von Franz Schandl, Wien
Paul Ginsborg versucht, sich anhand fünf ausgewählter Länder an einer umfassenden Geschichte des Privaten unter diktatorischen Verhältnissen: „Je länger ich mich mit dem Thema dieses Buches befasste, desto größer wurde im Übrigen die Skepsis, ob ein Interpretationsrahmen, der den ‚Totalitarismus’ als Leitkonzept verwendet, überhaupt erhellend ist.“ Da hat er Recht und nicht nur, weil die Familien von den jeweiligen Regimen nicht total kontrolliert werden konnten. Diese Konzeption ist verdunkelnd, einerseits, weil sie die unterschiedlichen Inhalte der faschistischen und kommunistischen Radikalität ausblendet, andererseits weil sie in die zweifellos vorhandenen Analogien der repressiven Form das demokratische Repräsentativsystem partout nicht miteinbeziehen will. Die Totalitarismustheorie konstruiert zwei Welten, wo eher drei sind oder eben bloß eine.
Dass man die Familien der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhundert als „geführte“ begreift, wie der Titel nahelegt, hat schon seine Richtigkeit, indes traf das auf alle politischen Systeme dieser Epoche zu. Tatsächlich stellt sich die Frage, ob die Familienstrukturen zwischen Demokratien und Diktaturen so unterschiedlich sind, kurzum Differenzen wichtiger als Identitäten gewesen sind. Ob also nicht die autoritäre Sozialisierung der Familien ein typisches Produkt dieser Zeit war und weniger eines des spezifischen Ortes. Was Familie und Alltag betrifft, waren die Ergebnisse weniger unterschiedlich als die Maßnahmen, die dazu führten. So ist es auch gänzlich falsch, italienische Faschisten, deutsche Nazis oder türkische Kemalisten als Reaktionäre einzustufen. Die Symbolik der historischen Kostüme sollte nicht täuschen.
Aber auch die jeweilige Intention wird in der Totalitarismusformel eingeebnet. Vergleicht man Faschismus und Kommunismus, dann könnten die Ambitionen unterschiedlicher nicht sein. Die Kommunisten kannten keinen Kriegs- und Mutterkult. Anders als bei den Nazis teilte man die Welt nicht in eine öffentlich-männliche und eine privat-weibliche ein. Im Gegenteil, die reelle wie ideelle Ungleichheit zwischen Männern und Frauen sollte aufgehoben werden, vor allem versprach man sich das durch die Lohnarbeit selbst. Frauen sollten in den Fabriken sozusagen ihren Mann stellen.
Ganz anders Adolf Hitler. Er bezeichnete die Emanzipation der Frau als „ein nur vom jüdischen Intellekt erfundenes Wort und der Inhalt ist von demselben Geist geprägt“. Sätze wie „Der Krieg gehört zum Mann wie die Mutterschaft zur Frau“ (Benitto Mussolini) hätten nie bolschewistische Doktrin sein können. Offizielle Bekenntnisse zu Rassismus und Totalitarismus finden sich bei den italienischen Faschisten, keineswegs aber bei den sowjetischen Stalinisten oder ihren Anhängern. Es gab kein rassistisches Programm. Vergessen wir auch nicht, dass die Sowjetunion der erste Staat dieser Welt war, der keine nationale Bezeichnung in seinem Titel trug. Natürlich waren Rassismus und Sexismus, Nationalismus und Antisemitismus nicht ausgemerzt, aber man war dezidiert nicht angetreten diese umzusetzen.
Blicken wir zurück in das zaristische Russland um 1900. Die Verwandten lebten oft in Großverbänden und Mehrfamilienhaushalten zusammen. Die Kindersterblichkeit war hoch, ein Viertel der Bauernkinder und ein Drittel der Arbeiterkinder überlebten das erste Lebensjahr nicht. Die Lebenserwartung lag bei knapp über 30 Jahren. Die russisch-orthodoxe Kirche überwachte den Alltag. Zwangsehen waren üblich, Frauen wurden meist mit großer Grausamkeit behandelt. „Je mehr du die Alte schlägst, desto besser schmeckt die Suppe“, hieß ein geflügeltes Wort.
Die Oktoberrevolution war ein gewaltiger Versuch diese Verhältnisse radikal umzugestalten. Die Zivilehe wurde eingeführt, die Gleichstellung von Mann und Frau beschlossen, Scheidungen und Abtreibungen ermöglicht. Macht und Zugriff der Kirche wurden massiv eingeschränkt. Einige wollten sogar noch weiter gehen. Alexandra Kollontai etwa, die erste Volkskommissarin für Volkswohlfahrt, stand für die Autonomie des Geschlechtslebens, war Gegnerin der romantischen Liebe, sprach von einem „geflügelten Eros“. Die Frau sollte via Ehe nicht Eigentum des Mannes sein. „Nach ihrer Vision der Zukunft ist nicht das individuelle Paar stark, sondern das Kollektiv“, schreibt Ginsborg. Die Kommune sollte das private Haus und die Familie ersetzen. In der ersten Hälfte der Zwanzigerjahre gab es auch zahlreiche von der Partei geförderte oder zumindest tolerierte Experimente.
Freilich stellt sich die Frage, inwiefern Kollontai wegweisend für ihre Partei gewesen ist. Schon Anfang der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts fiel sie Ungnade und verlor alle Parteiämter. Ihr Mann wurde später Opfer der Schauprozesse, sie selbst, eine der wenigen aus der alten bolschewistischen Garde, die dem Stalinschen Terror entkommen konnten, endete als angepasste Diplomatin im Äußeren Dienst.
Von der Überwindung der Familie sprach bald niemand mehr. Selbst in den Jahren 1925 bis 1926, als eine äußerst offen und kontrovers geführte Debatte über die Reform des Familienrechts stattgefunden hat, war das kein Thema. Trotzki ging von der Zählebigkeit der Familie aus. Er meinte, es sei leichter gewesen die Staatsmacht zu erobern als den Alltag radikal umzugestalten. Unter Stalin erfolgte dann teilweise eine Revision einstiger Errungenschaften. 1936 wurden Abtreibungen für illegal erklärt und Scheidungen wieder erschwert. Durch administrative Maßnahmen wollte man die Geburtenrate erhöhen.
Die Umwälzung des Privaten in der Sowjetunion transformierte sich zusehends zur Ausschaltung desselben. Überwachung und Bespitzelung wurden zu einem dauerhaften Bestandteil des Lebens.
Die Sowjetkommunisten sind kaum über eine repressive Lösung der Probleme hinausgekommen. Ja, sie bekannten sich sogar dazu und begannen rituelle Loblieder auf Kader und Gehorsam anzustimmen. Disziplin, Dekret und Denunziation ersetzten Diskussion und Debatte völlig. In den Dreißigerjahren herrschten Angst und Terror.
Überaus anregend ist das historische Panorama, das Paul Ginsborg zeichnet. Das Buch ist insgesamt sehr anschaulich und auch ohne Vorkenntnisse lesbar. Als Einstiegslektüre nur zu empfehlen. Indes bleibt vieles auf der Ebene des ledigen Wissens hängen. Das Sachbuch bleibt sachlich beschränkt, es verfügt über keinen entwickelten Begriffsapparat und entschlägt sich weitgehend einer systematischen Gliederung. So ist die Erzählung üppig, der analytische Gehalt aber dünn.
Ist die Familie ein Modell oder ist sie gar Natur? Warum setzt sie sich gerade in der Neuzeit durch und warum erfährt sie im zwanzigsten Jahrhundert diese enorme, ja unheimliche Dynamisierung? In welchem Wechselverhältnis stehen Ideologie und Ökonomie? Gehört die Familie der privaten oder der öffentlichen Sphäre an? Macht eine solche Unterscheidung überhaupt Sinn? Das alles wäre ungemein spannend, doch darauf finden sich in dem dicken Band kaum Antworten.
Paul Ginsborg: Die geführte Familie. Das Private in Revolution und Diktatur 1900-1950, Hoffmann und Campe, Wien 2014, 752 Seiten, 39,10 Euro.
Schlagwörter: Alltag, Familie, Faschismus, Franz Schandl, Kommunismus, Paul Ginsborg, Totalitarismus