17. Jahrgang | Nummer 23 | 10. November 2014

Die Politik der „Filzlatschen“ und Egon Bahr

von Hans-Dieter Schütt

Egon Bahr. Der Freund. Gaus’ wirklich tiefempfundener Freund. Der am prägnantesten den ostpolitischen Strang verkörperte. Wandel durch Annäherung? In den propagandistischen Küchen der DDR nannte man das eine sozialdemokratische „Aggression auf Filzlatschen“. Das war das Frostvokabular, das alles Feindesdenken frisch hielt. Wo Diplomaten notgedrungen und vernünftig und taktisch beflissen die Wirklichkeit verhandelten, da verteidigte die innerkirchliche Dogmatik weiter jene seltsame Dialektik, die letztlich aller DDR-Ideologie zugrunde lag: Immer hat marxistisch-leninistisches Denken die Lehre von der Schuld der anderen zu bleiben, und es gibt über jede Sache zwei Ansichten – unsere und eine falsche.
Bahrs zahlreiche Kontakte zum SED-Führungsapparat, so irritierend vertraulich sie auf weltanschauliche Hardliner wirken mochten – sie schienen uns doch auch im Machtbewusstsein zu bekräftigen. Ja, dieser Mann agierte nicht nur mit Tabakspfeife, sondern auch ungewollt – so meinten wir – mit Betonkelle, bei der wir ihm gleichsam unsichtbar die Hand führten: Denn wenn einem Funktionär der Partei oder des Jugendverbandes in irgendeiner politischen Runde alle Argumente ausgegangen waren, diese späte öde DDR zu verteidigen (die Bedrängung geschah im Laufe der uns wegrennenden Zeit immer öfter!), dann blieb als letztes Argument, auf jene zahlreichen Politiker des Westens zu verweisen, die sich in der Nähe Honeckers doch wohl aus gutem Grunde die Klinke in die Hand gaben. Bahr, auf sogenannter Arbeitsebene, ganz vorn mit dabei. Und Gaus sogar als rechter Sitznachbar Honeckers im schneeumlegten, geheizten Protokollzelt der höfischen Staatsjagdgesellschaft (links neben dem SED-Generalsekretär der sowjetische Botschafter Abrassimow). Bei Wildsuppe und erhobenem Gläschen. Gaus wie Bahr: Architekten einer bundesdeutschen Ostpolitik, deren mögliche Risiken und Nebenwirkungen die Grabenhüter mit dem bereits beschriebenen Argwohn betrachteten, zugleich aber eben: ein willkommener Joker zum Stabilisieren sozialistischer Selbstüberschätzung. Und also waren ausgerechnet und in spezieller Weise dieser Bonner Egon Bahr und auch sein „Ostberliner“ Freund Gaus und andere bisweilen die tröstliche Verdrängungshilfe in einer – im wahren Sinn des Wortes – sich mehr und mehr verflüchtigenden DDR.
Die Sinnverkapselungen und daher verkrampften Windungen der SED- Propaganda nahmen im Kalten Krieg zu, gegen eine sich zunehmend öffnende Welt; man kann es, von heute aus gesehen, das unterirdische, noch bewusstlose Grollen der Globalisierung nennen, dem man sich entgegenstemmte, und der erfolgreiche SPD-Politiker Bahr verstärkte jene Not, in die der „Sozialismus“ zusehends geraten war: Mit der geschickten sozialdemokratischen Loyalität gegenüber der DDR, die uns außenpolitisch schmeichelte und aufhalf, sickerten doch zugleich Auflösungsstoffe ins ideologisch festgezurrte Staatsinnere. Wie das eine genießen, ohne das andere hinnehmen zu müssen? Der perfekteste Spagat im Stadium der größten Verkalkung, das war unser eigentlicher Beitrag zur olympischen Geschichte des Turnens! Nur mit stärkstem ideologischen Doping zu bewältigen.
Bahr übrigens stand selber, als junger Journalist, an der Wiege ostdeutscher Propaganda. Er war bei der „Berliner Zeitung“ einer der Mitarbeiter unter der Ägide von Rudolf Herrnstadt, dem späteren ND-Chefredakteur. Stalinisten würden diesen Vollblut-Zeitungsmacher aus der Partei jagen. Herrnstadt! Wie er die „Berliner Zeitung“ aufbaute, so lungenkrank wie unbesieglich im Arbeitsfeuer. Sein Vergehen: Er hatte die Unkultur der Funktionärskaste aufgestört, zu der er doch selber gehörte, er verachtete jene Unbildung, die sich an die Spitze der Arbeiterbewegung gesetzt hatte. Allein, wenn er die Arroganz von Ulbricht und Co. hernahm: Nicht mal Russisch hatten sie in ihrer Emigration gelernt, die eine Emigration der trockenen Versammlungen und „Theorie“-Paukerei geblieben war. Herrnstadt hat eine Zeitung nicht geleitet, er hat sie gelebt. Er band Kräfte und setzte sie frei. Er war ein Beispiel dafür, wie man Raubbau an sich selber betreiben, aber total glücklich sein kann. Es gibt einen grandiosen Satz über ihn, von seiner Tochter und Biographin Irina Liebmann, da haben wir das ganze Talent, die ganze Gefahr, die ganze Kunst, das ganze Spiel: „Er hat gern übertrieben, wenn der Satz davon besser wurde.“ Dazu passt auch die Erfahrung eines dreiundzwanzigjährigen Mitarbeiters, der schreibt aus dem Nichts eine hinfantasierte Aufbau-Reportage vom Alexanderplatz, er trägt fett auf, „tief in die Harfe greifend, es dampfte richtig!“, so der Autor später selber – sein Chefredakteur Herrnstadt ist begeistert, ja, sagt er, so sei das Leben. Nein, denkt der junge Egon Bahr, der Autor dieser Lügengeschichte, nein, so ist das Leben eben nicht, „aber diese Leute, auch die besten, fühlten sich offenbar bedrängt vom realen Leben und tilgten es daher“! Und er betritt nie wieder die Redaktion.
Nach 1989 tauchte in Interviews und auf Podien auch wieder dieser Egon Bahr auf, von Beginn der neuen, erweiterten Bundesrepublik an ein Mann scheinbar aus anderer Zeit; er wurde – erneut analog zu seinem Freund Gaus – zum kritischen Bedenker neudeutscher Verhältnisse und deren ungesunder Rasanz. Er, der die DDR mit zerbröselt hatte, indem er sie ernst nahm – auch er musste nun gleichsam mit dem nachträglichen Vorwurf des „Vaterlandsverräters“ fertig werden, denn die SPD, so hieß es bei der CDU und einstigen DDR-Oppositionellen, habe das System der SED auf unzumutbare Weise stabilisiert und verlängert. Bahr war da wieder angekommen in jener ihm sattsam bekannten CDU/CSU-Kampagne aus früheren Jahren, die sein Parteifreund Hermann Scheer als „Smog hemmungsloser Denunziationen“ bezeichnet hatte. Auch Gaus erfuhr ja diese Verdächtigung; zwei Journalisten, zwei Diplomaten im SPD-Dienst – der eine in der Fessel jener noblen Eitelkeit, die noch gröbste Verletzungen in Stil umzulenken wusste, der andere, Bahr, von direkterem lyrischen Geblüt: „Die sollen mich am Arsch lecken!“
In hartnäckiger Streitlust entwickelte Bahr im vereinten Deutschland das, was Gaus ebenfalls betrieb: Er differenzierte; auch einstige SED-Strikte durften sich in solcher Betrachtung aufgehoben fühlen. Welchen Einfluss würde das haben auf deren doch so dringend nötige Selbstkritik, auf ihre erforderliche hochnotpeinliche Selbstbefragung? War es nicht gefährlich beschwichtigend für die eigene Gewissensforschung, nun anstrengungslos einen Anwalt ausgerechnet in jenem Manne sehen zu dürfen, den man einst als filzlatschenden Aggressor bezeichnet hatte? Bahr und Gaus stritten sich bald mit der einstigen DDR-Opposition und warnten vor einer Umwandlung von Bürgerrechtlern in „Bürgerrächer“ (wie Friedrich Schorlemmer eifernde Vertreter der eigenen politischen Gilde nannte). Dies weckte das inzwischen arg verängstigte Selbstbewusstsein von einstigen SED-Funktionären auf befürchtete Weise: War doch alles nicht so schlimm, und keiner habe doch keinem geschadet, und endlich müsse ein Schluss- Strich gezogen werden. (Am besten von den Tätern selbst!) Es geschah also, was allzu oft geschieht, wenn Täter zur Milde eingeladen werden. Es geschah, was der Aphoristiker Horst Drescher notierte: „Menschen, die man auf dem Gewissen hat, bleiben einem irgendwie unsympathisch; unsympathisch auch dann noch, wenn man ihnen sozusagen schon lange verziehen hat, dass man sie auf dem Gewissen hat.“ Großmut und Barmherzigkeit, das ist für einen Menschen, der einen Zuständigkeitsschmerz zu verwalten hat, ein großes Glück, aber auch eine große Gefahr: weil einem erspart bleibt, was das Bitterste und doch Heilsamste ist – sich endlich auch mal anders erinnern zu müssen, als einem lieb ist.
Eines Tages sah ich Bahr bei einem Fernsehgespräch mit der Bürgerrechtlerin Marianne Birthler, kurze Zeit darauf eine erneute TV-Debatte, diesmal Marianne Birthler und Gaus. Unübersehbar eine gewisse sphärische Störung zwischen ihr und den beiden Männern. Ich weiß nicht mehr die Details des Streits, auf jeden Fall ging es um DDR, Unrechtsregime, Stasi: kurz, um die Vergangenheit in der Gegenwart. Auch um Versöhnung zwischen Tätern und Opfern, ja, aber: um Versöhnung in der Wahrheit. In der Wahrheit, sich zu Verstrickungen zu bekennen, bevor die geschreddert geglaubten Akten unerwartet auf dem Tisch liegen. Wahrheit, bevor man einen Posten im neuen öffentlich-gesellschaftlichen Hierarchiegefüge antritt. Wahrheit im Bekenntnis zu all den Gründen, warum man in aktivem Einverständnis mit dem einstigen Regime gelebt hatte.
Wieder war bei Bahr und Gaus jene sture Gelassenheit der Routiniers zu beobachten, die aus dem größeren Zusammenhang kommen, aus gelebtem Vertrauen in die Ausgewogenheiten, aus einer berufsbedingten Fähigkeit, das schreiend Gegensätzliche einer politischen Lage geradezu körperverträglich zusammenzudenken. Sie sahen die DDR als Modellfall, von dem sofort auf bundesrepublikanische Verhältnisse umzuschalten sei: Wie steht es denn hierzulande um Schnüffeldienste, um Anpassungsstrategien, um Minderheitenrechte? Und sind die Akten nicht ebenfalls ein Lügenwerk, von dem allein doch keinesfalls auf einen ganzen Menschen zu schließen sei? Marianne Birthler nahm die DDR nicht als Modellfall, sondern als Erfahrung. Sie dachte nichts an allgemeiner Gegensätzlichkeit der Dinge zusammen, sie äußerte sich als Vertreterin einer einzigen Widerspruchsseite, war daher entschlossen einseitig und polemisch festgelegt.
Zu den jeweiligen Sendungen gehörte die Wahrnehmung, dass Bahr innerlich abschaltete und Gaus lächelte. Frau Birthler verstand ich an diesen Fernsehabenden eher als Bahr und Gaus. Wo beide Westdeutsche aus den öffentlich gewordenen Stasi-Untaten Lehren ziehen wollten für den zukünftig verbindlicheren Schutz der bürgerlichen Freiheitsrechte im demokratischen Staat (angesichts von Lauschangriffen und NSA wissen wir heute besser, was sie anmahnten) – da warnte Birthler vor der Gleichmacherei aller Schuld, vor der Übertragbarkeit sämtlicher politischer Kriminalität immer gleich auf alle Verhältnisse. Denn triebe man das auf die Spitze, geriete man zur unbestreitbaren Wahrheit einer allwaltenden Bösartigkeit von Macht – und wäre also absehbar unfähig, überhaupt noch eine einzige moralische, politische Verwerflichkeit eines Regimes hervorzuheben und ein Urteil darüber zu fällen.
Die DDR gibt es nicht mehr, aber ihre einstigen Bürger – und niemand kann hier wirklich schützend eingreifen – müssen das Los einer politisch konjunkturellen Bewertung ihres bisherigen gesellschaftlichen Lebensraumes ertragen. Ertragen durch Selbstprüfung: Betrifft mich ein wie immer geartetes und motivierte historisches Urteil oder nicht? Wissend darum, dass jedes Leben reicher ist, als eine Tendenz festlegen möchte. Bei jeder öffentlichen Urteilsmacht über ein gestorbenes System, die von politischen Interessen nicht zu trennen ist, wirbeln Wahrheit und die Lüge, die humane Vorsicht auf gelebte Existenzen und eine kalt bilanzierende Forschheit rücksichtslos durcheinander. Eine einzelne Biographie reicht niemals aus, um in der Gewissheit aus dieser Welt scheiden zu können, man habe selber alles Erfolgreiche getan und es also erreicht, dass man ausnahmslos gerecht beurteilt werde. Es gibt diese Gerechtigkeit nicht. Aber niemand kann eine Biographie stehlen! Und der Deutsche beginnt keineswegs erst im Westdeutschen…
Erwähnte Fernsehinterviews schienen Ausdruck des Konflikts zu sein, in den die Funktionen von Bahr und Gaus eingebettet waren. Den alten Spruch „Teile und herrsche!“ hatte die SPD in Richtung DDR so modifiziert: Teile den fremden Standpunkt und herrsche somit! Die Sozialdemokraten hatten die SED gewissermaßen so geschickt kritisiert, dass die sich nicht zu brüsker Verweigerung genötigt sah. Gut und richtig. Allerdings klingt es schon seltsam, wenn die SPD 1977 forderte, die innerdeutsche Grenze müsse ihren „überpräventiven“ Charakter verlieren – dieser fantasievolle Ausdruck stand anscheinend für „Schießbefehl“. Nach außen hin, und das konnte in Berlin schon der Prenzlauer Berg sein, musste solche Diplomatie tatsächlich zwangsläufig als unbotmäßige Anbiederung gegenüber den Kommunisten erscheinen. Wer in dieser Republik unglücklich lebte – und „was weiß ein Fremder“ (Peter Handke), wie und womit eine jede Seele ihr Unglück definiert! –, der konnte kaum Muße für den langen Bahrschen oder Gausschen Atem aufbringen, nein, der musste auf seine Ungerechtigkeit gegenüber verhandelnder Politik bestehen und auf seiner Ungeduld beharren, alles triste ummauerte Leben endlich loszuwerden. In einer Rede in München, 1988, hat Martin Walser darüber gesprochen, dass das, „was man im Zeitungsstil die deutsche Teilung nennt, in Wirklichkeit die Teilung Deutschlands“ ist. Gebaut worden sei die Mauer „durch die Welt-Politik“. Überwunden aber habe sie „das Volk, das die manifest gewordene Illegitimität des DDR-Regimes mit den richtigen Handlungen beantwortet hat. Und die Kraft dazu kam aus dem Geschichtsgefühl dieser Menschen.“
Geschichte und Gefühl? Ja, sagt Walser: „Eine Zugehörigkeit muss man erleben, nicht definieren. Auch die Zugehörigkeit zu einem Geschichtlichen hat man nicht zuerst als Erkenntnis parat, sondern als Gefühl. So kommt es – wenigstens bei mir – zu einem Geschichtsgefühl. Frage sich jeder selbst, ob er, wenn er versucht, das Wort Nation zu definieren, nach dem Definieren mehr weiß, als er vorher durch Empfinden wusste. Ja, wusste: Man kann nämlich durch Empfinden wissend werden.“ Walser teilt nicht die traditionell linken Ängste vor dem Nationalen. Der Schutz heiße Europa. Und wer Auschwitz gewissermaßen für wiederholbar halte, der leugne eine ganz wichtige Möglichkeit der Besinnung: „Wenn auch das Entsetzlichste, wozu es kommen kann, erkennbar wird als eine Folge, die aus erkennbaren Ursachen stammt, dann ist mehr getan, als wenn man einer Gesellschaft die Schuld als etwas Absolutes einbleut. Wenn aber sicher ist – und sicherer als das ist nichts –, dass wir in europäischer Aufgehobenheit vor gar allem, was uns je passierte, bewahrt sind, dann ist nicht einzusehen, warum wir jetzt keine Nation mehr sein sollten.“
In einer TV-Talkshow, im Februar 1989, wiederholte Walser seine Auffassungen, Günter Gaus war ebenfalls Teilnehmer der Runde, Walser erinnert sich im „Spiegel“, drei Jahre nach der Wiedervereinigung: „Gaus nannte meinen Standpunkt oberflächlich und platt (…), er zitierte, dass ich in meiner Rede gesagt habe, ich wolle in Leipzig und in Dresden ins Theater gehen können. Aber das könne ich doch, rief Gaus. Ich erinnerte daran, dass ich aber auch gefordert habe, die Leipziger müssten genauso in Stuttgart ins Theater gehen können. Es half nichts. Ost- und Westteilnehmer erledigten mich unisono. Die sprachen alle im Namen von so herrlichen Positionen wie Internationalismus, Vernunft und Aufklärung.“ Die Beschimpfungen immer im Namen des Ehrwürdigsten.
„Einige Intellektuelle rechnen jetzt gerne und fortwährend aus“, so Walser, „von welcher Menge an Deutsche eine kritische Masse sind. Das ist ein physikalisch-moralisches Pseudo-Verfahren, das mir vollkommen unmenschlich vorkommt. Hunderttausende im Osten haben für ein besseres Leben demonstriert. Ihnen das Motiv zu einem Konsum-Motiv zusammenzustreichen und sie zu Schubkräften einer neuen nationalen Gefahr herunterzudeuten, das ist, wenn ein überversorgter Westler oder ein ehedem systemverträglicher, mit allen Reisefreiheiten privilegierter Ostler das tut, fast gruselkomisch.“
Gaus reagierte auf den Schriftsteller, im „Freitag“. Er räumte zunächst ein, dass das Niveau der Münchner Rede von Walser in der benannten Talkshow niemand erreichen konnte. „Wer kommt schon zu Wesentlichem in Talkshows?“ Dann aber die Breitseite gegen des Schriftstellers Vorschlag, die Leipziger sollten doch in Stuttgart ins Theater gehen dürfen: „Nicht die Kühnheit dieses Verlangens (aus westdeutschem Mund im westdeutschen Fernsehen: mannhaft, mannhaft?) konnte einem die Rede verschlagen, wohl aber die Ungeniertheit, mit der es als Argument, als Beleg einer höheren Gesittung und Moral gar benutzt wurde. (Und jetzt noch benutzt wird.) Bedenkenlose Agitatoren, die so verfahren, spekulieren auf die Schlussfolgerung ihrer Zuhörer: Wer die Plattitüde nicht ausspricht, ist ein Schweinehund. Intellektuell ist das unappetitlich, in der Breite jedoch wirkt es.“
Auch wenn Gaus hier betont relativierend verfährt („ausweislich seiner Texte ist Walsers Gefühlswelt reicher ausgestattet als sein Intellekt“): selbst noch in dieser Relativierung wieder ein Hieb – und dann erneute Polemik gegen alle, die nicht in gleicher Weise wie Gaus diplomatischen Zielsetzungen und Zwängen unterworfen waren.
Was Gaus, aus seiner gewesenen Position als Unterhändler heraus und als Rationalist des geschichtlichen Verständnisses, zu verteidigen das Recht hat – es diskreditiert freilich einen freien, unabhängigen Geist, der sich darin erweist, dass er auf die Realismen des politischen Geschäfts keinerlei Rücksicht nimmt. Gaus vermutet, dass Walsers „Heilssuche in der platten Selbstverständlichkeit – dem Wunsch, Leipziger sollen ohne weiteres nach Stuttgart fahren können – nicht agitatorischem Kalkül entsprang, sondern dem Willen zur Einfalt. Darin liegt die Unschuld der Stammtische, die es bekanntlich in jeder sozialen Schicht und auch jeder Auflagenhöhe gibt: Was tut man an ihnen denn mehr, als dass man die Wirklichkeit gering schätzt? Als dass man ihr den Abstand zum Gewünschten zur Last legt und nicht den Wünschen? Als dass man vom schnellen Flug der Träume herab- sieht auf die Schwerfälligkeit der Mühen, die Wirklichkeit zu verändern? Mehr ist es im Grunde doch nicht, was an Stammtischen, mal gröber, mal feinsinniger, ins Wort drängt.“
Unfreiwillig gab Gaus hier auch eine Definition dessen, was Kunst darf und soll. Just mit dem, was er da in kritische Fragen kleidet, kriechen wir doch in ein Gedicht, in die Gebilde aus Farben, Formen, Tönen, Worten hinein. So wie der Organismus im Schlaf nach dem Produzieren von Träumen verlangt, vielleicht um sich am Leben zu erhalten, so braucht das Bewusstsein das Erfinden von bedenkenlosen Visionen, um sich ein Gegengewicht zum pressend Geordneten zu schaffen.
Gaus versus Walser. Ein Streit, vergröbert gesagt, zwischen Politik und Kultur? Tadelsüchtig? Vorwurfsgesättigt? Ein Unterschied sei aufgemacht: Kultur sucht nicht nach Frieden, Politik dagegen hat die erste Pflicht zum Frieden. Kultur darf Gewalt denken, Politik muss Gewalt verhindern. Kultur drängt auf Erlösung, was seelenkräftigendes Leiden und grenzensprengende Lust einschließt, Politik jedoch darf niemals (wieder) an den Gedanken der Erlösung gebunden sein, sondern nur an den Geist der Linderung. „Wir brauchen die abenteuerlichen Wahrheiten der Kultur und die nüchternen Wahrheiten einer abgemagerten Politik“, schreibt der Schriftsteller Rüdiger Safranski.
Walser darf abenteuerlich denken und empfinden, Bahr und Gaus durften es nicht, und sie haben sich, mutig genug, nicht abbringen lassen. Denn, so Gaus in einem Artikel von 1992 zu der Anschuldigung, auch der brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe sei in seinen Kontakten zur SED-Führung zu weit gegangen: „In solchem Vorwurf steckt die Forderung, der Unterhändler habe sich auf mehr als ein bisschen Schwangerschaft nicht einlassen dürfen. In der verlangten Praxis hätte das bedeutet: Stolpe eröffnet das vertrauliche Gespräch mit einer feurigen Beleidigung der Überzeugungen seines Gegenübers; setzt dann im glatten Gang durch, weswegen er gekommen war, ohne die Bedürfnisse der anderen Seite zu berücksichtigen, und beendet sein diplomatisches Werk mit dem Götz-Zitat, das er Honecker ausrichten lässt. Das freilich ist ein Politikverständnis, vor dem die Welt erzittern muss.“
Gaus schreibt hier indirekt über ein grundsätzliches Problem des Frontlinienverhaltens in gespaltenen Gesellschaften. Die Geschichte des DDR-Zusammenbruchs bleibt, neben den außerordentlich entscheidenden ökonomischen und außenpolitischen Aspekten, zuvörderst eine Geschichte des wie immer motivierten und gesteuerten Bürgermutes jenseits von Staatspartei und Parteistaat. Wer diese Couragiertheit noch heute als Feierabendrevolution belächelt oder relativiert, mit zumeist klarer Denunziationsabsicht gegen Bürgerrechtler und ebenso klarer Aufwertungsabsicht von DDR-Grundverhältnissen, der muss sich die Frage gefallen lassen, warum das Regime denn bis zu jenem Wendeherbst gegenüber diesen angeblich so überschätzten Bürgerbewegten derart große Feindfurcht und hassgesteuerte Kontrollwut entwickelt hatte.
Nur: Der Widerstand gegen die ideologische Starrheit des SED-Systems, der den ummauerten Staat schließlich sprengte, er speiste sich keineswegs bloß aus den Kräften der direkten Opposition. Wer die Kategorie des Politischen innerhalb einer Widerstandskultur nur an den ausdrücklichen Zweck bindet, das Regime möglichst direkt zu treffen, unterschätzt Verhaltensspielräume und verkennt die eigentlichen Machtstrukturen auch des DDR- Staates. Wenn lediglich der heroische Akt gegen das Regime als politischer gewürdigt wird, so liegt dem eine Optik zugrunde, in der die herrschende Macht als monolithisch begriffen wird. Das behauptete Monolithische aber entzieht dem Umstand, dass die DDR so sang- und klanglos, so überaus biegsam und geschmeidig unterging, seine Logik. Es gab eine komplizierte Verflechtung direkter Dissidentenschaft mit jenen Menschen, die in grundsätzlicher Übereinstimmung mit den Zielen und Mechanismen des Systems für eine Erneuerung der politischen Praxis eintraten, und die dafür im ständigen Widerstreit von Einsicht, offener Kritik und versteckten Winkelzügen aufrecht und loyal zugleich zu leben versuchten. Zahlreiche SED- Mitglieder und auch -Funktionäre, gefangen zwar im geistigen Korsett ihrer Sozialismusfiktion, wirkten doch zu Teilen mit an jenem Resonanzboden, der die plötzlich eruptiv ausbrechenden oppositionellen Erschütterungen des Jahres 1989 aufnahm und sie verstärkte. Auch wenn man nach wie vor staunen darf über die unerwartete Revolutionierung dieser Millionen-Masse. Denn „alles in allem“, so Gaus, „ermattete, erschöpfte das Regime im Laufe der Jahre die Mehrheit der Bevölkerung eher, als dass es sie durchgängig trotzig werden ließ.“
Bahr und Gaus haben ostpolitisch gearbeitet an den Schnittstellen von Pragmatik und neuem Bewusstsein. Sie haben Realität genommen, wie sie ist, und im Zeitgefühl fürs Mögliche doch Impulse einzubinden gewusst, die das bestehende Denken erweiterten. Der eine wie der andere stand konträr zu einem westdeutschen Massenbewusstsein, aber nicht, weil beide es missachteten, sondern weil sie es in zweckdienlicher Zuspitzung, durch bedachtes Aufrühren und Provozieren zu verändern suchten. Gaus schätzte an Bahr, wie der als Diplomat aufreizend undiplomatisch sein konnte – in seinem kalkulierten Ehrgeiz, besagtes Mehrheitsbewusstsein in Westdeutschland zu er- spüren und es zur Grundlage für eine Politik zu machen, die über den öffentlichen Streit Wahlmehrheiten herstellt. Bahr wirkte in Regierungen und Parteispitzen, die es noch als Ehrenpflicht ansahen, mit ihrer eigenen Arbeit auch eine wirklich schlagkräftige Opposition zu befördern – gegen die zu kämpfen das eigene Niveau bestätigte und festigte. Und Bahr staunte über einen Gaus, der auf seinem Posten in Ostberlin die gleiche Fähigkeit offenbarte, ohne doch je in eine Schule des politischen Pokers gegangen zu sein. Bahrs (wie Gaus’) Lebenswerk war eine Setzung gegen das Übelste, das wir von der Geschichte haben: den Enthusiasmus, der mit ihr verbunden ist. Er schlägt den Menschen meist mit Blindheit – Enthusiasmus hindert uns, aus Geschichte zu lernen. Aber die Leier, dass wir aus der Geschichte nichts lernten, stimmt auch bloß als ein logischer Trick: indem diese Behauptung unzweifelbar unterstellt, dass wir anderswo sehr wohl lernten. Allein, es steht auch da nicht besser: Wir lernen nichts aus der Gegenwart, wir lernen nichts aus der Physik und auch nichts aus der Religion, wir lernen nichts aus der Kunst und nichts aus dem Sport. Das heißt: Wir lernen nichts aus den Leistungen anderer und erst recht nicht aus den eigenen Fehlern. Es sei denn, wir haben wahrhaft Lust am Denken. Wer diese Lust hat, stößt sich selber aus der Bequemlichkeit – und lernt dann immer und überall: aus der Betrachtung der eigenen Fingernägel wie aus dem Blick in den Sternenhimmel; aus einer Gewehrsalve wie aus dem Spiel zweier junger Hunde; aus der Stimme der Marilyn Monroe wie aus den Schriften des Aristoteles. Aber warum dann nicht, bitte, auch aus der Geschichte?
Weil wir lernen müssten, dass wir gar nichts lernen – wollen.
Im Oktober 2001 schrieb Botho Strauß einen bösen Gedanken auf: „Ein panislamisches Reich vom Sudan bis nach China: Hätten wir es schon! Ein kalter Krieg wäre wieder möglich. Bedrohungspotenziale. Waffenruhe.“ Dieser hochgemute Zynismus verweist auf jene Balance der Ängste, die allein, so paradox es klingen mag, die Angst vertreibt. Der Kalte Krieg war die Hoffens-Hoch-Zeit von Bahr und Gaus. Es war der illusionsfreie Raum, in dem allein eine friedensförderliche Politik möglich schien; das höchste Ziel dieser Politik: die Gaussche Pause zwischen den Katastrophen. Mehr eben nicht. Keine Geschichte, ob mit oder ohne Mantel, nein, einfach nur: Pause. Atemholen und leben. Rasch! Denn den Pausen ist nie eine lange Zeit beschieden, wir haben schließlich Größeres vor. So steht es mit uns nach den Jahrtausenden, in denen wir durchaus Zeit hatten, auch andere Erfahrungen mit uns zu machen.

Aus: Hans-Dieter Schütt: Günter Gaus. Von den Hoffnungen eines Skeptikers, dietz, Berlin 2014, 175 Seiten, 16,90 Euro.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages.