von Uri Avnery, Tel Aviv
Am 3. März hat der israelische Premierminister Netanjahu
in einer Rede vor beiden Häusern des USA-Kongresses,
von dessen republikanischen Mehrheiten er sich
– an Präsident Obama vorbei – hatte einladen lassen, behauptet,
das Weiße Haus „ebnet den iranischen Weg zur Bombe“,
und gedroht: „Selbst wenn Israel alleine stehen muss
– Israel wird stehen.“ Was allgemein als neue Androhung
eines Militärschlages gegen Teheran interpretiert wurde.
Für Netanjahu war der Auftritt auch Wahlkampf,
denn am 17. März wird in Israel gewählt.
Der Beitrag unseres Autors, der sich mit dem Hintergrund
der Rede und möglichen Folgen befasst,
entstand unmittelbar vor Netanjahus Auftritt.
Die Redaktion
Winston Churchill sagte einmal, dass Demokratie das schlechteste politische System sei, außer allen anderen Systemen, die von Zeit zu Zeit versucht worden seien. Jeder, der im politischen Leben involviert ist, weiß, dass dies eine britische Untertreibung ist.
Churchill sagte auch, dass das beste Argument gegen Demokratie ein Gespräch von fünf Minuten mit einem durchschnittlichen Wähler sei. Wie wahr!
Ich war Zeuge von 20 Wahlkämpfen für die Knesset. In fünf von ihnen war ich Kandidat, in drei von ihnen wurde ich gewählt. Als Kind war ich Zeuge dreier Wahlkämpfe während der letzten Tage der Weimarer Republik und einer (der letzten mehr oder weniger demokratischen) Wahl, nachdem die Nazis zur Macht gekommen waren (Die Deutschen jener Zeit waren sehr gut in grafischer Propaganda, in politischer wie kommerzieller. Nach mehr als 80 Jahren erinnere ich mich gut an einige ihrer Wahlplakate.)
Wahlen sind eine Zeit großer Aufregung. Die Straßen sind mit Propaganda gepflastert, die Politiker sind heiser, manchmal brechen gewaltsame Zusammenstöße aus.
Nicht jetzt. Nicht hier. 17 Tage vor den Wahlen herrscht eine unheimliche Stille. Ein Ausländer, der jetzt nach Israel kommt, würde nicht bemerken, dass hier bald eine Wahl stattfinden wird. Es gibt auf den Straßen kaum Wahlplakate. Die Artikel in den Zeitungen befassen sich mit vielen anderen Themen. Im Fernsehen schreien sich die Leute wie üblich an. Keine mitreißenden Reden. Keine Massenveranstaltungen.
Jeder weiß, dass diese Wahl sehr entscheidend, viel entscheidender als sonst ist. Es mag die letzte Schlacht für die Zukunft Israels sein – zwischen den Zeloten von Groß-Israel und den Unterstützern eines liberalen Staates. Zwischen einem Mini-Empire, das über ein anderes Volk herrscht und dieses unterdrückt, und einer dezenten Demokratie. Zwischen weiteren Siedlungsbauten und einer ernsthaften Suche nach Frieden. Zwischen dem, was hier „schweinischer Kapitalismus“ genannt wird, und einem Wohlfahrtsstaat. Kurz gesagt, zwischen zwei sehr verschiedenen Arten von Israel.
Was wird über diese schicksalhafte Wahl gesagt? Nichts.
Das Wort „Frieden“ – auf Hebräisch Schalom – wird überhaupt nicht erwähnt. Um Himmels willen. Es wird als politisches Gift angesehen. Wie wir auf Hebräisch sagen: „Derjenige, der seine Seele retten will, muss Abstand davon nehmen.“ All die „professionellen Ratgeber“, von denen dieses Land wimmelt, warnen ihre Mandanten, es niemals auszusprechen. „Sagt ‚politisches Abkommen‘, wenn ihr müsst. Aber um Gottes Willen, erwähnt den Frieden nicht!“
Dasselbe gilt für Besatzung, Siedlungen, Transfer (von Bevölkerung) und Ähnliches. Bleibt mir vom Leib damit. […]
Der israelische Wohlfahrtsstaat, einst von vielen Ländern beneidet (Man erinnere sich an die Kibbuzim?) ist auseinandergefallen. Alle unsere sozialen Dienstleistungen sind zerfallen. Das Geld geht in die große Armee, groß genug für eine mittelgroße Macht. Schlägt jemand vor, das Militär drastisch zu reduzieren? Natürlich nicht. Was denn, steckt ihr das Messer in den Rücken unserer tapferen Soldaten? Öffnet unseren vielen Feinden die Tore? […] das ist Verrat!
Worüber reden unsere Politiker und die Medien? Was regt die öffentliche Meinung auf? Was kommt in die Schlagzeilen und in die Abendnachrichten? Nur die wirklich ernsthaften Sachen. Steckt die Frau des Ministerpräsidenten das Pfandgeld für zurückgegebene Flaschen in die eigene Tasche? Zeigt die offizielle Residenz des Ministerpräsidenten Zeichen der Vernachlässigung? Nahm Sara Netanjahu öffentliche Gelder, um einen privaten Friseurraum in der Residenz einzurichten?
Wo ist die Haupt-Oppositionspartei, das zionistische Lager (auch als Arbeitspartei bekannt)? Die Partei leidet unter großer Benachteiligung: Ihr Führer ist der große Abwesende dieser Wahl. Yitzhak Herzog hat keine gebieterische Präsenz. Von schmächtiger Gestalt, eher wie ein Junge, nicht wie ein hartgesottener Krieger, mit dünner, hoher Stimme gleicht er nicht einem natürlichen Führer. Karikaturisten haben es schwer mit ihm. Ihm fehlen charakteristische Merkmale, an denen er leicht zu erkennen ist.
Er erinnert mich an Clement Attlee. Als die britische Labour Party sich zwischen zwei auffälligen Kandidaten entscheiden musste, wählte sie Attlee als Kompromisslösung. Auch er hatte keine imponierenden Züge. (Noch einmal Churchill: Ein leerer PKW näherte sich und Major Attlee stieg aus.) Die Welt schnappte nach Luft, als die Briten vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges Churchill absetzten und Attlee wählten. Es stellte sich aber heraus, dass er ein sehr guter Ministerpräsident war. Er ging beizeiten aus Indien (und Palästina) hinaus, baute den Wohlfahrtsstaat auf und vieles mehr.
Herzog begann sehr gut. Indem er eine gemeinsame Wahlliste mit Zipi Livni aufstellte, schuf er einen Impuls und stellte die sterbende Arbeitspartei wieder auf ihre Füße. Er adoptierte für die neue Liste einen populären Namen. Er zeigte, dass er Entscheidungen treffen konnte. Und da blieb er stehen. Um das zionistische Lager wurde es still. Interne Querelen lähmten die Wahlmannschaft. (Ich veröffentlichte in Haaretz zwei Artikel, in denen ich zu einer gemeinsamen Liste des zionistischen Lagers mit Meretz und Yair Lapids Partei aufrief. Dies hätte die Linke und die Mitte ausbalanciert. Dies hätte einen aufweckenden, neuen Impuls gegeben. Aber die Initiative konnte nur von Herzog kommen. Er ignorierte dies. Auch Meretz und Lapid. Ich hoffe, sie werden es nicht bedauern.)
Nun schwankt Meretz nahe der Wahlschwelle und Lapid erholt sich nur langsam von seinem tiefen Fall bei den Umfragen. Er verlässt sich hauptsächlich auf sein gutes Aussehen. Trotz allem laufen nun Likud und das zionistische Lager Kopf an Kopf. Die Umfragen geben jedem 23 Sitze (von 120), sagen ein Zielfoto voraus und überlassen die historische Entscheidung einer Anzahl kleiner und winziger Parteien.
Das Einzige, das eine Spielwende bringen könnte, ist die bevorstehende Rede von Benjamin Netanjahu vor den beiden Häusern des Kongresses. Es scheint, dass Netanjahu all seine Hoffnungen an dieses Ereignis knüpft. Und nicht ohne Grund. Alle israelischen TV-Stationen werden diese Begebenheit live senden. Das wird ihn im besten Lichte zeigen. Der große Staatsmann, der sich an das größte Parlament der Welt wendet und um die bloße Existenz Israels plädiert.
Netanjahu ist eine vollkommene TV-Persönlichkeit. Er ist kein großer Redner im Stil eines Menachem Begin (geschweige denn eines Winston Churchill), aber im Fernsehen hat er wenige Konkurrenten. Jede Bewegung seiner Hände, jeder Ausdruck seines Gesichtes, jedes Haar auf seinem Kopf ist genau richtig. Sein Amerikanisch ist perfekt.
Der Führer des jüdischen Ghettos, der am Hof des Königs der Gojim (Nichtjuden) für sein Volk eintritt, ist eine wohlbekannte Gestalt in der jüdischen Geschichte. Jedes jüdische Kind liest über ihn in der Schule. Bewusst oder unbewusst werden die Leute daran denken.
Der Chor der Senatoren sowie der Kongressmänner und -frauen wird begeistert applaudieren, alle paar Minuten aufspringen und seine grenzenlose Bewunderung in jeder Weise ausdrücken, außer dass sie seine Schuhe küssen. Einige tapfere Demokraten werden abwesend sein, aber die Israelis werden das nicht bemerken, da es bei solchen Gelegenheiten üblich ist, die leeren Sitze mit Angestellten zu besetzen. (Genau so lief der Auftritt auch ab. – Anmerkung der Redaktion.)
Kein Propagandaspektakel könnte effektiver sein. Die Wähler werden gezwungen sein sich zu fragen, wie Herzog wohl unter denselben Umständen aussehen würde. […] Den Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika als Propagandarequisit zu benützen, ist ein genialer Streich.
Milton Friedman versicherte, dass es so etwas wie ein kostenloses Mahl nicht gibt, und dieses Mahl hat einen hohen Preis. Es bedeutet fast buchstäblich, in das Gesicht des Präsidenten Barack Obama zu spucken. Ich denke, dass es nie so etwas gegeben hat. Der Ministerpräsident eines kleinen Vasallenstaates, der von den USA praktisch in allem abhängig ist, kommt in die Hauptstadt der USA, um offen deren Präsidenten herauszufordern, ja, ihn in der Tat als Betrüger und Lügner zu brandmarken.
Wie Abraham, der bereit war, um Gottes willen seinen Sohn zu schlachten, so ist Netanjahu bereit, Israels vitalste Interessen für einen Wahlsieg zu opfern.
Seit vielen Jahren haben israelische Botschafter und andere Funktionäre sich mächtig angestrengt, um das Weiße Haus und den Kongress in den Dienst Israels zu stellen. Als der Botschafter Yitzhak Rabin nach Washington kam und feststellte, dass die Unterstützung Israels im Kongress lag, bemühte er sich sehr – und erfolgreich –, das Weiße Haus und Nixon zu gewinnen. AIPAC und andere jüdische Organisationen haben generationenlang dafür gearbeitet, die Unterstützung beider amerikanischer Parteien und praktisch aller Senatoren und Kongressleute zu gewinnen. Seit Jahren wagte kein Politiker auf dem Kapitol, Israel zu kritisieren. Es war gleichbedeutend mit politischem Selbstmord. Die wenigen, die dies versuchten, wurden in die Wüste geschickt.
Und nun kommt Netanjahu und zerstört dieses Gebäude wegen eines Wahlspektakels. Er hat der Demokratischen Partei den Krieg erklärt, zerschneidet die Verbindung, die Juden mit dieser Partei seit mehr als einem Jahrhundert verband, und zerstört die Unterstützung einer der beiden Parteien. Er ermöglicht den Demokratischen Politikern zum ersten Mal, Israel zu kritisieren; und zerstört ein generationenaltes Tabu, das vielleicht nicht wieder hergestellt werden kann.
Präsident Obama, der beleidigt, gedemütigt und an seinem für ihn bedeutendsten politischen Schritt – einem Abkommen mit Iran – behindert wird, wäre übermenschlich, wenn er nicht an Rache denken würde. Selbst eine Bewegung seines kleinen Fingers könnte Israel ernsthaft verletzen.
Macht sich Netanjahu Sorgen? Natürlich sorgt er sich. Aber er macht sich mehr Sorgen um seine Wiederwahl.
Viel, viel mehr.
Redaktionell leicht gekürzt.
Schlagwörter: Barack Obama, Benjamin Netanjahu, Iran, Israel, Knesset, Kongress, Uri Avnery, USA