von Reinhard Wengierek
Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Sozialdemokraten, Faschisten, ein letzter Kommunist – und alle in Berlin
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Auf so ausladendem wie effektvollem Tableau, in einem Schwimmbad realsozialistischen Designs, lassen im Deutschen Theater zu Berlin die Regisseure Tom Kühnel und Jürgen Kuttner die SPD baden gehen; mit tatkräftiger Beihilfe von Carl Sternheims Satire über den Reformismus der deutschen Sozialdemokratie „Tabula rasa“ von 1914. Und doch, bei aller kabarettistischer Holzschnittartigkeit im Spiel (es wird fleißig gebrüllt und getrampelt) und bei all dem Plakativen der historischen Verweise, die den Sternheim-Plot ergänzen (von der SPD-Kaisertreue und den Kriegskrediten 1914 über das Godesberger Programm bis hin zu Gerhard Schröder und der Agenda 2010), die beiden unideologischen, trotzdem hoch politischen und gar nicht überheblichen oder schlaumeierischen Regisseure kippen das alte graurosa Kind Sozialdemokratie nicht mit dem Bade aus.
Es geht ihnen vielmehr um eine schwere gesellschaftliche Tragik. Um den bislang nicht gelösten (oder temporär äußerst blutig verdrängten) Widerspruch zwischen Revolution und Reform, zwischen dem „Jeder für sich allein“ und dem „Alle für alle“. Um diese zwei Seelen ach in unserer aller Brust: Bürgerlicher Eigennutz versus dessen mehr oder minder radikale Zurückstellung um der mehr oder weniger allgemeinen Gerechtigkeit willen.
Bei aller ätzenden Schärfe, mit der Sternheim die Verlogenheit und Bestechlichkeit sozialdemokratisierter Funktionäre, aber auch den umstürzlerischen Partei-Radikalinski geißelt (hier eine Art mopsiger Thälmann mit langen Haaren in Proleten-Lederjoppe), – Sternheims Text weiß überraschend vorausschauend, dass man mit Liebknecht, Luxemburg und Lenin bloß bis Stalin & Co. kommt. Also ist klar: Der solide Sozi ist fürs kompromisslerische brave „Hinaufentwickeln“ im Gesellschaftlichen, und nicht fürs frech-flotte „Hinaufschießen“ wie der Genosse nebenan von der Partei Neuen Typs aus der totalitären Abteilung. Da mag man nun kräftig lästern über die Braven mit ihrer gepflegten Meinungsvielfalt auf dem reformatorischen Mittelweg, was die Inszenierung denn auch gut und gerne tut. Zugleich aber verweist sie, man muss es nur hören wollen, im Gelächter, scharf und streng auf die Genossen mit der ständig gereckten Faust, die jeden erschlägt, der sie nicht korrekt radikal reckt. So relativiert sich das Braven-Bashing von selbst. Und eine gewisse entspannte, philosophisch-politische Ratlosigkeit verströmt sich. – Die Regisseure mögen geistreiche, fantasievolle Scherzkekse sein, Besserwisser sind sie nicht.
Auf die von ihnen eingeworfenen Frage, was denn bloß heutzutage Links sei, geben sie in ihrem spannend diskursiven Abend klüglich nur läppische, also unbefriedigende und zugleich lachhafte und gerade dadurch nachdenklich machende Antworten. Die Spitze dabei der deftige Auftritt von Kuttner, diesem hier exzellenten Satiriker, der nassforsch berlinernd die Sternheim-Sottise illustriert, nach der im Kern der Sozialdemokratie viele, selbst die weit schweifendsten Gedanken Platz hätten, und dennoch ein jeder, der sie pflegt, das Recht hätte, sich als echten Genossen zu bezeichnen. So ist es! Und das ist besser, als herrsche nur ein Gedanke…
Wir kapieren: Wir alle, die halbwegs bei Verstand und also für Fortschritt, Emanzipation, soziale Gerechtigkeit und Frieden sind und uns heftig darum sorgen, wir alle sind Sozis. Und zerfressen vom Konflikt zwischen wohliger, sozialversicherter Daseinsgemütlichkeit und schlechtem Gewissen. Und wir befürchten, dass diese Wärme nicht Bestand haben könnte in dieser kalten Welt und Ewigkeit.
Soweit die unfrohe Botschaft dieses auch im Schauspielerischen starken Abends, der durchaus über weite Strecken gellendes Agitprop und lustiges Kabarett ist, aber eben super gemacht. Also ist es gutes Theater. Da mögen die feinen chorischen Auftritte mit rührend rotem Liedgut des Guten vielleicht etwas zu viel sein. Wie auch die Radio-Einspieler mit Pawel Kortschagin, dem kommunistischen Revolutionär aus Ostrowskis sowjetischem Kultroman „Wie der Stahl gehärtet wurde“ (ein süßer Gruß an die Kindertage alter Ossis). Und auch das so puppenlustige wie reichliche Planschen im Badewasser sowie die ausufernde und doch letztlich todernste Parodie mit den drei Rheintöchtern und dem goldräuberischen, dafür die Liebe schmähenden Alberich aus Wagners „Rheingold“ (Richard unschlagbar for ever!), auch diesen wahrlich amüsanten Einschub möchte ich letztlich nicht missen. Scheiß SPD – sie lebe hoch! Der Rest ist das so gottverdammt schwierige Ringen um die richtige rote Linie.
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Beginn Samstag 19.00 Uhr, Ende Sonntag Schlag 01.00 Uhr. Sechs Stunden einschließlich 20 Minuten Pause: Frank Castorf in der Volksbühne Berlin. Wow!! Das dürfte sein persönlicher Rekord sein, mal abgesehen vom „Ring“ in Bayreuth. In meiner Erinnerung dauerte, lang ist’s her, höchstens Einar Schleefs politisch-fantastische, durch und durch grandiose Elfriede-Jelinek-Adaption „Ein Sportstück“ im Wiener Burgtheater ein paar Minütchen länger.
Durch und durch grandios ist Castorfs Anverwandlung des Malaparte-Romans „Kaputt“ nun nicht, doch gelangweilt habe ich mich nur gelegentlich. Das liegt schon an der Brisanz der verhandelten Themen sowie an diversen ästhetischen Finessen der Regie. Und am körperlichen Großeinsatz des ganze Textlawinen intus habenden Ensembles zu Wasser und zu Lande zwischen den Klippen, Ruinen und Massengräbern des alten Europas auf der sich drehenden Bühne – immer hart an Unfällen vorbei.
Der Deutschitaliener Kurt Erich Suckert alias Curzio Malaparte (1898-1957) war eine im Geistigen, Politischen, Künstlerischen und Sexuellen äußerst schillernde Figur – als Futurist, Romantiker, Expressionist, Mussolini-Anhänger, Faschisten-Verehrer, Kommunisten-Liebhaber, Maoist, Diplomat, schwuler Dandy, freiwilliger Kriegsteilnehmer WKI, Kriegsberichterstatter WKII. Und Malaparte, ein hoch Gebildeter, war Starautor. Sein 1944 erschienener Roman „Kaputt“, basierend auf seinen literarischen Reportagen sowohl von der Kriegsfront als auch von dahinter (in den Zirkeln der faschistischen Machteliten), wurde ein Weltbestseller. Wie später sein Roman „Die Haut“, aus dem gleichfalls gelegentlich zitiert wird.
Das sonderlich Faszinierende an diesem exotischen Exzentriker und ideologischen Irrläufer sind die weit ausholenden Assoziationen und philosophischen Exkurse ins Existenzielle, Menschheitliche, Zivilisationskritische. „Kaputt“ kreist um Religiosität (das Christentum, der Opfertod Jesu), um Barbarei, Überlebensgier und -not, um Angst und Trieb, um Macht, Ohnmacht, Mitleid, um Unschuld und Verderbnis. Es geht um die auf Gewalt bauenden gesellschaftlichen Systeme, um Visionen des kollektiven Zusammenlebens, ums Großartige wie Entsetzliche des Deutschen, ums Konstruktive wie Destruktive von Ideologien aller (sonderlich faschistoider) Arten sowie um die verheerenden Abstürze in die abendländischen Orgien der Massenmorde und Vernichtungskriege. Ein so brisantes wie geradezu unübersehbar riesiges Spektrum; äußerst akut bis heutzutage. Dafür sind sechs Stunden Theater, möchte man meinen, durchaus angemessen; auch wenn sehr vieles nur sehr vage angespielt wird. Und so heißt es denn auch im korrekten Titelverweis (warnend): „Kaputt – Tour de force européenne nach Malaparte von Frank Castorf“.
Dieser Ritt durchs alte Europa gleicht über weite Strecken einer Séance, die, das liegt in der Natur der Sache, nur bedingt fasslich bleibt. Allerdings mit dem Diskurs ums Christenkreuz, den Erzählungen von Pogromen, mit den Berichten übers Warschauer Ghetto, da gelingen Castorf tief unter die Haut gehende Momente. Und Szenen wie aus den Hauptquartieren der NS-Macht steigern sich in irre Komik. Gekonnt! Dann wieder fällt die mit Witz und Selbstironie getönte Inszenierung aus solchen konzentrierten Aufgipfelungen in Niederungen voller Gewusel und Gelaber. Wäre da nicht der (sagen wir: 90-prozentige) Einsatz von Videotechnik mit seinen aparten Bildqualitäten (gestützt von einem perfekten, stilsicher gemixten Soundtrack), die Inszenierung wäre streckenweise arg platt gewesen oder gänzlich abgestürzt ins Banale. Man hätte ohne Not aus der überlangen Tour eine Kurzstrecke machen können. In drei Stunden wäre wohl auch alles Wesentliche gesagt und gespielt.
Und so gilt auch diesmal wieder: Eine Castorf-Produktion für Kenner und Liebhaber der Materie, eine Show für Freaks mit Sitzfleisch (die Reihen lichteten sich nach der Pause), ein mit Unvergesslichkeiten durchsetztes Erlebnis für Leute mit Lust und Gefühl und Muße, sich einzulassen auf diese Tour de force aus packender Intensitiät, tollen Finessen und länglich vor sich hin trudelndem oder hysterisch aufgeschäumtem Leerlauf, der womöglich aber auch apart privatistische Spielerei des Regisseurs sein könnte, bei der wir unverschämterweise außen vor gelassen werden. Doch da bleibt der sympathisch rotzlöffelfreche oder eben nervend arrogante Castorf ganz cool.
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Als anno ‘89 die Ostler sich in Heerscharen aufmachten nach dem Westen, kam ein Westler in den Osten. „Ich bin Ronald M. Schernikau, ich komme aus Westberlin, bin seit dem 1. September 1989 DDR-Bürger, habe drei Bücher veröffentlicht und bin Kommunist“, sagte dieser schöne Mann mit schulterlangem Haar in seiner Rede auf dem letzten Schriftstellerkongress der DDR Anfang März 1990. Dann sagte er noch: „Die Dummheit der Kommunisten ist kein Argument gegen den Kommunismus.“ Und vorausschauend: „Wir werden uns wieder mit den ganz uninteressanten Fragen auseinanderzusetzen haben, etwa: Wie kommt die Scheiße in die Köpfe.“
Mit derlei Ansagen verschiss es der Dreißigjährige bei allen. Doch der aufstrebende Romancier (Literaturinstitut Leipzig, delegiert von der SEW), der verständnisvoll gefördert wurde von Ulbricht-und Goethe-Fan Peter Hacks (nur unter Diktaturen wachsen Dichter), der verehrt wurde von Elfriede Jelinek und befreundet war mit Gisela Elsner und Irmtraud Morgner, dieser West-Ost-Flüchtling war kein Stalinist, sondern nach eigener Anschauung die „Milva der deutschen Literatur“. Ein Paradiesvogel also, hochbegabt, hellsichtig und wie es sich gehört für eine exzentrische Diva, einigermaßen verrückt. Ronald M. trug Schnauzbart und Pumps, mochte Karl Marx, Heiner Müller, Marylin Monroe, Schlagermusik, knackige Kerle und gelungene Sätze. Und er starb mit 1991 mit 31 Jahren an den Folgen von Aids.
In den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin machten jetzt Dramaturg John von Düffel und Regisseur Sebastian Kraft aus diesem mutigen Außenseiter-Leben unter dem Titel „Die Schönheit von Ost-Berlin“ eine szenische Collage. Die Figur Schernikau wird aufgespalten auf vier Schauspieler, die dann das schillernd, zuweilen auch krachend Exotische dieser zerrissenen und doch so starken Künstlerexistenz prononciert ausstellen, freilich mit vehement spielerischer Virtuosität. Doch die hier allzu große Nähe zum Tunten-Trash verdeckt die unbedingt ernst zu nehmenden, die tragischen Dimensionen Schernikaus. Wäre da nicht die immer auf leise Art faszinierende Schauspielerin Margot Bendokat als dessen Mutter, die mit nüchternem Ernst von ihrem als zutiefst unglücklich empfundenen Ost-West-Schicksal erzählt (Flucht im VW-Kofferraum von Magdeburg nach Hamm zu Ronalds Vater, der dann beide sitzen lässt). Allein von ihr kommen die erschütternden Momente dieses ansonsten unangemessen frivolen Abends.
Schlagwörter: Carl Sternheim, Deutsches Theater, Frank Castorf, Jürgen Kuttner, Malaparte, Margot Bendokat, Querbeet, Reinhard Wengierek, Ronald M. Schernikau, Sebastian Kraft, SPD, Tom Kühnel, Volksbühne Berlin