17. Jahrgang | Nummer 24 | 24. November 2014

Verzerrte Selbstwahrnehmung

von Erhard Crome

In neueren psychologischen Studien heißt es, der Grad der Selbstüberschätzung gehe mit dem Ausmaß an Unwissen einher. Ob das auch für Karsten D. Voigt als Person gelten könnte, verbietet sich hier zu thematisieren. Etwas anders wird es, wenn man seinen Text (Das Blättchen 22/2014) als Ausdruck der Selbstwahrnehmung der deutschen „politischen Klasse“ nimmt. Die Rede ist von einer „neuen Phase der deutschen Ost- und Russlandpolitik“.
Im Forum des Blättchens wurde bereits moniert, dass Voigts Einlassungen ohne Widerspruch blieben. Nun muss nicht allem widersprochen werden, was so geschrieben wird, auch wenn man anderer Meinung ist. Und dass „der Geist der Zeiten […] der Herren eigner Geist“ ist, in dem „die Zeiten sich bespiegeln“, wusste schon Altmeister Goethe. Es ist nur folgerichtig, dass dieser Geist auch in einen kleinen Raum hineinschwappt, wie ihn Das Blättchen bildet, und da schwappt beileibe nicht nur Herr Voigt. Zugleich weiß man vorher, was man bekommt, wenn man einen „atlantisch“ sozialisierten ehemaligen Berufspolitiker der SPD beitragen lässt. Der eigentliche Punkt aber ist der, den André Brie einmal so formuliert hat: „Ohne die SPD gibt es keine linke Mehrheit in Deutschland – und mit ihr auch nicht.“ Deshalb ist es unter einer linken Perspektive sinnvoll und nötig, auch mit solchen Sozialdemokraten zu diskutieren, wohl wissend, dass es sich um deutlich differente Sichtweisen handelt – Alternative wäre ein pseudolinkes Sektentum, nur im Kreise der Brüder und Schwestern im Glauben die Schlechtigkeit der Welt zu bejammern, statt die Welt zu verändern.
Die verzerrte Wahrnehmung der Welt bei Karsten Voigt beginnt bereits bei der Geschichtsdarstellung. Die Rede ist von der „ersten Phase“ bundesdeutscher Ostpolitik mit Brandt und Bahr vor dem Hintergrund „der Mauer“ und der Kuba-Krise. Hier wähnt er: Die USA waren „nicht bereit, für die Freiheit Ost-Deutschlands und Ost-Europas größere politische Risiken einzugehen. Die USA nahmen den politischen und militärischen Status quo in Europa hin, ohne ihn formell zu akzeptieren.“ Das ist rein sachlich betrachtet völliger Unsinn. Der politische und militärische Status quo war der im Ergebnis des von Deutschland entfachten Zweiten Weltkrieges und des Potsdamer Abkommens Entstandene. Er war dort vereinbart. Wenn eine der Supermächte dies auf direktem militärischen Wege hätte verändern wollen, hätte das den atomaren Weltkrieg bedeutet. Das hieß, dass die Sowjetunion nicht 1948 in Griechenland intervenierte und die USA nicht 1956 in Ungarn. In Deutschland war es „die Mauer“, die den Status quo zementiert zum Ausdruck brachte, und in diesem Sinne war sie Voraussetzung von Entspannung und friedlicher Koexistenz, mithin auch der Brandt-Bahrschen Ostpolitik.
Zu den Bedingungen nach dem Ende des Kalten Krieges meint Voigt nun: „Es ging in der deutschen Ostpolitik nun nicht mehr um die kooperative Einhegung von Konflikten zwischen zwei prinzipiell gleich starken Machtblöcken mit gegensätzlichen Ideologien, sondern um unterschiedliche Grade und Geschwindigkeiten bei der ‚Verwestlichung des Ostens‘.“ Mit anderen Worten, der Westen versteht sich als Sieger der Geschichte – und mit Voigt spricht einer, der sich als Mit-Sieger ansieht – und es geht nicht mehr darum, ob der Westen sich auf den Osten Europas ausdehnt, sondern nur noch um das Wie und die Fristen. Der dann folgende Hinweis, dass es die alte Ostpolitik schon deshalb nicht mehr geben könne, weil etliche der früher realsozialistischen Länder nun Mitglieder von NATO beziehungsweise EU sind, ist richtig, weil das schon organisationssoziologisch Folgen hat: Ihre Einbeziehung in diese Organisationen macht die Zusammenarbeit zu einem Inner-Organisations-Thema, nicht mehr einem der Beziehungen zu anderen. Das beseitigt aber nicht das Problem, dass in einem Gesamt-Europa immer Beziehungen zu anderen zu gestalten sind, zuvörderst mit Russland. Die Osterweiterung hebt das Innen und Außen nicht auf, es verschiebt nur die Grenzen, und zwar nach Osten.
Zur derzeitigen Situation nun meint Voigt, das „Vertrauen in die russische Politik ist schwer erschüttert worden“. Auch nicht ein Hauch von Einsicht, die Osterweiterung von EU und vor allem NATO könnte das Vertrauen Russlands – das Gorbatschow 1990 als naives Vorschuss-Vertrauen eingeräumt hatte, ohne auf verbrieften Vereinbarungen im Gegenzug zur Zustimmung zur deutschen Einheit und vor allem zur NATO-Mitgliedschaft dieses Deutschlands zu bestehen – missbraucht und getäuscht haben. Statt dessen wird das Kapitel Osterweiterung unter der verheuchelten Rubrik „Werte und Prinzipien“ verhandelt, während Russland wieder ein altmodischer Kampf um „Einflusssphären“ unterstellt wird, als sei die NATO nur ein paradiesischer Geisteszustand und nicht tatsächlich eine sehr irdische Macht- und Raumordnung.
Aus der verzerrten Selbstwahrnehmung folgt eine verstiegene Forderung. Karsten Voigts Pointe ist die bekannte Position der westlichen Regierungspolitik, für neues Vertrauen sei „Grundvoraussetzung […] eine Änderung der Politik der russischen Führung“. Was die Deutschen vor Stalingrad nicht vermochten, soll nun eine gemeinsame Druck-Politik des Westens richten: Die Russen sollen endlich klein beigeben und sich aus der Weltpolitik verabschieden. Diesen Gefallen werden sie der westlichen Politik nicht tun.
Voigt vertritt die Regierungslinie, gemäß seiner atlantischen, das heißt an der US-Politik orientierten Perspektive vielleicht noch brutaler als andere. Allerdings zeigt das Geschrei der deutschen Medien (etwa in der FAZ am 20. November 2014) um die jüngsten Äußerungen von Matthias Platzeck, der als Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums für die Wiederherstellung guter Beziehungen mit Russland ohne Vorbedingungen plädiert, dass es auch innerhalb der SPD unterschiedliche Positionen gibt. Insofern ist Diskutieren mit Sozialdemokraten nicht von vornherein verlorene Diskursmüh.