nicht vorhandene Produktionsreife“ wegen mangelnder Treffsicherheit. Das BMVg hält den Presseberichten zufolge an der Beschaffung fest. Das passt zumindest nahtlos ins Gesamtbild.