von Erhard Crome
Das Jahr 2014 war ein Jahr der Jubiläen. Es waren 100 Jahre seit dem Beginn des Ersten Weltkrieges, 75 seit dem Überfall Hitlerdeutschlands auf Polen, was der Anfang des Zweiten Weltkrieges war, 25 Jahre seit dem Mauerfall. Der Jahrestag zu 1939 wurde vom offiziellen Deutschland eher pflichtschuldigst bei den Nachbarn absolviert, der Mauerfall als grandioser Sieg über die DDR gefeiert und zu 1914 eine historisch-politische Debatte geführt. Ein zentraler Anlass war das Erscheinen der deutschen Ausgabe des Buches des in Großbritannien arbeitenden australischen Historikers Christopher Clark, das den sinnigen Titel: „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ erhalten hatte. Das Werk war bis Ende Mai 2014 200.000mal verkauft worden und erreichte im Oktober die 6. Auflage. Außenminister Steinmeier veranstaltete gemeinsam mit dem Deutschen Historischen Museum eine Veranstaltungsreihe, die bekunden sollte, Deutschland habe aus der Geschichte gelernt und könne nun frohgemut aufs Neue Weltpolitik betreiben.
Eine entsprechende Akzentuierung hatte Herfried Münkler, Berliner Professor für Angewandte Bellizistik, bereits im Januar 2014 in einem Interview für die Süddeutsche Zeitung gegeben (der so zugleich sein eigenes Buch über den Ersten Weltkrieg bewarb). Er meinte, die vor allem auf den deutschen Historiker Fritz Fischer zurückgehende „Theorie von der deutschen Alleinschuld“ sei auf 1914 wie 1939 bezogen worden. Während es sich 1939 um einen „ideologisch motivierten deutschen Angriffskrieg“ gehandelt habe, sei diese These bezogen auf 1914 jedoch „eine Legende“. Auf die Frage des Interviewers, was es für „Deutschlands Identität“ bedeute, „wenn die Alleinschuld-Theorie nicht zu halten ist“, antwortete Münkler: „Es lässt sich kaum eine verantwortliche Politik in Europa betreiben, wenn man die Vorstellung hat: Wir sind an allem schuld gewesen.“ Damit war der Geschichtsdebatte eine von vornherein ideologische Funktion zugewiesen: Entschuldung als Moment neuer deutscher Weltgeltung.
Von links wurde das spiegelverkehrt genau so rezipiert. Das Buch von Christopher Clark war kaum auf Deutsch erschienen, da wurde es unter sich als links verstehender Perspektive als rein ideologischer Vorgang zur Reinwaschung des deutschen Imperialismus interpretiert. Der Historiker Wolfram Wette befürchtete bereits im Herbst 2013 eine „geschichtspolitische Wende“. Der Historiker Kurt Pätzold nannte Clarks Buch im Januar 2014 in Neues Deutschland eine „missglückte Geschichte des Ersten Weltkrieges“, monierte dann jedoch vor allem die Verlags-Reklame: Sie empfehle es „mit der Hervorhebung, es stelle infrage, ‘was bisher als Konsens unter Historikern galt, dass Deutschland die Hauptschuld am Ausbruch des Krieges trägt’. […] Die Schuld oder Unschuld des Kaiserreiches am Absturz in den Krieg war demnach nicht größer oder kleiner als die anderer Großmächte.“ Dies das Verdikt.
In einer eigenen Broschüre erklärte Pätzold noch einmal die „Fischer-Kontroverse“ in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft der 1960er Jahre und meinte, im Hinblick auf den 100. Jahrestag des Beginns des ersten Weltkrieges sei „zweierlei nicht vorauszusehen“ gewesen: „Erstens, dass ein halbes Jahrhundert nach dem Erscheinen von Fischers Schrift, welche die deutsche Weltkrieg-I-Historiographie von Dogmen befreite, ein Versuch unternommen werden würde, hinter die Revision von 1961 zurück zu gelangen. Und zweitens, dass dieser Versuch von einem Australier ausgehen würde, der im englischen Cambridge Geschichte lehrt. Vorauszusehen wäre hingegen gewesen, dass […] dem revisionistischen Täter in der Bundesrepublik Beifall gezollt werden würde“. Damit hatte Clark gleich noch ein ideologisches Etikett erhalten: „revisionistischer Täter“. Nähme man das ernst, stellte ihn das außerhalb der Wissenschaft.
Der Politikwissenschaftler Stefan Bollinger betonte ebenfalls den ideologischen Charakter der neueren Publikationen. So müsse „die heutige Kritik an Fritz Fischer als Symptom einer Rechtfertigungsideologie für die Wiederkehr des Militärischen und des Krieges in die internationale, auch deutsche Politik ernstgenommen werden. Fischers Studien und deren konsequente Untersetzung in der Diskussion der 1960er Jahre in der alten Bundesrepublik eröffnete eine besondere Perspektive, die bislang und heute wieder bewusst ausgeblendet wird: Den untrennbaren Zusammenhang von Wirtschaft und Politik.“ Auf die Idee, dass es nicht reichen könnte, wie Fischer nur die deutschen Akten zu lesen, kommt auch er nicht.
Der Historiker Detlef Bald meinte dagegen, die Frage nach der besonderen Schuld Deutschlands am ersten Weltkrieg habe gegenüber den 1920er und 1930er „an Brisanz verloren“: „Denn es gibt eindeutige Ursachen, zu denen vorrangig die militärpolitischen Doktrinen und zentralen Planungen des deutschen Generalstabs zu rechnen sind. Hier finden sich harte Fakten, ohne die der Kriegsbeginn nicht zu erklären ist. In Berlin und Wien beseelte mit hoher Intensität Politik und Militär, benachbarte Territorien zu erobern. Wiens Interesse ging hin zum Balkan, um in Serbien aufzuräumen, das Deutsche Reich suchte Arrondierung im Westen wie im Osten. Diese Expansionsabsichten, gerade auch in präventiver Absicht, machen die Differenz zu den übrigen europäischen Staaten aus.“
Gerade das aber ist falsch. Man muss nur etwa die ebenfalls voluminösen Bücher des aus den USA stammenden und in Ankara lehrenden jungen Historikers Sean McMeekin über Russlands Weg in den Krieg beziehungsweise den Juli 1914 lesen, die ebenfalls 2014 auf Deutsch erschienen. McMeekin hat Aktenbestände in Moskau und St. Petersburg sowie in Ankara ausgewertet, die zum Teil noch kein westlicher Historiker überhaupt in Händen hatte. Danach gingen der Zar und seine Regierung davon aus, dass sowohl das Osmanische Reich als auch die österreichisch-ungarische Monarchie nicht weiter lebensfähig seien und die Stunde geschlagen hätte, dass Russland weiter nach Westen expandiert und endlich die Meerengen am Ausgang des Schwarzen Meeres erobert. Eine Reihe neuerer Arbeiten, die auf Archivstudien in Wien, London und Paris beruhen, belegen die imperialistische Politik der dortigen Regierungen, die ihrerseits zum Ersten Weltkrieg trieben.
Grundfehler vieler linker Debattenbeiträge zu 1914 im Jahre 2014 war, Münklers ideologischer Leimrute aufgehüpft zu sein und die Darstellungen zu den Interessen, Perzeptionen und Vorgehensweisen der entscheidenden europäischen Regierungen im Sommer 1914 lediglich als ideologische Vorgänge zu sehen und wichtige geschichtswissenschaftliche Arbeiten, vor allem aus jüngerer Zeit aus eigener ideologischer Enge oder absichtsvoll ignoriert zu haben. Es kann aber nicht „politisch korrekt“ sein, was dem Stand der wissenschaftlichen Forschung widerspricht. Wenn Theoriebildung von links den Standpunkt der Wissenschaft verlässt, findet Rückbildung sozialistischer Gesellschaftsanalyse zu utopischen Wunschwelten statt.
Schlagwörter: 1. Weltkrieg, Christopher Clark, Erhard Crome, Herfried Münkler, Ideologie, Sean McMeekin, Wissenschaft