von Arthur Miller
Man kann niemanden meiner Generation verstehen, ohne daran zu denken, daß für uns der Marxismus der „Gott, der versagt hat“, war, aber inzwischen glaube ich, der Satz ist falsch. Der Marxismus war ein Götze und kein Gott. Ein Götze sagt den Menschen genau, was sie glauben sollen. Gott stellt sie vor Entscheidungen, die sie selbst treffen müssen. Der Unterschied ist alles andere als unwichtig. Vor dem Götzen bleiben Menschen abhängige Kinder, Gott belastet sie damit, an den Entscheidungen einer ewigen Schöpfung mitzuwirken, aber gleichzeitig ist das auch eine Art Freiheit. Das Dilemma hat viele Aspekte, und es läßt sich heute ebensowenig aus der Welt schaffen wie Anfang der dreißiger Jahre. Und das wird auch nicht möglich sein, solange die westliche Gesellschaft weiterhin so viele Menschen geistig entfremdet und ihnen die Freuden des Lebens und der Kultur so endgültig nimmt, daß sie sich nach einem höheren Willen sehnen, der ihr Leben lenkt.
In der Türkei wurde ich von neuem an den Götzen und Gott erinnert. 1985 fuhr ich mit Harold Pinter im Auftrag des Internationalen PEN und des Überwachungskomitees von Helsinki dorthin. Die dreißiger Jahre lagen lange zurück, aber ich hatte einige Gespräche mit türkischen Schriftstellern, die mich fünfzig Jahre zurückversetzten nach Brooklyn, Ann Arbor und New York. Diese Gespräche hätten in diesem Augenblick der Geschichte an vielen anderen Orten stattfinden können – von Beijing bis Havanna und New York, von Moskau bis Phnom Penh und Prag.
Einige der Schriftsteller, die wir kennenlernten, waren in schrecklichen türkischen Gefängnissen schwer gefoltert worden, weil sie Mitglieder einer Friedensbewegung waren, die sich gegen die Abhängigkeit der Türkei sowohl von den Vereinigten Staaten als auch von der Sowjetunion wandte. Sie waren wie die meisten Gebildeten in der Dritten Welt mehr oder weniger konventionelle Linke und machten sich über die angeblichen demokratischen Prinzipien der Amerikaner lustig, da doch jedermann wußte, daß wir überall rechtsgerichtete Diktaturen unterstützten, einschließlich der türkischen Militärregierung, die sie hinter Gitter gebracht hatte.
Etwa zwanzig gaben für uns ein Abendessen in einem Restaurant. Beim Essen und vielen Trinken kam eine gewisse Feindseligkeit zum Vorschein. Sie war nicht ganz verständlich, denn wir waren gekommen, um die Welt auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Ein Mann stand auf, hob das Glas und erklärte mit einem spöttischen Blick: „Auf den Tag, an dem wir reich genug sind, um nach Amerika zu fahren, um die Situation der Bürgerrechte zu untersuchen.“ Als ich mich später mit ihm unterhielt, fiel es mir schwer zu beurteilen, ob er ein Agent der reaktionären Regierung war und versuchte, unsere Mission ins Lächerliche zu ziehen, oder nur ein Kommunist, der mich als Amerikaner und damit als den Erzfeind angriff.
Ein anderer Schriftsteller, der neben mir saß, stützte den wodkaschweren Kopf in die Hände und sagte: „Wenn sie mich noch einmal verhaften wollen, fliehe ich und verlasse das Land. Ich könnte diese Folterungen nicht noch einmal durchmachen.“ Er trug ein buntkariertes Sportjackett, eine Ripskrawatte und hatte kurz geschnittene Haare im Collegestil der fünfziger Jahre. „Sind Sie Marxist?“ fragte er unvermittelt.
„Was ist ein Marxist?“ erwiderte ich.
Er sah mich ungläubig an. „Was ist ein Marxist? Ein Marxist ist ein Marxist!“ Aber in seinen Worten lag mehr Schmerz als Zorn.
„Sie meinen, ein chinesischer Marxist ist dasselbe wie ein russischer Marxist, obwohl sich die beiden größten mobilisierten Heere der Welt an der Grenze gegenüberstehen. Etwa zwei Millionen Männer da oben, und jede Seite hat ein Plakat von Karl Marx auf einer Stange. Und was ist mit einem chinesischen Marxisten, der gegen die vietnamesischen Marxisten kämpft an ihrer Grenze? Oder mit den vietnamesischen und kambodschanischen Marxisten und ihrem tödlichen Krieg. Oder einem kambodschanischen Pol-Pot-Marxisten, der gegen einen kambodschanischen Pro-Vietnam-Marxisten kämpft? Von den israelischen und den syrischen Marxisten will ich gar nicht reden.“
Ich bemerkte, daß ich seine Gefühle verletzt hatte; so hatte er es nie sehen wollen, und ihn erfüllte Verzweiflung, denn an seinem Körper trug er die Spuren der Folter, die er für einen monolithischen Glauben ertragen hatte, den ich so leichthin abtat. Er wurde wütend. „Nein, nein, es gibt nur einen Marxismus!“ schrie er beinahe und übertönte die Mandoline und das Trällern einer Folkloresängerin.
Ich bedrängte ihn nicht weiter, dachte aber an die „eine Christenheit“, die sich in Irland gegenseitig totschlug, oder an den „einen Islam“ im Libanon und an das siebzehnte Jahrhundert, als im Namen Christi im Dreißigjährigen Krieg beinahe ganz Europa zerstört wurde, oder an den „einen Judaismus“ in Israel und den mörderischen Haß zwischen Orthodoxen und säkularisierten Juden.
„Vielleicht erleben wir zur Zeit das Wiederaufleben des Stammesdenkens“, sagte ich, „die Überreste der alten Kulturen erwachen nacheinander aus ihrem langen Schlaf. Vielleicht ist der Marxismus ein guter Vorwand, der dem Aufkommen dieses atavistischen Stammesdenkens einen modernen Klang verleiht …“
Eine andere Stimme unterbrach mich. Es war Azziz Nesin, der Verfasser von über neunzig humoristischen Büchern und Gedichtbänden, der seit seiner Jugend Marxist gewesen und jetzt Sozialist war. Er hatte oft im Gefängnis gesessen und war vor wenigen Jahren zu sechs Monaten Haft verurteilt worden, weil er in einem seiner Bücher den persischen Schah beleidigt hatte. Jeder Türke kannte seinen Namen und seine Geschichte: Er hatte die Militärakademie verlassen und schließlich gegen die von Amerika gestützten Militärdiktaturen seiner ehemaligen Mitschüler gekämpft. Mit fünfzig war er ein kleiner, angeblich reicher Mann von eindrucksvoller Würde. „Nach dem letzten Krieg“, sagte er, „hat Stalin versucht, uns eine östliche Provinz und den Bosporus zu nehmen. Rußland setzt uns heute immer noch unter Druck, weil es Land auf unserer Seite der Grenze beansprucht, und zwar ein riesiges Gebiet.“
Das verwirrte mich. Es kam mir etwas merkwürdig vor, daß ein Mann der Linken einem Amerikaner gegenüber die Sowjets so schlecht machte. Ich erwiderte, dem Marxismus sei es scheinbar nicht gelungen, den russischen Expansionsdrang zu zügeln – zumindest in diesem Teil der Welt nicht. Er stimmte traurig zu, wenn auch mit einem besorgten unsicheren Blick.
Der Mann im Sportjackett, der gefoltert worden war, nickte ebenfalls traurig und sagte, scheinbar ohne das Thema zu wechseln: „Ja, der amerikanische Imperialismus hat Raketenbasen entlang der Grenze, Dutzende.“ Während er sich über das Ausmaß der militärischen Präsenz der USA in der Türkei ausließ, war die Forderung der Sowjetunion nach der Abtretung einer türkischen Provinz sehr schnell vergessen.
In dem Bemühen, ihre Gedankengänge nachzuvollziehen, fragte ich: „Wo sehen Sie sich als Marxisten zwischen den beiden Riesen? Beide bedrohen die türkische Unabhängigkeit, nicht wahr?“
Sie sahen mich mit einem eigenartig leeren Blick an. Ihre Reaktion war nicht gerade ein Leugnen, aber auch keine Bestätigung, daß sie sich tatsächlich zwischen dem Hammer und dem gleichermaßen schuldigen Amboß befanden. Es schien ein metaphysischer Schwebezustand zu sein, ein Schnittpunkt zwischen der Logik eines Arguments und der Unzulässigkeit seiner sich abzeichnenden Schlußfolgerungen. Ich begegnete einem Phänomen – dem Geheimnis der Entfremdung –, das in den Nachkriegsjahren so viele Menschen an so vielen Orten heimgesucht hatte.
Menschen mit Prinzipien vergraben sich angesichts von Beweisen, daß ihr Glaube falsch ist, noch tiefer in ihre Überzeugung, um die drohende Verzweiflung abzuwehren. Die Hoffnung zu verlieren, bedeutet korrupt zu werden. Hier saßen zwei Marxisten, wenige Stunden Fahrt von der russischen Grenze entfernt, die die Russen, wie sie glaubten, nach Süden in türkisches Territorium vorverlegen wollten, aber beinahe das ganze Gewicht ihrer Ressentiments richtete sich gegen die Vereinigen Staaten. Die sowjetische Realität spielte keine Rolle. Rußland war der Feind ihres Feindes – und das genügte. Das heißt, es genügte, um sich die Zweifel, die sie umgaben, vom Leib zu halten.
Ich kannte ihre Verzweiflung, denn nichts anderes war es oder kann es sein, wenn die Entfremdung der Preis moralischen Denkens ist und die Tatsachen einfach als Detail übergangen werden.
Aus: Arthur Miller, Zeitkurven. Ein Leben, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 1989.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Die Schreibweise des Originals wurde beibehalten. Titel von der Redaktion.