17. Jahrgang | Nummer 22 | 27. Oktober 2014

Die Insel Lampedusa und das Palais Lobkowitz. Fluchtrichtungen

von Heino Bosselmann

Wer sich über „Wirtschaftsflüchtlinge“ erregt, vergisst, dass 1989/90 Tausende DDR-Bürger den westlichen Verheißungen folgten. Neben Demokratie suchten sie Discounter.
Hätte es zwischen meinen Landsleuten aus dem ehemaligen „Beitrittsgebiet“ und dem Super-Markt-Westen ein breites und gefährliches Gewässer gegeben, das keine Grenztruppen abriegelten …
Gut, abgesehen davon, dass Ostdeutsche in der Ära der deutschen Teilung und des sie verursachenden Kalten Krieges unter immenser Gefahr nicht nur an der Todeslinie des „Schutzstreifens“, sondern ebenso schwimmend und mit Booten oder auf Matratzen über die Ostsee in den Westen zu flüchten versuchten, gibt es zwei wesentliche Unterschiede zu den Afrikanern vor den spanischen Exklaven und vorm italienischen Lampedusa: Zum einen existierte für die Bundesrepublik nie die DDR-Staatsbürgerschaft, sondern nur eine deutsche, so dass jeder, der die BRD erreichte, sogleich umstandslos seinen Pass bekam und Bundesbürger wurde; zum anderen wiesen die Sperranlagen der DDR-Grenze ins Landesinnere des Arbeiter-und-Bauern-Staates und nicht wie bei El Paso oder Ceuta und Melilla nach außen. Eine sehr wesentliche Eigenheit, das historische Ende der anderen deutschen Republik nicht unwesentlich mit herbeiführend.
Meist grenzt Wohlstand den Mangel ab, viel seltener geschieht es, wie im Falle der DDR, ideologisch erhitzt, umgekehrt. Aber der Kalte Krieg mit der Gravitation seiner ehemaligen Zentralgestirne wird heute kaum mehr in Analysen der deutsch-deutschen Frage einbezogen, da nach Maßgabe der Deutungsbehörden politischer Bildung gelten soll: Auf der einen Seite die Demokraten, auf der anderen die politisch Defekten in einem System, das besser nicht gewesen wäre.
Abgesehen vom Unterschied zwischen der deutsch-deutschen Grenze und dem Mittelmeer sind die Anmutungen aber so grundverschieden nicht. Heute sehen wir Afrikaner, wie sie die hohen europäischen Außenzäune stürmen. Erinnert dies nicht daran, wie vor bald fünfundzwanzig Jahren ganze DDR-Familien in ihren schicksten Stonewashed-Jeansklamotten in die Botschaften der Bundesrepublik kletterten, vermeintlich auf der Suche nach der „Freiheit“. Mit Mann und Maus, mit Kind und Kegel oder – gar nicht so selten – unter Zurücklassung derselben über allerlei fremde gusseiserne Zäune hinweg und in die gepflegten Anlagen des anderen Deutschland hinein? Waren das eigentlich politische oder waren es Wirtschaftsflüchtlinge? Und wo denn läge der Unterschied zwischen der Suche nach der Freiheit und jener nach dem freien Markt? Marx im „Kommunistischen Manifest“: „Unter Freiheit versteht man innerhalb der jetzigen bürgerlichen Produktionsverhältnisse den freien Handel, den freien Kauf und Verkauf.“ Und unter Gleichheit ja wohl die Rechtsgleichheit des Käufers und Verkäufers, eingeschlossen die kapitalistische Grundfunktion, dass sehr viele gezwungen sind, ihre Arbeitskraft recht wenigen zu verkaufen.
Flüchtlinge sehen immer verloren aus. Flucht legitimiert sich stets selbst, aus einem empfundenen persönlichen Notstand heraus. Gefängnisflucht beispielsweise ist daher hierzulande nicht strafbar, da sie dem natürlichen Freiheitstrieb des Menschen entspricht. Salopp: Es ist nur normal, aus dem Knast verschwinden zu wollen …
Man denke an den 30. September 1989, an Außenminister Genscher auf dem Balkon der von DDR-Flüchtlingen quasi besetzten bundesdeutschen Botschaft in Prag. Der Ex-Hallenser erschien in einer Scheinwerfergloriole am Fenster und galt denen da unten auf dem Botschaftsgelände als Erlöser: „Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise (Gejohle und Jubel – Anmerkung H. B.) in die Bundesrepublik Deutschland möglich geworden ist.“ – Genscher hatte den Super-Markt eröffnet und die neuen Kunden hereingelassen. War das wirklich ein ganz, ganz anderes Ereignis im Vergleich zu den Nord-Süd-Fluchtbewegungen? Gut, der Afrikaner gehört nicht per se zu den „Landsleuten“ … Aber das Lampedusa der DDR-Überdrüssigen war der Rasen der westdeutschen Botschaft in Prag.
Bei allem, was namentlich durch den gegenwärtigen Bundespräsidenten in die Fluchten von 1989 an Heldenmut und Freiheitssuche hineinpoetisiert wird, erkenne ich, vielleicht allzu pietätlos, kaum einen entscheidenden Unterschied gegenüber der Causa Lampedusa. Sicher, es ging um Deutsche, und der dann einsetzende letzte Akt im Untergang der DDR bescherte im Καιρός der Geschichte die deutsche Einheit als Ergebnis des Endes des Kalten Krieges, ebenso wie die deutsche Spaltung Folge seines Beginns war. Nicht mehr und nicht weniger. Man darf da neben aller Festtagsrhetorik durchaus sachlich bleiben. In Abwandlung eines Kant-Titels: Anthropologie – mal ausschließlich in pragmatischer Hinsicht.
Wichtiger: Die Poetiken gleichen sich. So, wie damals die vermeintlich am westlichen Freiheitsbegriff geläuterten DDR-Bürger auf ihre politische Pilgerreise Richtung Demokratie aufgebrochen wären, seien, so wird, zu nichts verpflichtende Krokodilstränen im Auge, ein ums andere Mal erklärt, Afrikaner mit nachvollziehbarem Motiv unterwegs und nähmen, gelenkt von kriminellen Schleusern, Risiken auf sich, die das freie Europa bitte schleunigst reduzieren solle: „Please open this gate and tear down this wall!“?
Gerade angesichts des Leides der verzweifelten Menschen und der Ertrinkenden: Mich stört diese wohlfeile Argumentation „Europas“ und der ganzen alten „ersten Welt“. Mich stört der theatralische Ruf der satten Politiker: „Schande!“ – Wollen Propagandisten dieses Ansinnens ernstgenommen werden, so bleibt ihnen nur eine Konsequenz: Sie müssten sichere Fährverbindungen einrichten, auf denen jeder Afrikaner, der zum Exodus entschlossen ist, trockenen Fußes nach Europa gelangt, nachdem man ihm vorher das Ticket zahlte.
Vollmundige Wünsche sollten dabei um naheliegende Konsequenzen wissen. Es bedürfte also eines europäischen Genschers am afrikanischen Strand, der die Arme ausbreitet und offeriert: Bitte tretet alle ein! Hier sind eure neuen Pässe und das Begrüßungsgeld, damit ihr gemäß unserer Wachstumsvorstellungen zügig zu arbeiten und zu konsumieren beginnt. Man stelle sich etwa die britisch-spröde einstige EU-Außenministerin Catherine Ashton als Concierge beim großen Einlass vor: „Ich bin zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute …“
Das wird nicht passieren. Aber man könnte ja zumindest noch einmal über die Geschichte des postkolonialen schwarzen Kontinents und über die freie kapitalistische Weltordnung nachdenken. Vielleicht gar darüber, mit welch ambivalenten Ergebnissen die „Befreiung der Völker Afrikas von der kolonialen Herrschaft“ endete.
Und wenigstens wäre zu fragen, welchen Anteil die im demokratischen Norden den geheiligten Wohlstand sichernden Industrien – global arbeitsteilig – am afrikanischen Elend haben und was der Markt, der angeblich doch alles regelt, dort anrichtet, unter anderem mit Blick auf die regionale Landwirtschaft. Die Politik, die jetzt scheinheilig klagt, schuf jahrzehntelang mit an den Voraussetzungen für die humanitäre Katastrophe des immer noch ärmsten Kontinents.
Und was sucht der Afrikaner? Parlamentarismus, Demokratie, Presse- und Meinungsfreiheit und die Garantie der Würde im von Kant hergeleiteten Sinne? Eher ist der Flüchtling bereit, seine Arbeitskraft globalisiert zu verkaufen, um dann einkaufen zu gehen und gesichert zu leben. Er wünscht das, was der besitzstandswahrende Europäer ebenso will: Eingeordnet in den Reproduktionsprozess Geld verdienen, irgendwie, und dann den Einkaufswagen durch die Märkte schieben. Und daraus rührt ein Interessenkonflikt, der wirtschaftlich zu beschreiben wäre oder sozial, nicht zuletzt kulturell. Dies zu analysieren und praktisch auszugleichen ist schwierig. Bekenntnisse zu formulieren erscheint hingegen einfacher als das Nachdenken über komplexe Sachverhalte, die mehr umfassen als tragische Meldungen und das dreiste Sendungsbewusstsein einer westlichen Welt, die sich offenbar vom einstigen kolonialen Ausbeuter zum Retter aller geläutert fühlt. Ohne vergleichbare Taten folgen zu lassen …