von Heino Bosselmann
Es geht nichts über gut eingelaufene Sportschuhe, und ich trage sie so lange wie möglich, bis sie dann völlig zerfleddert sind. Werfe ich sie endlich in die Tonne, denke ich: Wieder zwei hin. Was wäre das für eine Galerie, wenn du all die verschlissenen, an den Nähten aufgeplatzten Paare aufgehoben hättest, als Trophäen deiner Strecken.
Ich hatte mir das Laufen angewöhnt, als es das Wort Joggen noch nicht gab, jedenfalls nicht in der DDR, im Osten, wo Kompensationsübungen gestresster Leistungsträger im New Yorker Central Park niemanden interessierten. Als ich Siebenklässler war, hatte mein Vater mir geraten: Mach doch mal einen Waldlauf, Junge, das trainiert. Denn ich kam im Sport kaum klar und galt in der Turnhalle gar nichts. Im Gegenteil, ich hatte wegen eines angeborenen Fußstellungsfehlers andauernd Termine bei einem Orthopäden in der Kreisstadt und hätte meine Eins in Mathe sofort gegen eine im Sport getauscht. – Aber schon dieses Wort: Wald-Lauf! Es erinnerte an James Fenimore Cooper und seinen Nathaniel Bumppo, den Lederstrumpf. Oder an Henry David Thoreau.
Seitdem absolvierte ich hinter meinem Prignitzer Dorf auf einsamen Wegen zwischen den Kiefernschonungen meine Strecken und dehnte die nach und nach aus. Niemand sonst tat dergleichen, nichts war „trendig“ daran; die Dörfler, meist Genossenschaftsbauern, hätten es blödsinnig gefunden, sich außerhalb der Arbeit noch trainierend abzurackern. Und meine Freunde fuhren lieber angeln. Begegnete mir jemand, war’s mir ein bisschen peinlich. Aber ich schwitzte weiter dicke Trikot-Baumwolle voll; und als ich auf die Erweiterte Oberschule kam, reichte meine Form trotz der verbogenen Knochen schon für ein Trainingszentrum, wo ich zwar keine große Nummer wurde, aber wenigstens mit jenen Abiturienten Gewichte stemmte, deren immer gleiche Namen auf der Flur-Wandzeitung mit den Leichtathletikrekorden standen.
Egal was in meinem Leben passierte, ich lief weiter. Überall, wo ich war, suchte ich mir ein paar weite Runden, vorzugsweise allein, vorzugsweise in der Natur, lieber auf Wald- und Feldwegen als in der Stadt. Nur raus! Mich einer Gruppe anzuschließen vermied ich ebenso wie mir einen Laufkumpel aufzutreiben. Ich finde, man sollte sich den Langläufer als einsamen Menschen vorstellen. Was an Massenläufen, am Menschenaufläufen etwa zu Marathon-Events, so fasziniert, ist wohl der Wettkampf, aber der liegt mir nicht. Ich möchte nicht immer irgendwo dabei, sondern ausnahmsweise mal bei mir selbst sein.
Ich lief während des Abiturs, während der Armeezeit und ebenso, als nebenher der Staat unterging, in dem ich großgeworden war. Während die sächsischen „Heldenstädter“, die Leipziger, ihre grandiosen Demonstrationen begannen, war ich dort Student und lief ignorant die langen Rhododendronwege des verschwiegenen Südfriedhofs entlang, an der dem Kloster Maria Laach nachempfundenen Aussegnungshalle vorbei und auf das düstere Völkerschlachtdenkmal zu, das dort wie eine stille Glocke aus Beuchaer Porphyr aufragte, nur wenig entfernt vom vorbeischwingenden „Mantelsaum der Geschichte“, nach der bundesdeutsche Kanzler dann begierig griff..
Eskapismus? Eher fand ich Masse und Euphorie von jeher unangenehm. Mit stiller Skepsis überwinterte ich im Schwarz-Weiß der herbstelnden DDR, und mehr als Versorgungsquerelen und fehlende Reisefreiheit störte mich die politisch sanktionierte Lügerei in den „Gesellschaftswissenschaften“ der Universität. – Tage später hatte sich alles gedreht: Revolution!, hieß es da gleich, Wind of Change! Die Welt, meinten die neuen Multiplikatoren, würde endlich, endlich eine bessere. Also die üblichen Illusionen der Aufklärung und des deutschen Idealismus, namentlich Hegels.
Ich lief perplex weiter um das finstere Denkmal herum und sah zu den riesigen Wächterfiguren und ihrem trauernden Ernst hinauf. Sie blickten herunter auf ein Jahrhundert, mit dem sie bereits viel Geduld bewiesen hatten: ein dramatisches Säkulum, das jetzt plötzlich geheilt sein sollte. Wind of Change? Die Lüge wich der Farce, die Losung der Phrase, der Totalitarismus der Ideologie jenem der Wirtschaft und ihrem „Wachstum“, die Propaganda der Werbung, und wo früher verspannt agitiert und propagiert wurde, regierten Verlautbarungsrhetorik, Sprechregelungen und Euphemismen.
Mein stummes Training erlebte ich eher als seelisches denn athletisches Ereignis. Etwas hochtrabend ausgedrückt: Vielleicht vermittelte mir das Laufen die menschliche Grunderfahrung, stets sehr lange und immer noch längere Wege gehen zu müssen. Ohne dabei andauernd zu reden. Ohne je ans Ziel zu gelangen. Lieber mal die Leere suchen, weil sich die Objekte rundum ohnehin inflationär vermehrten. Mochte sogar sein, begann ich zu meinen, in der einsamen Bewegung gegen den weiten Horizont ließ sich eine abendländische Form der Meditation ausmachen. Denn wenn man einigermaßen in Form ist, hört die Schinderei auf, und dann, scheint’s, läuft es einen, als dass man selbst liefe. Unio mystica. Große Kommunion. Atem und Schrittmaß kommen überein, und es ist, als ginge der Materiestrom der Luft, ja der ganzen Landschaft durch einen hindurch. Morgens, in Ruhe gelassen, spricht die Natur, der große Sklave, noch, während man selbst schweigt.
Erste mystische Weisheit: Alles ist eines. Die zweite: Der Weg geht nach innen. – Also bloß keine Anquatscherei nebenher, nur keine Musik in den Ohren, sondern – mit Benn – „bleiben und stille bewahren/das sich umgrenzende Ich.“ – Was aber schon gut tut: Sich bei Bedarf mal primatenhaft freischreien und dort, wo die Stille sie gleichmütig schluckt, alle Verbalinjurien einsetzen, die offiziell nicht vertragen werden und jenen Mitmenschen, die sie längst mal verdient hätten, kulturell nicht zumutbar sind. Katharsis!
Es sind keine Drachen mehr zu töten, die Prinzessinnen bewachen, nirgends taucht ein Zwerg auf, der einem hämisch drei hammerharte Aufgaben stellt, und für die meisten Männer liegt die letzte kraftvolle Bewährung nur noch darin, ihrer Frau die Verschlüsse von herübergereichten Einweckgläsern zu öffnen. Wo es keine fahrenden Ritter mehr gibt, da doch immer mehr schweigsame Ausdauerläufer.
Ich weiß, das kann zur Sucht werden. Was denn nicht? Alle Sucht sucht. Enden die Wege, endet das Leben.
Schlagwörter: DDR, Heino Bosselmann, Ideologie, Laufen, Wirtschaft