18. Jahrgang | Nummer 2 | 19. Januar 2015

Märchen

von Renate Hoffmann 

„In den alten Zeiten, in welchen das Wünschen noch geholfen hat …“ Mit diesen Worten beginnt das Märchen vom „Froschkönig und dem eisernen Heinrich“, das erste aus der großen Grimmschen Sammlung. Und „Wer’s nicht glaubt, bezahlt einen Taler“ beendet die Geschichte vom „klugen Schneiderlein“. Dazwischen führt Joringel seine Jorinde nach Hause „ … und sie lebten lange vergnügt zusammen.“ – Da kommen Kutschen gefahren „mit acht weißen Pferden bespannt; die hatten weiße Straußfedern auf dem Kopf und gingen in goldenen Ketten.“ Sterne fallen vom Himmel „und waren lauter harte blanke Taler. Das kleine Mädchen sammelte sie in sein neues Hemdlein hinein, „das war vom allerfeinsten Linnen“ (und ebenfalls vom Himmel gefallen) „und war reich für sein Lebtag.“
Auch werden harte Strafen auferlegt. Eine missgünstige Königinstiefmutter „mußte in die rotglühenden Schuhe treten und so lange tanzen, bis sie tot zur Erde fiel.“ Ein andermal wird Marie für ihre Faulheit mit Pech überschüttet. „Das Pech aber blieb fest an ihr hängen und wollte, solange sie lebte, nicht abgehen.“ König Drosselbarts Hochzeit hingegen muss so glanzvoll gewesen sein, dass „ich wollte, du und ich, wir wären auch dabei gewesen.“ – Die meisten von uns waren dabei. Irgendwann einmal, in den Zeiten, als man noch daran glaubte, dass Wünschen hilft.
Nun sind die „Kinder- und Hausmärchen“ über zweihundert Jahre alt, gelesen, geschätzt, hochgeehrt und in 170 Sprachen und Kulturdialekte übertragen. Seit 2005 gehören die Kasseler Handexemplare mit eigenhändigen Randnotizen und Ergänzungen von Jacob (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859) zum UNESCO – Weltdokumentenerbe. – Das Märchen- und Sagengut, diesen Sprach- und Wortschatz, diesen Hort der Fantasie und Spiegel des Zeitgeistes bedachte Johann Gottfried Herder (1744-1803) mit dem Begriff der „Volkspoesie“. Sie jedoch flatterte den Grimms nicht einfach so ins Haus. Der Weg von der Anregung bis zur Erstausgabe 1812 wollte begangen sein.
Er nahm Lauf in Marburg, dem Studienort der Brüder. Wie letztlich eben alles im Zusammenhang steht, vermittelte ihnen dort ihr Lehrer Friedrich Carl von Savigny (1779-1861), Jurist, später preußischer Minister, das Bekanntwerden mit Clemens Brentano und Achim von Arnim, den bedeutenden Vertretern der Heidelberger Romantik. Diese beiden betrieben zu dieser Zeit mit großem Eifer die Herausgabe einer Sammlung alter Volkslieder. „Des Knaben Wunderhorn“. Damit weckten sie die schlummernde Neigung der Jurastudenten Jacob und Wilhelm für die volkstümliche Dichtung und zugleich ihr philologisches Interesse.
Die Grimms begannen Sprichwörter zu sammeln, Lieder, Sagen, Mythen. Und Märchen. In Kassel, wohin die Familie nach dem Tod des Vaters übersiedelte, verstärkte sich ihre Sammelleidenschaft. Sie schöpften aus mündlichen und schriftlichen Quellen. Nicht etwa durch Reisen überland und Befragen der Leute. Man trug ihnen überwiegend die Erzählungen zu. Freunde und Bekannte und deren Bekannte halfen.
Die Märchenschätze fanden sich zumeist im Hessischen und Westfälischen. Am Aufsammeln beteiligten sich, neben vielen anderen, auch Annette und Jenny von Droste-Hülshoff und der Maler Philipp Otto Runge. Genannt wurden die Beiträger der Geschichten von den Grimms nicht. Bis auf Dorothea Viehmann ( 1755-1815) aus Niederzwehren bei Kassel. Hatte sie doch den Brüdern fast vierzig Märchen erzählt. – Dieses wichtige Kulturgut sollte erforscht und bewahrt werden. Der Literatur zur Bereicherung, der Sprache zum Nutzen und den Kindern zur Freude (den Erwachsenen nicht minder).
Eingangs zählte nur die unbebilderte Niederschrift. Als die zweite Auflage der „Kinder- und Hausmärchen“ erschien (1819-1822), befand sich darin die erste und lange Zeit einzige Illustration, gestaltet vom Bruder Ludwig Emil Grimm, dem Maler (1790-1863). Er hatte sich dazu das Märchen von „Brüderchen und Schwesterchen“ ausgesucht.
Die Beschreibungen der Märchenfiguren und Örtlichkeiten bleiben in der Schwebe, weil übersinnlich, und sie regen damit die Fantasie auf besondere Weise an. Bis auf den heutigen Tag. Da ist die Rede von dunklem Wald, einem großen Wasser, der Wildnis, dem alten Schloss und einem Hüttchen mit Garten. Diesbezüglich zuordnen lassen sich „Die sieben Schwaben“ und „Die Bremer Stadtmusikanten“. Und was die Eigenschaften der handelnden Personen (besser wohl – der märchenhaften Wesen) angeht, so sind sie lediglich jung oder alt, böse, „herzensgut“; grausam und stolz oder auch „über alle Maßen schön“.
Mit ihrer steten Verbreitung und in die Romantik hinein geboren, greift die bildende Kunst nach den „Kinder- und Hausmärchen“, und höht sie zu einem doppelten Genuss. Vornean die Maler. Unter ihnen: Moritz von Schwind (1804-1871), Franz von Pocci (1807-1876), Adrian Ludwig Richter (1803-1884).
Die Künstler, dem Jugendstil verpflichtet, fanden in den Märchen einen literarischen Garten vor, in dem ihre schöpferischen Ideen üppig gediehen. Heinrich Vogeler (1872-1942) illustrierte die Erzählung von den „ Sieben Raben“ in feinsten geschwungenen, verschlungenen, von Blüten umwobenen Linien einer Radierung. Oder er gab anderen Grimmschen Märchen Buntheit und Vielgestalt seiner unerschöpflichen Vorstellungskraft. – Der Zeichner und Maler Otto Ubbelohde (1867-1922) versah für eine dreibändige Prachtausgabe sämtliche Märchen der Brüder mit Federzeichnungen. Dabei verlegte er manchen Handlungsort in seine hessische Heimat. Burgen und Schlösser an der Lahn bilden oftmals den zeichnerischen Hintergrund.
Der Kopf des sprechenden Pferdes Falada, von der Gänsemagd – die eigentlich eine Königstochter ist – beweint, hängt am unteren Tor des Marburger Schlosses. „In der Stadt war ein großes finsteres Tor, wo sie abends und morgens mit den Gänsen durch musste [ …] im Vorbeigehen sprach sie: ,O du Falada, da du hangest’, da antwortete der Kopf: ,O du Jungfer Königin, da du gangest, / wenn das deine Mutter wüßte, / ihr Herz tät’ ihr zerspringen’.“
Die Ausstrahlung des Märchenstoffes hält an – bis in die Gegenwart. Bis zu Werner Klemke (1917-1994), Klaus Ensikat (geboren 1937), Lisbeth Zwerger (geboren 1954) und vielen anderen Künstlern. Klemkes Ausstattung der „Kinder- und Hausmärchen“ (Kinderbuch Verlag Berlin) brachte dem Werk mit mehr als vierhundert Illustrationen im Jahr 1963 die Ehrung als „Schönstes Buch“ der DDR ein – und 1965 die Goldmedaille der Internationalen Buchkunst-Ausstellung Leipzig.
„Rotkäppchen“, Nummer 26 der Grimms-Märchen-Registrierung, sei die beliebteste Geschichte der großen Sammlung überhaupt, heißt es. „Hänsel und Gretel“ – die Nummer 15 – sperrten sich bei der Übertragung ins Japanische. Wie sollte man auch die Hexe umschreiben, für die es in dieser Sprache keine Entsprechung gibt. Vielleicht „Onibaba“, „altes weibliches Ungeheuer“? – „Das Häuslein ganz aus Brot gebaut“ (ich hätte geschworen, es sei mit Pfefferkuchen verkleidet) bestünde aus „eckigen und runden Reiskuchen, das Dach aus Süßigkeiten und die Fenster aus Kandiszucker, klar wie Glas.“ Am Schluss folgt die Moral (nicht von den Grimms!): „Diese Erzählung bezeugt auch einen grausamen Aspekt, wenn Kinder aus Nahrungsmittelknappheit ausgesetzt werden. Wir sollten Nahrungsmittel besser behandeln.“
Und „Die Bremer Stadtmusikanten“ – Märchen Nummer 27 – kamen nie in Bremen an. Esel, Hund, Katze und Hahn, obzwar auf dem Weg in die Hansestadt, um sich dort als „Spielleute“ zu verdingen, erlebten tief im Wald ein Abenteuer, das die bekundeten Absichten von Grund auf änderte. Allesamt stimmbegabt, verjagten sie mit wildem, lauttönendem Chorus mysticus eine Räuberbande aus ihrem Schlupfwinkel. Auf Nimmerwiedersehen! „ … den vier Bremer Stadtmusikanten gefiel es aber so wohl darin, daß sie nicht wieder heraus wollten.“
Kassel, die Stadt, in der das Brüderpaar so manches Jahr lebte und arbeitete, ehe es der Weg über Göttingen nach Berlin führte, besitzt das renommierte „Brüder Grimm-Museum“. Ich stehe vergebens davor. Seine Tore sind geschlossen. Umzug und Wiedereröffnung in einem neuen Gebäudekomplex auf dem Weinberg darf man im Sommer 2015 erwarten. Hier soll die „Grimmwelt“ den Blick auf die reiche Hinterlassenschaft der Brüder weiten, und nicht nur ihre Tätigkeit als Märchensammler würdigen, sondern gleichermaßen den Einsatz als Politiker, Sprachforscher, Juristen, Kulturbeflissene und Revoluzzer.
Ein wenig enttäuscht verabschiede ich mich und fahre nach Bremen. Es wäre doch möglich, Esel, Hund, Katze und Hahn wollten eines Tages wieder heraus aus dem Räuberhaus … Wahrhaftig, nach langer, langer Zeit, die ja im Märchen keine Rolle spielt, erreichten die Bremer Stadtmusikanten ihr Ziel. Geschaffen im Jahre 1951 vom Bauhaus-Künstler Gerhard Marcks (1889-1981), posieren sie mittlerweile links an der Stirnseite des Historischen Rathauses. Man hatte sich anfangs heftig gegen ihre Aufstellung gewehrt und auch die Platzwahl ins Feld geführt. Sie sei „in künstlerischer Beziehung ein Unding.“ Wo aber könnten sie besser ihren Chorus anstimmen als vor dem Rathaus der Freien Hansestadt Bremen? Der Esel wiehert, der Hund fletscht die Zähne und knurrt, die Katze faucht, der Hahn schlägt mit den Flügeln und kräht in allerhöchsten Tönen. – Sie haben sich durchgesetzt, die vier Musikanten der Brüder Grimm und sind nunmehr zum heimlichen Symbol der Stadt aufgestiegen.