18. Jahrgang | Nummer 5 | 2. März 2015

Untergänge

von Heino Bosselmann

Zu den einprägsamsten Erlebnissen einer Biographie mag es gehören, erlebt zu haben, wie ein Staat untergeht, der eben noch als fester Bau alles Gesellschaftlichen galt. Deutschland bot dafür im 20. Jahrhundert viermal das Terrain: Jeweils abrupt endeten im Zuge revolutionärer Aktionen oder in Ergebnis von Zusammenbrüchen das Kaiserreich, die Weimarer Republik und das Dritte Reich, letztlich 1989/90 die DDR.
Während die Novemberrevolution von 1918 als die einzig echte deutsche Revolution gelten kann, schuf sie doch – im Gegensatz zum gescheiterten 1848er Frühversuch – eine neue und demokratische Staatsform, war die „Machtergreifung“ der Nazis im Wortsinn zwar durchaus revolutionär, allerdings in reaktionärer Weise. Zwölf Jahre später stellte der Untergang des Dritten Reiches den opferreichsten und zugleich befreiendsten Umbruch dar – ein Ende mit Schrecken. Das Ende der DDR wiederum markiert einen prinzipiellen Wandel, weil im „Beitrittsgebiet“ die Eigentumsverhältnisse geändert wurden – im Zuge einer kapitalistischen Restauration, die den revolutionären Beginn der „anderen deutschen Republik“ revidierte. Zwar konnten nach vierzig Jahren Alteigentümer nur zum eher geringen Teil in ihre alten Rechte eingesetzt werden, aber der Ausverkauf des Staats- beziehungsweise „Volkseigentums“ via „Treuhand-Anstalt“ (sic) dürfte ebenso einmalig gewesen sein wie die vormaligen Enteignungen durch die SMAD und den SED-Staat. Was für Brüche!
Nun werden die 1989/90er Ereignisse von den gegenwärtigen politischen Deutungsbehörden zwar als revolutionär – im Sinne des verklärenden Wortes von der „friedlichen Revolution“ – dargestellt, und die Bürgerbewegung wie die Montagsdemonstranten gelten sakrosankt als Schulbeispiel couragierter Citoyens; darüber hinaus aber steht die DDR als „Unrechtsstaat“ und böses Kuriosum da, als etwas, das besser nicht gewesen wäre, so wie sie der damaligen Bundesrepublik verächtlich als „Regime von Pankow“, als „Sowjetzone“ und solcherart als eine Satrapie Moskaus galt. Allerdings kann vor der Hintergrundstrahlung des Kalten Krieges gleichfalls die Bundesrepublik als Gründung der westlichen Siegermächte, insbesondere der USA aufzufassen sein, legitimiert immerhin in ihrer vergleichsweise demokratischen Gestalt und mit der Zustimmung immer satterer Konsumenten, am allermeisten gerechtfertigt aber durch den wirtschaftlichen Erfolg, insofern der nach moderner Wahrnehmung als einziger Indikator für gesellschaftliche Positivbewertung erscheint.
Aber ganz abgesehen von historischen Deutungen erscheint ein untergehender Staat, der wohl oder übel im ursprünglichen Sinne immerhin untergehende Heimat ist, als Phänomen an sich selbst. Die DDR wurde von ihren Bürgern – wiederum wohl oder übel – als besonders fest gefügt wahrgenommen, beherrscht nicht nur von einer starken Exekutive, die sich des Feuerschutzes durch zwei Millionen Sowjetsoldaten sicher war, sondern sich selbstreferentiell erklärend aus der mythischen Erzählung, Teil der besseren Welt zu sein, Mitgarant des Friedens, vom Kapitalismus und dessen Auswuchs, dem Nationalsozialismus, befreit, im Sinne des historischen Materialismus einer „lichten Zukunft“ entgegengehend und als Arbeiter- und Bauernstaat die Siegerin der Geschichte. Die kleine DDR fühlte sich daher ziemlich großartig.
Die Argumentationen Karl Raimund Poppers zu einer „offenen Gesellschaft“ würden dort nicht durchgedrungen sein. Sie hätten als spätbürgerliche Miesepeterei gegolten, die eine Parteienherrschaft kritisierten, die es in Anbetracht der globalen Zustände und Aufgaben eben nur im Sinne des „demokratischen Zentralismus“ geben konnte. Man verstand sich in Ergebnis der „Lehren der Geschichte“ als bewusst antikapitalistisch, antibürgerlich und somit antiliberal. Indem der „realexistierende Sozialismus“ irgendwann den Kommunismus aufbauen wollte, träumte er seinen eigenen Traum von „Ende der Geschichte“. Dass der „historische Materialismus“ sich dabei in idealistischen Vorstellungen verlor, kann als Spätwirkung der Hegel-DNS im Marxismus gelten.
Wer mit utopischen Ansprüchen startet, dann aber plötzlich zusammenbricht, ja gar wie eine Fußnote der Geschichte in Vergessenheit zu geraten droht, erlebt sein Scheitern als Blamage, zumal vom Wettbewerb der Systeme die Rede war, bei dem es nach „wissenschaftlicher Weltanschauung“ nur einen Sieger geben konnte – den Sozialismus! Der dann vor aller Augen abtrat und sich von den Plakaten nachrufen lassen musste: Wohlstand statt Sozialismus!
Obwohl seit den Siebzigern manchen Fährnissen ausgesetzt, erschien die DDR in den Achtzigern zunächst nicht als dysfunktionaler Staat, zumal sie ihre Querelen hauptsächlich der durch den Westen aufgezwungenen Rüstungspolitik anzulasten wusste. Ihre der Nachwendepropaganda nach als „marode“ geltende Wirtschaft war – bei allen wachsenden Innovationsverlusten – immerhin die eines zwar kleineren, aber respektablen Industriestaates. Er hatte in Anbetracht seiner ungünstigen systemischen, historischen und konkret außenwirtschaftlichen Probleme praktisch mehr zustande gebracht als ihm theoretisch zuzutrauen gewesen wäre. Die vermeintlichen Verbündeten, vor allem die UdSSR, hatten sich oft mehr als Last denn als Hilfe erwiesen.
Offenbar lagen die akuten Versagensgründe ebenso wenig in der Frustration durch die Mangelwirtschaft wie im zunehmend verklärten Aufstand der Bürger, sondern vor allem darin, dass die sowjetische Schutz- und Besatzungsmacht unter Gorbatschow dem gesamten Ostblock den ideologischen Starkstrom abgestellt hatte – in der Annahme, so könne im Zuge von Glasnost und Perestroika zu „leninistischen Prinzipien“ zurückgekehrt werden. Prinzipien, die es so weder 1917 ff. noch irgendwann sonst gegeben hatte. Wenn überhaupt, dann gab es in russisch-sowjetischer Provenienz nur eine Variante des Sozialismus – den stalinistischen beziehungsweise poststalinistisch-stagnativen, die Tragödie dieses kommunistischen Versuchs. Als der verwachsene Bolschewismus erschöpft und weitgehend diskreditiert endete, endete auch die UdSSR und ihr etwas seltsames Stiefkind, die DDR, deren Bürger erschrocken registrierten, welchen Lebenslügen man offenbar aufgesessen war und welche alte Leichen plötzlich durch das gerade noch als modern empfundene Haus rochen.
Erschütternd an einem solchen Untergang ist für Zeitgenossen die extreme Alltagserfahrung, dass über Nacht nicht mehr gelten soll, was noch gestern wie in die Verfassung und Gesetze gemeißelt schien. Immer aufs Neue unterliegt der Mensch der Illusion, dass „Grundvereinbarungen“ – einerlei, ob nun vermeintlich demokratisch oder autoritär verfasst – nicht mehr sind als menschliche Übereinkünfte – und als solche aufkündbar, selbst von einem Tag auf den anderen. Ganz so wie die Geschichte seit Anbeginn der Erinnerung immer wieder alles aufgekündigt hat, wovon man einst glaubte, es würde prinzipiell so bleiben, wie es ist. Nein, nichts bleibt. Eine Binsenweisheit, ob nun mit Blick auf das eigene kurze enge Leben oder auf die alte weite Welt. Wir wollen uns gesichert auf etwas verlassen können, sind aber immer wieder Verlassene.
Der Untergang einer Gesellschaftsordnung, einer Kultur, eines Staates kann nur als Schulbeispiel für das Scheitern der jeweils folgenden Formation gelten. Aber selbst von diesem nächsten Desaster werden wir verblüfft sein, „und so sehen wir betroffen den Vorhang zu – und alle Frage offen.“
Alles, was als große Chance empfunden beginnt, endete noch stets in Depression und wird ersetzt durch neue trügerische Hoffnung, die sich – wie die letzte Wende – als tückische Euphorie meldet und den Leuten Rührungstränen in die Augen treibt, bis daraus wieder die Tränen der Verzweiflung werden.
Zu Marx, zu Keynes, zu Hayek sollte man prophylaktisch Schopenhauer lesen, um sich nicht wieder und wieder aufs Neue hinäffen zu lassen vom menschlichen Geschäft.