von Kenichi Mishima, Osaka
Der japanische Finanzminister Taro Aso ist ein erfahrener Politiker. Doch er neigt zu Übertreibungen und leistet sich schon mal verbale Entgleisungen – zumeist rein aus Berechnung. Denn oft dienen seine Provokationen als Versuchsballon. Im vergangenen Sommer äußerte sich Aso zur in Japan viel diskutierten Verfassungsrevision. Er schlug vor, sich die deutschen Nationalsozialisten zum Vorbild zu nehmen: „Lasst uns (die Verfassungsrevision) in Ruhe durchführen, so wie es die Nazis gemacht haben. Unbemerkt wurde die Weimarer Verfassung durch die Verfassung der Nazis ersetzt. Warum lernen wir nicht von der Strategie der Nazis?“
Die Rede wurde aufgezeichnet und die Medien berichteten ausführlich. Die Öffentlichkeit reagierte mit heftiger Kritik. Verblüffend war nicht zuletzt: Das Statement enthielt zahlreiche faktische Fehler. Aso hatte bei seiner Äußerung offenbar das sogenannte Ermächtigungsgesetz aus dem Jahr 1933 im Sinn. Doch bekanntlich widerspricht es den historischen Tatsachen, dass die Verabschiedung des Gesetzes „in Ruhe“ und „unbemerkt“ vollzogen worden wäre.
Im Gegenteil: Das Ermächtigungsgesetz wurde von den gleichgeschalteten Medien stürmisch gefeiert. Vor allem aber gab es natürlich keine „Nazi-Verfassung“. Die Macht der Nationalsozialisten wurde mit dem Ermächtigungsgesetz endgültig gefestigt, doch die Weimarer Reichsverfassung wurde 1933 nur faktisch außer Kraft gesetzt.
Auch in Japan wurde auf die historischen Fehler hingewiesen. Ich selbst habe in der Tageszeitung Asahi Shinbun, der Wortführerin des links-liberalen Lagers, darüber geschrieben. Die Oppositionsparteien forderten eine Dringlichkeitssitzung des Haushaltskommittees, doch die Kritik wurde abgewiegelt. Regierungsvertreter erklärten lapidar, bei Asos Rede habe es sich um eine „private Äußerung“ des Ministers gehandelt. Selbstverständlich respektiere der Minister die Verfassung. Welche Kritik auch vorgebracht wurde, es hieß stets, die Kritik sei „unzutreffend“ und die Kritiker hätten „die wahre Absicht Asos missverstanden“ – oder so ähnlich. Wie von der Regierung erhofft, konzentrierten sich die Nachrichten bald wieder auf andere Meldungen und die Sportberichterstattung.
Der größte Teil der Öffentlichkeit hatte in der Tat kaum Interesse an historischen Ereignissen im Deutschland von vor 80 Jahren und an der Frage, ob der Minister nun historische Tatsachen verdreht hatte oder nicht. Das ist letztlich ebenso bedauerlich wie nachvollziehbar. Schließlich es ist auch richtig, dass sich die Situation in Deutschland zu Zeiten der Machtergreifung fundamental vom heutigen Japan unterscheidet.
Doch die Empörung, zu der es kam, ist nur vor dem Hintergrund der wahren Absichten der Regierung Abe und des rechten Flügels der regierenden Liberaldemokratischen Partei Japans (LDP) zu verstehen. Der rechte Parteiflügel bemüht sich nicht erst seit gestern, sondern seit Gründung der LDP 1955, darum, die japanische Friedensverfassung zu „revidieren“. Faktisch ist die Verfassungsrevision für die Partei längst zum raison d’être geworden. Hauptanliegen ist dabei die Revision des Artikel 9, der Krieg als legitimes Mittel der Politik negiert und die Bewaffnung Japans verbietet. Ohne Revision dieses Artikels, so der rechte Flügel der LDP, sei Japan weder souverän noch unabhängig.
Ein aktueller Verfassungsentwurf der LDP gibt noch aus einem anderen Grund Anlass zur Sorge. Anders als das deutsche Grundgesetz enthält er keine Ewigkeitsklausel, die die grundlegenden Menschenrechte schützt. Besonderen Wert legt der Entwurf dafür auf Respekt für Familie und Tradition. Die zum Ausdruck kommenden Ziele sind eine – widersprüchliche – Harmonisierung von traditioneller Kultur und Kernenergie, eine Verwirklichung des Traums nach weiterem Wirtschaftswachstum sowie die Etablierung einer Hegemonie in Ostasien durch Einführung einer regulären Streitmacht.
Die Befürworter der Revision argumentieren, dass es sich bei der geltenden Verfassung um ein amerikanisches Diktat handele. Zudem sei es bei der Ausarbeitung der Verfassung nach 1945 zu formalen Unregelmäßigkeiten gekommen. In der Konsequenz sei die Legitimität der Verfassung beeinträchtigt.
Dabei wird jedoch übersehen, dass sich die Verfassung breiter Akzeptanz erfreut. Für die Legitimität einer Verfassung zählt die öffentliche Akzeptanz und die Verankerung im politischen Leben mehr als formale Verfahrensfehler, die findige Juristen nach Belieben zu finden in der Lage sind. Das ist übrigens auch eine Kernthese der Verfassungstheorie von Jürgen Habermas. Die Befürworter einer Revision ignorieren diesen Punkt jedoch völlig.
Auch Premierminister Shinzo Abe ist ein Verfechter der Revision und hat jüngst versucht, zunächst Artikel 96 zu revidieren. Dieser Artikel legt fest, dass Oberhaus und Unterhaus eine Verfassungsrevision nur mit einer Zweidrittelmehrheit vorschlagen können. Sie muss dann mit einfacher Mehrheit in einer Volksabstimmung verabschiedet werden. Diese Bedingungen machen eine Revision äußerst schwer durchführbar – zumal es sich um eine kontroverse Frage handelt. Als Reaktion hierauf nun jedoch schlicht das Verfahren des Artikels 96 zu revidieren, wurde sogar von konservativen Verfassungsrechtlern als an den Haaren herbei gezogen und perfide attackiert.
„Von den Nazis lernen?“ Das Aso-Zitat ist nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Die Entwicklung der vergangenen Monate verdeutlicht, dass die von Aso vorgeschlagene Strategie umgesetzt wird, die Verfassungsrevision „in Ruhe“ durchzuführen.
De facto Asos Vorschlägen folgend, hat Premierminister Abe einen „Gesprächskreis zur Rekonstruktion der Rechtsgrundlage der nationalen Sicherheit“ gegründet. Obwohl es sich bei diesem Komitee lediglich um ein persönliches Beratungsinstrument des Premierministers handelt, wurde die Interpretation der Verfassung auf Basis der Vorschläge dieses Komitees bereits geändert. So wurde beschlossen, dass auch Japan im Rahmen der gegebenen Verfassung das Recht auf kollektive Selbstverteidigung in Anspruch nehmen könne. Bisherige japanische Regierungen hatten dies stets aberkannt. Dadurch kann Japan seine Selbstverteidigungskräfte nun weltweit zur Unterstützung seines Bündnispartners USA entsenden. Vor allem aber soll damit demonstriert werden, dass Japan in der zunehmend als instabil angesehenen Region mit militärischer Präsenz auftrumpfen kann. Es scheint für Premierminister Abe viel zu bedeuten, dass Japan nun den Willen zeigt, zusammen mit den USA die Stabilität Ostasiens zu garantieren. Doch dahinter steht der eigentliche Traum, in ferner Zukunft in Form japanischer Sicherheitsgarantien für Ost- und Südostasien eine japanische Hegemonie zu errichten.
Im Rückblick ist die Geschichte der japanischen Sicherheitspolitik die Geschichte einer sukzessiven aber erfolgreichen Verfassungsunterminierung durch eine kontinuierliche Neu-Interpretation des Artikel 9. Am Anfang stand die Auffassung, dass die Selbstverteidigungskräfte (SDF) ausschließlich zur Selbstverteidigung dienten und daher nicht in Widerspruch zur Verfassung stünden. Die zuständige Regierungsinstitution hieß lange „Verteidigungsamt“ und wurde erst 2007 in den Rang eines Ministeriums erhoben. Dies geschah in der ersten Amtszeit Shinzo Abes. Durch die jüngsten Schritte ist auch die Teilnahme Japans an Aktionen kollektiver Sicherheitssysteme als verfassungskonform erklärt worden – ein Schritt, den Japans Regierungen in der Vergangenheit stets vermieden hatten. Japans Kapital als „Friedensstaat“, das über Jahrzehnte hinweg akkumuliert wurde, ist fast aufgezehrt.
Ein weiterer Punkt ist die Revision des langstehenden Waffenexportverbots, die die Regierung Abe initiiert hat. In der neuen Version der „Drei Prinzipien des Transfers von Verteidigungsausrüstung“ wird die gemeinsame Entwicklung von Verteidigungstechnologie mit anderen Ländern ermöglicht und das Verbot von Waffenlieferungen relativiert. Obwohl Konfliktregionen hiervon weiterhin ausgeschlossen bleiben, hat die Änderung die japanischen Rüstungsproduzenten gefreut. Anders als in Deutschland war im Nachkriegsjapan der Export von militärischer Ausrüstung verboten. Aber auch ohne eine starke Militärwirtschaft blieb die Arbeitslosigkeit niedrig und die Wirtschaft wuchs. Auf diese Leistung konnte Japan stolz sein – bisher.
Den Traum, ein „kriegsfähiges“ Japan „in Ruhe“ zu verwirklichen – darum geht es in den aktuellen Diskussionen eigentlich. Es ist also durchaus angebracht, den falschen und intellektuell primitiven Vergleich mit dem Ermächtigungsgesetz zu kritisieren. Wichtiger aber noch ist es, die „ruhige“ und schleichende Aushöhlung der Verfassung zu erkennen.
Japans Linksliberale haben in den vergangenen 50 Jahren zahlreiche Fehler begangen. Sie haben sich bemüht, an der Fiktion des Artikels 9 festzuhalten, ohne die faktische Existenz der japanischen Streitkräfte richtig zur Kenntnis zu nehmen. Es war nachlässig, eine pazifistische Position zu vertreten aber gleichzeitig die Tatsachen stillschweigend anzuerkennen. Im kritischen Lager wurde das Auseinanderklaffen zwischen Verfassungsrealität und Verfassungsnorm nicht genügend problematisiert. Im Ergebnis ist Artikel 9 nun Makulatur.
Sowohl Abe als auch Aso sind Enkel bedeutender konservativer Politiker der Kriegs- und Nachkriegszeit. Abe ist Enkel Nobusuke Kishis, der ursprünglich auf der Angeklagtenliste der Tokyoter Kriegsverbrecherprozesse stand. Aso ist Enkel des „japanischen Adenauers“ Shigeru Yoshida , der von 1946 bis 1947 und von 1948 bis 1956 Premierminister war. In der Regierungspartei LDP dienen noch zahlreiche weitere Entscheidungsträger, deren Väter und Großväter politisch aktiv waren und von den Widersprüchen der elitären Gesellschaftsstruktur der Vorkriegszeit belastet sind.
Teilweise als Konsequenz des Wahlsystems hat sich in Japan die Dominanz einer quasi-feudalen Politikerklasse erhalten. Dies hat zu einem Mangel an Legitimität geführt. Um diesen Mangel zu kompensieren, wird die Bevölkerung mit nationalistischer Rhetorik geblendet. Sie betont die Traditionen Japans, die einzigartige japanische Kultur, die einzigartige Küche Japans, die einzigartige Freundlichkeit der Japaner, die besondere Schönheit der japanischen Sprache und die Gefährdung der Sicherheit dieses großartigen Japans. Der Universalismus der von Amerika „oktroyierten“ Verfassung ist den Vertretern der japanischen „Einzigartigkeit“ dabei ein Dorn im Auge. Dabei verdanken wir Prosperität und Stabilität im Nachkriegsjapan eben dieser Verfassung mit ihrer Nichtbewaffnungsklausel.
Aus: IPG. Internationale Politik und Wirtschaft, 22.09.2014. Übernahme mit freundlicher Zustimmung der Redaktion.
Schlagwörter: Frieden, Japan, Kenichi Mishima, LDP, Nazis, Selbstverteidigungskräfte, Shinzo Abe, Verfassung