von Erhard Crome
Michael Rühle hat ein Trauma: Frieden könnte ausbrechen. In der Reihe „Standpunkte“ der Körber-Stiftung hatte er 2009 ein Büchlein publiziert, in dem er die deutsche Außenpolitik aufforderte, endlich zwischen „guten und schlechten Atombomben“ zu unterscheiden. Rühle, 1959 in Stuttgart geboren, hatte in den 1980er Jahren in Bonn Politikwissenschaft studiert. Sein damaliges Friedenstrauma beschrieb er 2009 so: „Die Symmetrie der Vernichtungsoptionen suggeriert politische Symmetrie und damit auch moralische Äquivalenz. Nirgendwo ist diese Verarmung des Denkens deutlicher geworden als in der Bundesrepublik der 1980er Jahre. Die 300.000 Anhänger der Friedensbewegung, die sich 1981 auf der Bonner Hofgartenwiese versammelten, um gegen den ‚Rüstungswahnsinn‘ zu protestieren, waren für eine Grundsatzdiskussion um Freiheit und Unfreiheit nicht empfänglich. […] Der Einwand, die Nuklearwaffen der offenen Gesellschaften des Westens seien qualitativ anders zu bewerten als die der totalitären, nicht transparenten Sowjetunion ohne nennenswerte Zivilgesellschaft, verfing nicht.“ Die Getöteten hätten beim Tod durch die US-Bombe immerhin die Gewissheit haben können, von einer freiheitlich-demokratischen Bombe ins Jenseits befördert worden zu sein.
Eine Zeitlang war Rühle Leiter des Referats für Politische Planung und Reden im Brüsseler NATO-Hauptquartier und Ghostwriter für diverse Generalsekretäre des Paktes; heute steht er der Sektion für Energiesicherheit in der NATO-Abteilung für die Kommenden Sicherheitsherausforderungen (Emerging Security Challenges Division) vor. In den Aufwallungen um transatlantischen Schulterschluss und beschleunigte NATO-Aufrüstung im Angesicht der Ukraine-Krise durfte dieser Rühle natürlich nicht fehlen. Auf einer Veranstaltung der „Atlantik-Brücke“ – eines privaten Vereins der höheren Schichten dieses Landes zur Beförderung deutsch-US-amerikanischer Verbundenheit, dem der ehemalige CDU-Hoffnungsträger Friedrich Merz vorsteht – referierte Rühle kürzlich in Düsseldorf zum Thema „Driften die USA und Europa auseinander“. „Europa“ ist hier natürlich die EU, während Russland draußen zu bleiben hat.
Auch hier beginnt Rühle wieder mit persönlichen Reminiszenzen: „Vor einigen Wochen, inmitten der Ukraine-Krise, erhielt ich von einem litauischen Kollegen eine kommentarlose E-Mail, die lediglich ein Foto zeigte: einen amerikanischen gepanzerten Mannschaftstransporter auf einer Autobahn irgendwo im Baltikum. Ein scheinbar belangloses Foto. Aber nicht für die baltischen Staaten. Für diese kleinen, geografisch exponierten osteuropäischen Länder ist die amerikanische militärische Präsenz in ihrer Region nicht nur von eminenter politisch-symbolischer Bedeutung, sondern auch militärisch existenziell.“ Was will er uns damit sagen? Wenn die militärische US-Präsenz im Baltikum ausdrücklich nicht Symbolpolitik sein soll, denkt er sich als Pointe der Ukraine-Krise die tatsächliche militärische Konfrontation und den NATO-Aufmarsch als Teil einer entsprechenden Kriegsführungsstrategie gegen Russland?
Das ist der offensichtliche Sinn seines Argumentierens. Die Deutschen sollten ihren Frust über die Kontinuität von Obamas Außenpolitik in Gestalt der Fortsetzung derjenigen seines Vorgängers und über die NSA endlich wegstecken und zu etwas kommen, das Rühle einen „aufgeklärten Atlantizismus“ nennt. Zunächst redet er über die Differenzen in den „strategischen Kulturen“ der USA und „Europas“. (Hier sei noch einmal auf den Ort verwiesen: Die „Atlantik-Brücke“ ist vor allem ein Lobby-Verein, der die Politik in Deutschland im Sinne der USA-Strategie beeinflussen soll.) Es geht um das „Selbstverständnis“ beider Seiten. Die USA seien eine Weltmacht, deren Außenpolitik auf einer grundsätzlich positiven Selbsteinschätzung beruhe. Dazu meint er: „Natürlich hat auch Amerika seine historischen Traumata durchlebt: die Ausrottung der Ureinwohner, der Bürgerkrieg, die Rassentrennung, der Vietnamkrieg.“ Hier ist der professionelle Redenschreiber allerdings auf Abwege geraten: Die Ausrottung der Ureinwohner ist wohl kaum ein Trauma für die Nachkommen der Ausrotter, und die Traumata der paar Ureinwohner, die noch in den Reservaten hausen, sind wohl kaum Gegenstand der verbreiteten psychiatrischen Sitzungen, zu denen die Angehörigen der weißen Mehrheitsbevölkerung zu gehen pflegen. Die Rassentrennung interessiert diese auch nur, wenn die schwarze Minderheit gegen ihre anhaltende Diskriminierung protestiert. Und der Vietnamkrieg? Man erinnert sich der eigenen Gefallenen, kaum der vietnamesischen Opfer, und US-Trauma ist wohl eher die Niederlage, nicht der Krieg als solcher. Rühles Punkt ist dann auch vielmehr die Betonung des US-amerikanischen „Exeptionalismus“, zu dem die US-Amerikaner stehen, trotz all dieser „Fehlleistungen“. Die Deutschen dagegen pflegten ihre „latente Furcht vor der eigenen selbst-zerstörerischen Vergangenheit“. Und damit sollte nun endlich Schluss sein.
So sollten die Europäer schleunigst eigene militärische Fähigkeiten aufbauen und die Verteidigungshaushalte aufstocken. Die USA gäben vier Prozent des Bruttoinlandsproduktes für „Verteidigung“ aus, während es in Europa weniger als zwei seien. „Deutschland – das reichste Land Europas – gehört mit weniger als eineinhalb Prozent zu den Schlusslichtern innerhalb der NATO.“ Schämt Euch! Daraus leitet Rühle vier Forderungen an die deutsche Bundesregierung ab: Sie solle erstens endlich den Rüstungshaushalt erhöhen, und zwar dauerhaft und stetig; zweitens solle jegliche „Kultur der Zurückhaltung“ aus dem Sprachschatz gestrichen werden. (Zwischenfrage: Was soll an deren Stelle treten? Deutscher Exeptionalismus nach dem Motto: „Am deutschen Wesen soll wieder die Welt genesen“?“ Drittens gehöre ein gutes Verhältnis zu Russland zu den „Lebenslügen“ Deutschlands. Die „transatlantische Bündnissolidarität“ müsse Vorrang haben. Viertens sei der „Pivot to Asia“ der USA irreversibel. Deshalb müsste Europa „mehr Verantwortung“ übernehmen – für seine „Sicherheit“ und in seiner Peripherie.
Beide zusammen, die USA und die EU, sollten den „neuen Großmächten“ gegenübertreten und danach streben, die Normen zu definieren, auf denen das internationale System beruhe. Meint Michael Rühle. Was er beschreibt, ist der Versuch einer militärischen Antwort auf die wirtschaftlich-politischen Veränderungen in der Welt. Wenn solche Kader Vor„denker“ der NATO sind, lebt es sich aber doch sicherer ohne Nordatlantikpakt. Und auch für das vorgebliche oder tatsächliche Sicherheitsdilemma der baltischen Staaten gibt es keine militärische Lösung. Nur eine politische.
Schlagwörter: Erhard Crome, Michael Rühle, militärischer Faktor, NATO, Russland, Rüstung, Sicherheit