von Heino Bosselmann
So begann die Kinderhymne von Brecht und Eisler, die mancher Illusionist der kurzlebigen und vermeintlich bürgerbewegten Nachwende-DDR gern als richtige, eigentliche Staats-Hymne zugewiesen hätte. Aber das Land war da schon nicht mehr als ein Beitrittsgebiet, eine Konkursmasse, Terrain für die Landnahme der neuen Lokatoren.
Zur DDR musste man ein persönliches Verhältnis haben. Notgedrungen, zwangsläufig, wohl oder übel. Sie drängte sich einem unweigerlich sehr distanzlos auf. Mit Hartmut König forderte sie wie eine eifersüchtige Frau permanent: „Sag mir, wo du stehst!“
Unbedingt wollte sie genau das sein, was die Bundesrepublik – spätestens seit die DDR übernommen, akkumuliert und treuhänderisch abverkauft war – gerade nicht sein wollte: eine Nation nämlich. In diesem Anspruch gebärdete sie sich so radikal wie neurotisch, ja zuweilen gar peinlich, sah sie sich doch als Vollenderin und Vollstreckerin deutscher Geschichte: Vom Stedingeraufstand über den Bauernkrieg, von der März- bis zur Novemberrevolution lief die Geschichte, hieß es, als „Geschichte von Klassenkämpfen“ zielgenau auf das kleine Land zu, dorthin, wo angeblich endlich, endlich der Verrat endete, an dem alle bisherige Kämpfe noch immer gescheitert waren. Meinten die Geschichtslehrer.
Während für diese Teleologie zum Schluss noch Luther und Friedrich II. von Preußen rekrutiert wurden, saßen im Westen, hieß es, die Verräter und Spalter. Dass in den Siebzigern zwei sozialdemokratische Kanzler regierten, passte den Kommunisten ins Bild – von 1918 her, der Novemberrevolution, dieser einzig echten des 20. Jahrhunderts, die „die Ebert und Scheidemänner“ auf das Level einer bürgerlich-demokratischen Umwälzung heruntergebremst hatten, wo doch ein Räte-Deutschland möglich gewesen wäre. Zum Glück, meint man, kam es nicht so weit. Zu viele Konjunktive. Liebknecht und Luxemburg fielen den reaktionären Freikorps zum Opfer. Feiger Mord, nichts anderes. Aber wie vielfach hätten die Leninisten, Trotzkisten. Stalinisten gemordet? Weder Liebknecht noch Luxemburg würden denen ins Konzept gepasst haben.
Zurück zur tragischen DDR: Sie war so froh, über die Hälfte Berlins zu gebieten, darunter über das Zentrum als historischem Sakralort. Man integrierte das Portal VI des Hohenzollernschlosses, vor dessen Balkon Liebknecht am 9. November 1918 die sozialistische Republik ausgerufen hatte, in Honeckers Staatsratsgebäude. Und man hatte außerdem Weimar – mit Klassik und Buchenwald, um daran zeigen zu können, woher man käme und wogegen man stünde. Walter Ulbricht 1958: „ Wenn ihr wissen wollt, wie es weitergeht, dann lest Goethes ‚Faust’ und Marx’ ‚Kommunistisches Manifest’. Dann wißt ihr, wie es weitergeht!“ – So einfach.
Wie freute man sich der Anerkennungswelle nach dem Ende der Hallstein-Doktrin! Und dachte schon, es wäre vollbracht.
Was wirft ein Hineingeborener dem Land vor, dem aus historischer Perspektive und aus dem Abstand heraus sehr komfortabel alles Mögliche vorgeworfen werden kann? – „Versorgungsengpässe“ gar nicht, denn bei meiner Bedürfnislage verspürte ich keine. Ich hatte keinen „PKW Trabant“ bestellt, sondern fuhr ein hervorragendes DIAMANT-Sportfahrrad aus Karl-Marx-Stadt.
Dass die DDR eine krasse Staatsräson entwickelte, erschien mir, halten zu Gnaden, rational nachvollziehbar, gerade weil mir deren Opfer in den Siebzigern nicht unmittelbar gegenwärtig waren. Wir verfolgten eher, welche Blutspur die USA durch die Welt zog, als Beispiel für westliche Demokratie schlechthin. Und die anderen Deutschen waren mit denen im Komplott. Für einfache und eingängige Argumentationen reichte das.
Als Sechsklässler war ich von der Biermann-Ausbürgerung irritiert. Wäre ich älter gewesen, hätte mich das schockiert. Wäre die DDR älter geworden, wäre ich mit mir selbst und mit dem Land in größere Schwierigkeiten geraten, als das bis ’89 dann ohnehin der Fall war. Ja, viele Konjunktive …
Das Land befand sich in einem „kausalen Nexus“ der eigenen Art. Es ist ohne das Jahr 1945 und ohne den Kalten Krieg der Großmächte gar nicht zu denken. Die Darstellung, es handelte sich um ein isoliertes, autonomes, nonkausal existierendes Homeland, in dem weltanschaulich degenerierte und manipulierte Restdeutsche Russisch lernten, Stasibüttel und Mauerschützen aufzogen und sich bewusst der allein seligmachenden Demokratie und deren Marken-Discountern verweigerten – sieht man mal vom 17. Juni, all den Flüchtlingen und von der Bürgerbewegung ab –, ist in etwa das von den Geschichtsbüchern und der politischen Bildung vermittelte Bild.
Sicher ein biographischer Nachteil, dass ich keine Bürgerbewegten und Widerständler kennengelernt hatte, jedenfalls nicht solche, die diese Bezeichnung verdienten. Wie immer gab es erst nach dem Zusammenbruch eine solche Menge davon, dass man andauernd welche traf. Ulkigerweise insbesondere unter meinen Kollegen Lehrern, die so wie gestern noch die „führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei“ heute schon die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland als Höchsterrungenes zu preisen wussten.
Ich werfe der DDR vielmehr vor, dass sie, vermeintlich „sozialistisch“, im Ideellen, im Geistigen, im „Überbau“ so wenig Größe offenbarte, sondern – im Gegenteil – mehr Angst als Vaterlandsliebe. Daher die würdelose Zensur. (Die andererseits jedem zu Wichtigkeit verhalf, der von ihr betroffen war, selbst solche, die literarisch oder künstlerisch wenig zustande brachten.)
Ich werfe der DDR die Peinlichkeit vor, dass Lehrer und Professoren, die es besser wussten, ihren Schülern und Studenten zwar einerseits elementare Kulturtechniken beizubringen verstanden, sie aber in der Ausbildung von Urteilskraft im Stich ließen, indem sie sie aufs schlimmste belogen, mindestens mit Blick auf die Geschichte – selbst dann noch, als die Leichen im Keller schon die Luft im Haus verpesteten und wir, deren Verstand eingesetzt hatte, nur noch kopfschüttelnd die Köpfe zusammensteckten.
An der Karl-Marx-Universität Leipzig hörte ich in den Achtzigern Vorlesungen zur Geschichte der Sowjetunion, die nur von Alphabetisierung, Kollektivierung und Industrialisierung handelten. Und von nichts anderem. Gelesen von einer alten Professorin, die als Exilantin den Stalinismus in reiner Form dort erlebt hatte, wo er sich austobte. Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters“ hätte man da noch mal auf aktuellere Weise stellen wollen.
Die DDR ging letztendlich nicht an ihrer Wirtschaft und wegen ihrer exekutiven und juristischen Ungerechtigkeiten unter – jedenfalls nicht so leicht und quasi über Nacht, wie es dann schließlich geschah. Das alles brachte die allermeisten, selbst die allermeisten Intellektuellen, nicht auf, schon gar nicht all die Utopisten der „Menschheitsbefreiung“. Nein, abgesehen davon, dass ihr Gorbatschow den ideologischen und militärischen Starkstrom abstellte, scheiterte das Land an seinen eigenen Lebenslügen.
Und daher: Nachvollziehbar und gut, dass es gescheitert ist. Zwangsläufig. Mehr als Verschuldung oder ökonomische Querelen fürchte man die Lebenslügen einer Gesellschaft. Ist keine klare Rede mehr möglich, fehlt der Identifikationsraum und es tritt irgendwann ein kritischer Zustand ein, in dem die kollektive Wahrnehmung erkennt: Es hat keinen Sinn mehr. Lassen wir es lieber. – Es scheint dieser Zustand mittlerweile ebenso in der formal funktionierenden Demokratie der Berliner Republik erreicht. Meidet man die von den Sprachregelungen vorgegebenen Schablonen der Verlautbarungsrhetorik, befindet man sich mitten im Skandal. Dort aber wird’s erst produktiv.
Schlagwörter: BRD, DDR, Heino Bosselmann, kalter Krieg, Nation