von Heino Bosselmann
Dass sie manipulativ, gar ideologisch, sogar demagogisch erscheint, gehört zur Natur der politischen Sprache, weil sie politische Zwecke verfolgt. Gegenwärtig ist jedoch selbst mit diesem Wissen kaum ein sinnvoller Diskurs zur res publica möglich, da entscheidende Begriffe, um die es gerade vordringlich geht, durch den tendenziösen Gebrauch des Establishments nicht nur abgenutzt sind, sondern mittlerweile in ihrer Semantik völlig unklar erscheinen. Das gilt etwa für besetzte Worte wie „Europa“, „Bildung“, „Integration“ – in deren pauschalisiert positivem Sinn, andererseits beispielsweise für „Nation“ und alles damit Zusammenhängende in negativ konnotierter Hinsicht. Die Inhalte dieser Begriffe verschwinden hinter den konstruiert selbsterfüllenden Prophezeiungen, die sie suggerieren. Man kann mit solche Worthülsen sprachlich nicht mehr operieren.
Mehr denn je ist Politik Sprache. Sie ist nicht immer, aber gegenwärtig fast ausschließlich darauf beschränkt. Wer sie von der Herrschaft der Phrase befreit, wird nicht nur Deutungshoheiten, sondern vermutlich alsbald auch die Macht gewinnen können.
Der vermeintlich wichtigste, angeblich übergreifende „gesellschaftliche Konsens“ im Sinne einer – nirgendwo vereinbarten – „Grundvereinbarung“ lautet: Gegen Rechts! In gewisser Weise können die Anti-Rechts-Kampagnen und die zahlreichen davon ausgehenden Initiativen wohl als Legitimationsmythos für eine mittlerweile an ihre eigenen Grenzen stoßende neoliberale Politik des „Standorts Deutschland“ mit seiner „marktkonformen Demokratie“ gelten, die meint: Gut ist alles, was nicht unmittelbar „rechts“ ist, also Sozialabbau ebenso wie die immerfort beschworene „bunte Republik“. Man sehe sich in diesem Zusammenhang die propagandistischen Siegel für die politisch korrekte Schule an: Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage, gewaltfreie Schule, rauchfreie Schule sowieso, vor allem aber solidarisch mit allen und jedem im Sinne der gerechtigkeitsrhetorisch forcierten „Inklusion“. Da reden alle mit, aber für kaum jemanden ist es real zu erleben. Nach den rassistisch durchideologisierten Schulen im Dritten Reich dürfte es in Deutschland nirgendwo eine Schule mit Rassismus, ohne Courage und für Gewalt gegeben haben.
Die Politik der sogenannten Mitte hat ihr altes, vor allem sozialpolitisch akzentuiertes Korrektiv von links verloren. Die Linke, mindestens die moderate, möchte erklärtermaßen unbedingt Mitte sein und es dort mit ein paar Reformen versuchen, weil sie – gleich der SPD – grundsätzlich ihren Frieden mit dem Kapitalismus gemacht hat. Gregor Gysi, einziger Charismatiker der Partei, beschwört diesen resignierenden Realismus ebenso wie Thüringens Bodo Ramelow. Damit bricht die Linke mit ihrer jakobinischen Tradition, sich als revolutionäre „Bergpartei“ vom „Sumpf“ der gemäßigten und satten Bürger unterscheiden zu wollen. Die Linke ist längst selbst saturiert. Alles, was im alten Westen, der Bonner Republik, einstmals links war, hat sich der „Mitte“ angepasst, ja ist längst die Mitte, mithin Mittelmaß geworden, innerhalb der Berliner Republik und ihres müden Parlamentarismus also assimiliert, amalgamisiert und gleichgeschaltet.
Die übrig gebliebene radikale Linke – so theoriearm wie jugendlich verzweifelt – wirkt nicht zuletzt in ihrer pubertären Krawallbereitschaft ganz generationstypisch durchneurotisiert, weil ihr – mit Ausnahme der engeren Schar milchbärtiger Antifa-Genossen im pseudomilitanten Schwarz – nun wirklich alles andere als rechts gilt. Sie dramatisiert, die Machtergreifung der vermeintlich allgegenwärtigen „Nazis“ stünde bevor. Zu mehr als zu urbanen Geländespielen mit der Polizei bringt sie es allerdings nicht.
Die politische Initiative könnte innerhalb dieses Jahres – mit ausbrechender Gewalt schneller, ohne diese stetiger – unweigerlich an die noch disparate, sich aber gerade über AfD und Pegida ordnende Rechte gehen, weil das die einzige Kraft ist, die sich von der zwar etablierten, ideell aber stagnierenden beziehungsweise geistig im Ableben begriffenen Mitte unterscheidet. Im politischen Sinne folgt die moderne Rechte Luhmanns Maßgabe: „Draw a distinction.“ Das heißt: Sie trifft im Gegensatz zu allen anderen Kräften noch Unterscheidungen. Mag sein, sie diskriminiert; aber Diskriminierung bedeutet auch Unterscheidung. Mag sein, sie ist rechtspopulistisch. Also populär, dicht am Volk, wenngleich nicht an der Art von Volk, das sich die Regierenden vorstellen. Man ist vor diesem Hintergrund beinahe versucht, an Brechts mit Eindruck vom 17. Juni 1953 geschriebenes Gedicht „Die Maßnahme“ zu denken. Auch die Berliner Regierung wünscht sich, etwa gegen Pegida, längst ein anderes Volk.
Die Mitte die Berliner Republik führt zwar noch Verwaltungsakte aus, darüber hinaus entbehrt sie aber geistiger Vitalität und Esprit, und deshalb wird sie keiner Bewegung, die Kraft aus sich selbst schöpft, etwas Entscheidendes entgegenzusetzen haben. Mahnwachen und Kerzenhalterei machen letztlich keine Geschichte. Es wird bei den verbrauchten Beschwörungen, Beteuerungen und den üblichen Verlautbarungen bleiben, ohne die Lust des Beginnens, sondern angesichts der schwindenden Kräfte lediglich im Sinne bereits verzweifelter Selbstvergewisserung. Ja, der Wohlstand – ungünstig verteilt – wächst offenbar, aber ein politisches Bewusstsein ist nicht mitgewachsen. Der Bürger, der Citoyen, so es ihn in Deutschland je gab, reduziert sich auf den passiven Konsumenten. Gerade ermittelte die Bertelsmann-Stiftung, dass der Parlamentarismus noch nie so wenige Menschen interessierte wie gegenwärtig. Vor allem ist er der Jugend einerlei. Mit „Call of Duty“ und „Candy Crush“ sagt sie das der längst mehr als CDU und SPD umfassenden Mitte. In der Mitte befindet sich kein Kern mehr, sondern nur noch ein politisch verödetes Loch.
Angesichts der Leidenschaftslosigkeit des Durchregierens der Großen Koalition wundert man sich, dass rundherum noch immer eine erstaunliche Presse-Landschaft blüht. Politisch allerdings ist auch sie eine Monokultur, allerdings mit lebendigem Feuilleton und hervorragendem Sparten- und Wissenschaftsjournalismus. Das heißt: Das Wissen um die allgemeine Krise ist da, es findet sich nur nicht mobilisiert. Darauf zu hoffen, bedeutet, eine mindestens kulturelle Wende zu erwarten.
Bleiben Pegida und deren Derivate einfach nur bei ihren bisherigen Spaziergängen, wird das System der Etablierten und Wohlmeinenden ihnen nichts Ernstzunehmendes entgegenzusetzen haben, zumal diese „Rechtspopulisten“ sich bislang dem verschließen, was von der Demokratie übrig blieb, der Talkshow-Kultur des Fernsehens. Sie müssen also gar nicht viel auf die Beine stellen, sind die anderen doch ohnehin schon ganz verzweifelt auf sie fixiert. Dass man Pegida in einigen Städten jetzt die Beleuchtung abstellt, steigert jenes unbehagliche Moment, das die Mitte gerade verhindern möchte – das Unheimliche.
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